Entdeckungsreisen auf einem Ozean

Udo Schöning hat den ersten Symposien-Band des Göttinger Sonderforschungsbereichs "Internationalität nationaler Literaturen" herausgegeben

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat sicher etwas damit zu tun, dass in Europa die Grenzen immer durchlässiger werden und das Schlagwort von der "Globalisierung" Eingang in den engeren Wortschatz gefunden hat. Das Interesse an der "Internationalität nationaler Literaturen" lag sozusagen in der Luft. Kaum erkannt, wurde ein Mammutprojekt aus der Taufe gehoben, der Göttinger Sonderforschungsbereich 529, der sich nun mit geballter interdisziplinärer Forschungskraft um das genannte Thema bemüht.

Das Ergebnis des "ersten Symposions" des Sonderforschungsbereichs liegt jetzt gedruckt vor und hat fast 600 Seiten. Wie die leitenden Wissenschaftler ihr globales Projekt in den Griff bekommen wollen, wird nicht ganz deutlich; was vorliegt, ist in verschiedene Ring- und Teilprojekte gegliedert worden.

Ringprojekt A: "Interdependenz- und Selbstkonstituierungsfälle lateinischer und volkssprachlicher Dichtung am Beispiel der mittelalterlichen Alexanderepik";

Ringprojekt B, Teilprojekt B 1: "Muster und Funktionen der Selbst- und Fremdwahrnehmung bei der Herausbildung 'nationaler' Sprachen und Literaturen (Emanzipationstopoi)";

Ringprojekt B, Teilprojekte B 2-6: "Europäische Literaturen im Netzwerk internationaler Diskurse";

Ringprojekt C: "Die Herausbildung und Ausgestaltung der Eigenliteraturen von Siedlungskolonien und ihren Nachfolgestaaten aus der Internationalität am Beispiel ausgewählter Literaturen beider Amerikas";

Ringprojekt D: "Internationale Vernetzung: Personen, Medien und Institutionen als Vermittlungsinstanzen von Literatur im Horizont von Erwartungen und Interessen".

Das alles klingt sehr eindrucksvoll und vielleicht etwas eindrucksvoller, als es ist. Nicht dass an der Fachkompetenz der Wissenschaftler und der Bedeutung ihrer Ergebnisse zu zweifeln wäre, aber der Versuch, das Leit-Thema in den Griff zu bekommen, kann nicht unbedingt als gelungen bezeichnet werden. Die Ringprojekte A und C sind im Vergleich mit den anderen recht speziell, dafür sind die anderen so allgemein formuliert, dass für den mit der Thematik nur mittelmäßig vertrauten Leser der rote Faden zwischen den einzelnen Beiträgen ziemlich dünn aussieht. Das ist, soviel sei einschränkend hinzugesetzt, aber nur ein Eindruck auf der Basis des hier vorliegenden Bandes. Man wird sehen, ob die Operateure am Ende ein gigantisches Puzzle präsentieren und so die nicht ganz klaren Bezüge oder Vernetzungen deutlicher machen.

Da es angesichts der Zahl der Beiträge (34) und der Verschiedenheit der tangierten Wissensgebiete unmöglich ist, den ganzen Band in einer Rezension umfassend zu besprechen, möchte ich einige wenige Schwerpunkte setzen. Der Anfang ist vorgegeben: die umfangreiche Einleitung des Herausgebers, der zurecht verlangt, nicht mehr "die Nationalität und ebenso die Internationalität von Literaturen als Selbstverständlichkeit vorauszusetzen". Stattdessen soll von folgender Hypothese ausgegangen werden: "Literarische Internationalität konstituiert sich durch Vernetzung, und Vernetzung entsteht durch Transfer; national ist dann, was des Transfers bedarf, um international zu werden." Auch von dem alterwürdigen Literaturbegriff möchte sich Schöning - nebenbei bemerkt, dürfte er hier einen Großteil der neueren literaturwissenschaftlichen Arbeiten auf seiner Seite haben - verabschieden. Literatur ist für ihn, gleich fallen zwei Reizworte der neueren wissenschaftlichen Forschung, Teil von "Kommunikation" und "Kultur". Mir scheint es aber eine Rolle rückwärts zu sein, mit dem Satz "Die Kulturen bilden auf diese Weise Einheiten" dem Kulturbegriff nun das zu bescheinigen, was dem Literaturbegriff aberkannt wird: die eine entsprechende Betrachtungsweise ermöglichende "Einheit" oder Einheitlichkeit. Auch ist es die Frage, ob man angesichts einer solchen, fraglos sehr interessanten Sammlung von verschiedenartigsten Zugängen davon sprechen kann, hiermit endlich "die Literaturwissenschaft - in notwendigem Abstand von bloßen Moden jedweder Orientierung - auf eine gesichertere theoretische Grundlage zu stellen."

Der Nachweis der Einheitlichkeit des Gegenstandes und gleichzeitigen Vernetzung von Kulturen gelingt am besten im Ringprojekt A, das die Alexanderepik untersucht und Bezüge zwischen Stoffbearbeitungen deutlich macht. In den zahlreichen anderen Beiträgen geht es, auf der Basis eines eher weiten Literaturbegriffs, um so unterschiedliche Autoren wie: Goethe, Hofmannsthal, August Strindberg, Leopold von Ranke, Gérard Bessette, Claude Simon, Francesco Algarotti, Seix Barral, Manuel Scorza... Dies sind Namen, die im Inhaltsverzeichnis stehen. Es fehlt jedoch ein Register, das das Gefühl vermitteln sollte, man könnte sich nach der verwirrenden Lektüre doch noch einen Überblick verschaffen.

Von den speziellen und frühere Fragestellungen weiterentwickelnden Beiträgen verdient Wulf Wülfings Revue der literarischen Napoleon-Bilder Aufmerksamkeit. Am anderen Ende des Spektrums bewegen sich Aufsätze wie der von Horst Nitschak, der mutige "Zehn Thesen" zum Maxi-Thema "Die Internationalität nationaler Literaturen" am Beispiel der brasilianischen Romantik aufstellt und zu hochinteressanten Schlüssen kommt, etwa wenn er "die blinden Flecken" der Nationalliteraturen beschreibt und pointiert feststellt: "Die Forderung nach einer nationalen (literarischen) Identität, die sich allein aus sich selbst definieren soll, ohne in eine produktive Dialektik mit dem Anderen zu treten, wird zur Falle."

Schöning hat geschrieben: "Literaturgeschichtliche Forschung zielt nicht auf die Anhäufung von empirischen Daten, sondern schafft diskursive Fakten von historischer Relevanz." Ob ihm dies mit dem vorliegenden Band gelungen ist? Ich wage kein Urteil abzugeben. Wir werden sehen.

Titelbild

Udo Schöning (Hg.): Internationalität nationaler Literaten.
Wallstein Verlag, Göttingen 2000.
575 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3892443696

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