„Wie hältst du es mit den Emotionen?“

„Klassische Emotionstheorien“ kreisen um eine Gretchenfrage der Philosophie

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2008 hat der „emotional turn“ auch James Bond erfasst: Die letzte Bastion cineastischer Coolness wird in „Ein Quantum Trost“ vom kontrollierten Überhelden zum Opfer seiner Gefühle; ungewiss, ob seine Geliebte mit ihrem Freitod Verrat an ihm beging oder ihm ein Liebesopfer brachte, agiert Bond nur zum Teil „im Dienst seiner Majestät“, zum anderen aber im Dienst seiner Rachegefühle. „Zorn“, der Wunsch, erlittene Kränkungen zu rächen, gilt schon Aristoteles als Paradigma einer zu kontrollierenden Emotion, Seneca sucht sie in „De ira“ als temporäre Form des Wahnsinns zu bekämpfen.

Das fantastisch-überspannte Paralleluniversum, als das die Bond-Serie die politisch-soziale Realität widerspiegelt, fokussiert so ein Thema, die Bedeutung der Gefühle für menschliches Handeln, ihren rationalen oder irrationalen Anteil, das seit dem „emotional turn“ Forscher aller Humanwissenschaften beschäftigt. Die Schöne Literatur und ihr verwandte Theorie-Disziplinen wie Rhetorik und Poetik zählen die Beschäftigung mit Gefühlen seit je und bis heute zu ihren ureigensten Gegenständen – die aktuelle Ausgabe von „arcadia“ (44, 2009, H 1 ) widmet der Emotionsforschung ein Sonderheft –, gleichzeitig aber beherrscht das Thema Emotionen seit geraumer Zeit die Populärkultur sowie zahlreiche Fach- und Interdiskurse. In einer so unübersichtlich gewordenen Theorielandschaft verspricht das von Hilge Landweer und Ursula Renz herausgegebene Kompendium „Klassische Emotionstheorien“ Überblick, Information und Orientierungshilfe. Einhalten kann der 700 Seiten starke Band das mit seinem Titel einhergehende Versprechen nur zum Teil, denn behandelt werden ausschließlich philosophische Emotionstheorien. Obschon nicht alles, „was Philosophen über Emotionen geschrieben haben“, der Philosophie im engeren Sinne zuzuordnen ist, sondern weit in andere Fachgebieten ausgreift – soziologische Verhaltenstheorie (Aristoteles), Physiologie (Descartes), Psychologie (Spinoza, Kant), Politologie (Rousseau), Nationalökonomie (Smith), Theologie (Kierkegaard) –, werden die Theoretiker im Band doch als Philosophen und von Philosophen präsentiert, ohne dass diese disziplinäre Zuordnung (und Beschränkung) im Titel deutlich würde. (Der hilfreiche Untertitel „von Platon bis Wittgenstein“ erscheint erst im Buchinneren und ist seinerseits verwirrend, denn im Band hat nicht etwa Wittengenstein das letzte Wort, sondern ein Beitrag über die deutschstämmige amerikanische Philosophin und Expertin für Symbolische Logik Susanne K. Langer (1895-1985). Der Verlag scheint sie indes für zu wenig werbeträchtig gehalten zu haben, so dass statt ihrer der auratische Wittgenstein zu Untertitelehren kommt, obgleich dem ihm gewidmeten Beitrag noch drei andere folgen). Die Tendenz zum Populären mag auch die Bezeichnung der ausgewählten Theorien als „klassisch“ motiviert haben – eine Klassifizierung, in der sich Werturteil, historische Einordnung, Kanonisierungstendenzen und Rezeptionsgeschichte vermischen.

Das leicht Marktschreierische des Titels ließe sich auch als Überkompensation deuten, denn vielerorts herrsche, so erklärt das Vorwort, die Vorstellung, die Emotionen seien in der Philosophiegeschichte marginalisiert worden. Dieser „oft suggerierten These“, treten die Herausgeberinnen entgegen: Das Verhältnis zu den Emotionen sei für das Selbstverständnis der Philosophie, wenn auch nicht immer explizit, so doch prägend gewesen. Landweer/Renz kommen deshalb zu dem Fazit „Wie hältst du es mit den Emotionen?“ sei eine der Gretchenfragen der Philosophie.

