Molly Beth auf Ostmission

Holly-Jane Rahlens kleiner Roman „Mauerblümchen“ ist eine sympathische deutsch-deutsche Geschichtslektion

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei all den kontroversen Diskussionen über jene Bücher, die in den letzten zwei Jahrzehnten der Kategorie „Wendeliteratur“ zugeschlagen wurden, ist die Tatsache, dass es sich dabei in der Regel um Werke handelte, die sich dezidiert an ein Erwachsenenpublikum richteten, nie so recht ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Dabei kann man sie tatsächlich an den Fingern abzählen – fiktionale Texte für Heranwachsende, die sich mit dem Ereignis unserer jüngsten nationalen Geschichte auseinandersetzen, seiner Vorgeschichte, seinem Verlauf und seinen Folgen.

Vergegenwärtigt man sich das, will es auch nicht mehr so entsetzen, was aktuelle Studien über den Kenntnisstand deutscher Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen, das Leben in den beiden deutschen Staaten von 1949 bis 1989, die friedliche Revolution im Osten Deutschlands und den mit vielen Problemen behafteten Wiedervereinigungsprozess betreffend, herausfanden. Hat die manchmal fast grotesk erscheinende Unwissenheit vieler der im Moment deutsche Schulen besuchenden jungen Menschen – und selbst die heute kurz vor ihrem Abitur Stehenden sind nicht mehr in der DDR oder der alten Bundesrepublik geboren – doch nicht zuletzt darin ihre Ursache, dass es schlicht an Material fehlt, mit dem Lehrerinnen und Lehrer das Interesse der ihnen Anvertrauten anfachen könnten. Der Rezensent, der mit Veranstaltungen zur Thematik seit vielen Jahren an Gymnasien in Thüringen und Bayern unterwegs ist, stieß dabei nicht ein einziges Mal auf ein desinteressiertes Schülerpublikum, umso häufiger aber auf Deutsch, Geschichte oder Ethik Lehrende, die für jeden Hinweis auf ein Buch, von dem ausgehend sie die schwierige Materie in Angriff nehmen könnten, dankbar waren.

Diese Situation, die mitverantwortlich dafür sein dürfte, dass die DDR zunehmend nicht mehr als der Unrechtsstaat wahrgenommen wird, der sie tatsächlich war, hat sich in den letzten Monaten geringfügig verbessert. Natürlich sind daran die Jubiläen schuld, die wir in diesem und dem nächsten Jahr begehen. Sie spülen – nicht zuletzt unter kommerziellen Aspekten, versteht sich – Bücher in die Buchhandlungs- und Bibliotheksregale, die eine Zeit sowohl erzählerisch wie auch (populär-)wissenschaftlich wiedererstehen lassen, die viele gern zur Gänze aus der deutschen Geschichte tilgen würden. Dass diese Ignoranz just jenen Vorschub leistet, denen ihre Erinnerung die DDR-Jahre zunehmend zu verklären beginnt, wird dabei gern übersehen.

Das neue Buch der Jugendliteraturpreisträgerin (2003) Holly-Jane Rahlens, von der Autorin ausdrücklich als „All-Age-Roman“ annonciert, vom Rowohlt Taschenbuch Verlag durch die Zuordnung zur „rotfuchs“-Reihe dennoch einem altersmäßig abgrenzbaren Zielpublikum zugedacht, stößt nun genau in jene Lücke. Erzählt wird in ihm die Geschichte der 16-jährigen Deutsch-Amerikanerin Molly Beth Lenzfeld, die sich am 23. November 1989 von ihrem aktuellen Wohnort in Berlin-Charlottenburg mit S- und U-Bahn in den Osten der Stadt aufmacht, um das Geburtshaus ihrer an Krebs gestorbenen Mutter zu besuchen. Genau 14 Tage vorher hat sich wie durch ein Wunder die Mauer geöffnet und Molly will die Gunst der Stunde nutzen, um vor ihrer für zwei Tage später geplanten Rückreise in die USA noch das zu vollenden, was sie als ihre „Mission“ versteht. Das Mädchen – Tochter eines für ein Jahr an der Freien Universität lehrenden Experten für Theoretische Chemie – ist in Deutschland nie so richtig angekommen. Ihre ungewöhnliche Körpergröße samt der verschlossenen Art, mit der sie anderen gegenübertritt, haben sie zur Außenseiterin an ihrer Schule gemacht. Wie sich das konkret anfühlt, bekommt der Leser schon auf den ersten Buchseiten mit, wenn Molly noch vor Antritt ihrer abenteuerlichen Reise in eine andere Welt einer aufgetakelten Klassenkameradin begegnet, die im Laufe der folgenden Stunden nichts unversucht lassen wird, ihr die Stimmung zu verderben.

Eine nahezu ideale erzählerische Konstellation ist damit geschaffen. Mit ihrer ein wenig tappsigen, unsicheren Heldin, die die Nacht des Mauerfalls verschlafen hat und auch ansonsten nicht unbedingt viel vom Leben im geteilten Deutschland in den letzten vierzig Jahren weiß, präsentiert Rahlens heutigen Jugendlichen eine in jeder Beziehung verwandte Seele. Zum einen verstehen die nämlich Mollys innere Nöte, sind es doch zum Gutteil genau jene Probleme, von denen niemand in der Adoleszenzphase ungeplagt bleibt. Zum anderen befindet man sich auf einem vergleichbaren Kenntnisstand der geschichtlichen Situation und den ihr zugrundeliegenden Tatsachen gegenüber. Was jetzt noch gebraucht wird, ist ein Cicerone. Jemand, der herausführt aus den inneren Bedrängnissen und zugleich kundig einführt in eine Welt, die zunehmend blasser wird, im Verschwinden begriffen ist, weil sie sich von Anfang an nicht mit der Idee, aus der heraus Menschen sich für sie stark machten, in Übereinstimmung befand. Und natürlich taucht er just in dem Moment auf, wo Mollys Verzweiflung über sich und die Welt dabei ist, auf den Tiefpunkt zu sinken.

Wenn das ein wenig nach Konstrukt klingt, so ist dieser Vorwurf nicht vollständig von der Hand zu weisen. Und gelegentlich tut Rahlens auch ein bisschen des Guten zuviel. Alles in allem aber entpuppt sich „Mauerblümchen“ Kapitel für Kapitel als humorvolle deutsch-deutsche Geschichtslektion. An der Seite von Mick alias Michael Maier, einem ostdeutschen Schauspielschüler, der gerade eine Liebe beerdigt hat, entdeckt Molly nicht nur die Unterschiede zwischen Ost und West – von der Ketwurst bis zum obligatorischen „Sie werden platziert!“, von den Kohlbergen in den Gemüsegeschäften bis zum verführerischen Geruch der Intershops, von Margot und Erich Honecker bis zu Egon Krenz und Günter Schabowski, vom Tränenpalast bis zum Fernsehturm –, sondern auch das ihr bisher völlig unbekannte Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein, zumindest für diesen einen Menschen.

Titelbild

Holly-Jane Rahlens: Mauerblümchen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sabine Ludwig.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2009.
157 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783499214981

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