Behandelt werden Platon, Aristoteles, Stoa und Epikur, die antike medizinische Tradition, Plotin, Augustinus, christliche Denker vor dem 13. Jahrhundert, Thomas von Aquin, Wilhelm von Ockham, Huarte de San Juan und Suárez, Montaigne und La Rochefoucault, Descartes, Hobbes, Spinoza, Malebranche, Shaftesbury, Hutcheson, Hume, Smith, Rousseau, Kant, Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, James, Whitehead, Scheler, Wittgenstein, Heidegger und Bollnow, Sartre, Langer in je gut 20-seitigen Artikeln. Diese sind im wesentlichen einheitlich aufgebaut; einer einleitenden Begründung und Entfaltung der allgemeinen und auf den jeweiligen Autor beziehbaren Fragestellung folgt die Ankündigung der Vorgehensweise und der Argumentationsschritte. Die durch Zwischenüberschriften gegliederten Artikel schließen mit einer Basisbibliografie zum jeweiligen Autor und seinen emotionsphilosophischen Schriften.

Die Auswahl begründen die Herausgeberinnen mit der Relevanz der vorgestellten Texte in der emotionsphilosophischen Tradition einerseits und der jeweiligen Schlüsselrolle für eine historische Einordnung oder ein systematisches Verständnis aktueller Fragen andererseits. Noch lebende Autoren schließen sie aus, da „die Konjunktur philosophischer, einzelwissenschaftlicher und interdisziplinärer Emotionstheorien ungebrochen anhält und sich noch nicht eindeutig abzeichnet, in welche Richtungen diese neuesten Entwicklungen weisen“. Auf das Aktuelle zugunsten des Kanonischen zu verzichten, ist für ein Handbuch zwar eine nachvollziehbare Entscheidung, doch wünscht sich der Leser ja gerade dort Hilfe, wo es unübersichtlich wird, vielleicht sogar mehr als im scheinbar wohlgeordneten Terrain der Tradition (auch wenn dort manche Vorurteile zu korrigieren oder Akzente zu verschieben sind, worum die Autoren sich etwa im Zusammenhang mit Descartes und seinem vorgeblich mechanistischen Emotionsverständnis bemühen).

Die Zurückhaltung enttäuscht zum Beispiel im Zusammenhang mit Hermann Schmitz, dessen Arbeiten zur Neuen Phänomenologie in den letzten Jahren wiederholt als ebenso interessante wie umstrittene Konzepte (Gefühle als Atmosphären) angeführt werden (übrigens auch in der Einleitung der Herausgeberinnen), zumal sie Anschlussstellen unter anderem für die Literaturwissenschaft bieten. Und auch die amerikanische Rechtsphilosophin Martha Nussbaum, die sich immer wieder in aktuelle Debatten etwa über Multikulturalismus, Weltbürgertum und internationale Gerechtigkeit einmischt, oder den prominenten amerikanischen Philosophen Richard Rorty († 2007), für dessen politische Philosophie Empathie, Schmerz und Solidarität zentrale emotionale Werte darstellen, sähe man gerne von fachkompetenter Seite situiert und kommentiert.

Insofern also kann man Zurückhaltung und Urteilsscheu, die in der Aktualitätsverweigerung mitschwingen, bedauern, zumal selbst eine Fehleinschätzung im Hinblick auf künftige Entwicklungen das Buch als Ganzes nicht notwendig schwächte, im Gegenteil, Auskunft über die Stimmungen und Hoffnungen seiner Entstehungszeit und -bedingungen gäbe: Der Band ist hervorgegangen aus dem Excellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin, präsentiert Ergebnisse des ersten Teilprojekts und dokumentiert also das gegenwärtige Interesse an Emotionen und die aktuellen Fragestellungen.

Angesichts des Buchumfangs und der Zahl der Beiträger stellt die konzeptionelle Stringenz, durchgängig systematische Präsentation und Geschlossenheit der Darstellung eine staunenswerte Leistung der Herausgeberinnen dar.

Zu den roten Fäden innerhalb der emotionsphilosophischen Schriften gehört die Reflexion auf das Verständnis der Emotionen als Stimmungen, Affekte oder Dispositionen sowie das Bemühen um Differenzierungen, so etwa Shaftesburys Unterscheidung zwischen von außen affizierten Empfindungen und von solchen Affizierungen unabhängigen Gefühlen, aus der er unter anderem ableitet, im Fühlen reflektierten wir unser Empfinden.

Mit der Unterscheidung von sinnlichem und psychischem Fühlen eng zusammenhängt die Frage nach dem Verhältnis der Emotionen zum Körper: Sind sie von ihm unabhängig oder abhängig, gar induziert, oder wirken umgekehrt die Emotionen auf den Körper ein, stehen Emotionen und Körper in Wechselwirkung miteinander oder ist die Emotion mit dem, was man für ihren körperlichen Ausdruck erachtet, letztlich identisch? Seit der Antike beschäftigt der Streit zwischen physikalistischen oder mentalistischen Kausalitätserklärungen nicht allein die Philosophie. Aristoteles, der von der Körpergebundenheit der Emotionen ausgeht, ist nur ein früher Vertreter eines letztlich ‚ganzheitlich‘ gedachten Emotionskonzepts: „Es scheinen auch die Widerfahrnisse der Seele alle mit dem Körper verbunden zu sein, Zorn, Sanftmut, Furcht, Mitleid, Zuversicht, ferner Freude und das Lieben und Hassen: denn gleichzeitig mit diesen erleidet der Körper etwas.“

Aus dem Stellenwert, der Emotionen im körperlichen, psychischen und sozialen Leben und Handeln des Einzelnen wie der Gesellschaft zugestanden wird, lassen sich Rückschlüsse auf Menschenbild und Gesellschaftsverständnis ziehen, und die zeitliche Überschau erlaubt es im Hinblick auf wissenschaftsgeschichtliche Verschiebungen, emotionsphilosophische ‚Epochenschwellen‘ auszumachen: Während das Interesse der Antike an Emotionen im Kontext der Rhetorik eher urteilstheoretischer Natur war oder sich, im Zusammenhang der antiken Geschichtsschreibung, auf ethische Fragen nach der Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit bestimmter Emotionen für moralisches Handeln konzentriert und therapeutische Reflexionen Emotionen als Krankheiten beleuchten, beginnt erst im 17. Jahrhundert ein „rein theoretisches, wissenschaftliches Interesse“ der Philosophie an Emotionen. Dem gehen andere interessegeleitete Beschäftigungen mit Emotionen voraus. Im Kontext christlicher Heilslehren tritt etwa bei Augustinus der Gedanke einer Affekttherapie in Verbindung mit christlicher Sündenlehre, indem einerseits die Affekte als zur Natur des Menschen gehörend anerkannt werden, andererseits aber am Ideal einer eben nicht von Affekten bestimmten Existenz des Menschen festgehalten wird, die er indes nicht aus eigener Kraft und auch nicht im Diesseits erreichen könne.

Augustinus’ Einfluss auf die Konzeptualisierung von Emotionen reicht bin in die frühe Neuzeit, konkurriert mit in der Renaissance wiederbelebten Vorstellungen antiker Rhetorik und des Epikurismus und mit Konzepten der mechanistischen Naturphilosophie. Deren Leistung liegt vor allem im wissenschaftlichen Selbstverständnis der philosophischen Affektenlehren: Im Unterschied zu der in der Antike beginnenden und in der christlichen Philosophie fortgesetzten, insgesamt dominierenden Tradition moralischer Bewertung von Affekten zielt die Philosophie des 17. Jahrhunderts, v.a. bei Descartes und Spinoza, auf eine ‚wissenschaftliche‘ Auseinandersetzung, die Emotionen nicht bewerten, sondern verstehen möchte. Seit dem Rationalismus werden Emotionen als theoretischer Gegenstand sui generis wahrgenommen und ihre Theorien haben einen Ort auch jenseits praktischer Disziplinen.

Shaftesbury wird den rationalistischen und mechanistischen Konzepten des 17. Jahrhunderts das Konzept des Gefühls als eines einheitlichen, sowohl aktiven als auch reflexiven Gemütsvermögens entgegensetzen und mit dem Begriff des moral sense den natürlichen Sinn für das moralisch Richtige bezeichnen. Von hier entwickelt sich durch die Schriften der schottischen moral-sense-Philosophen (Francis Hutchesons Idee einer Ethik, die moralisches Handeln auf intrinsische Motivation gründet; David Humes Betonung der Gefühle anderer für die Ausbildung eigener Gefühle und Adam Smiths Theorie der moralischen Gefühle als einer Sozialtheorie) die Überzeugung, „dass wir es beim Gefühl mit einem potenteren moralischen Vermögen zu tun haben als bei der Vernunft“. Darauf reagiert Immanuel Kant, wenn er versucht, die Moral „direkt nur noch auf Vernunft, nicht mehr auf das in seiner Sicht subjektive sinnliche Gefühl zu gründen“.

Die grundsätzliche Bewertung von Emotionen als gut, schlecht, notwendig oder hinderlich gehört zu den immer wiederkehrenden Gedankenfiguren der Emotionsphilosophie; sie ist verknüpft mit der Frage nach der Therapie-Notwendigkeit von Affekten. Von ihr waren alle großen Schulen – die platonische Akademie, der Peripatos, Epikur, die Stoa, der Neuplatonismus – überzeugt, wenn sie auch unterschieden, ob bestimmte Affekte behandelt, das heißt gemäßigt, zurückgedrängt respektive kultiviert werden sollten oder ob sie unter „Therapie“ den Kampf gegen Affekte schlechthin verstanden, wie die Stoiker, die dem „Ideal der Affektlosigkeit“ anhingen, weil sie Affekte als „Defekte des logos“ verstanden, die ein gutes Leben, das heißt ein Leben in „Übereinstimmung“ mit der (eigenen) Natur verhindern. Dem steht dann in der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert der neue Gefühlsbegriff in der Moralphilosophie gegenüber, dessen Tenor lautet: Nicht länger Heilung von den Emotionen, sondern durch sie.

Ebenfalls immer wiederkehrend sind die Versuche, Emotionen auch intern, also in ihrem Verhältnis untereinander, zu klassifizieren: bis ins 18. Jahrhundert häufig in sogenannten Grund- oder Primäraffekte und von diesen abgeleitete Sekundäraffekte (so etwa noch Descartes Unterscheidung in sechs grundlegende und weitere, auf ihnen beruhende „besondere Emotionen“). Ebenfalls beliebt und bis heute auch in populären Darstellungen gebräuchlich ist eine Einteilung von Emotionen auf Grund ihrer „hedonistischen Valenz“, meist gemessen an den Antipoden „Lust“ und „Schmerz“, wie sie sich schon bei der Stoa und den Epikureern findet und heute als Leitdifferenz von „Lust versus Unlustgefühle“ fortgeschrieben wird.

Andere Autoren unterscheiden Emotionen nach unterschiedlichen und oft miteinander kombinierten Kriterien, Cicero etwa, exemplarisch für die antike Literatur, kategorisiert vier Hauptleidenschaften danach, ob sie sich auf ein Gut oder ein Übel in der Zukunft oder Gegenwart beziehen: Begierde richtet sich auf ein erhofftes Gut, Freude auf ein gegenwärtiges; Angst auf ein zukünftiges, Traurigkeit auf ein gegenwärtiges Übel. Neben solcherart mehrdimensionalen Taxonomien existieren binäre Unterscheidungen wie Malebranches Gegenüberstellung von von körperunabhängigen Neigungen des Geistes (Inclinations) einerseits und andererseits Leidenschaften, denen der Geist durch seine Verbindung mit dem Körper unterliegt (Passions). Der ethisch-moralische oder soziale Aspekt spielt für die Klassifizierungen oft eine wesentliche Rolle, etwa wenn Hutcheson die Untergliederung der Leidenschaften davon abhängig macht, ob sie im Hinblick auf das Subjekt egozentrisch sind oder konkreten geliebten respektive ungeliebten oder unbekannten Menschengelten. Am eindeutigsten ist hier wohl die Position der französischen Moralisten des 16.-18. Jahrhunderts: „Meister des Verdachts“ (Ricoeur), entlarven sie hinter allen Emotionen letztlich nur eine, den amoir-propre, die Selbstliebe, die zu vielerlei Schlichen und Maskeraden in der Lage sei, Neid etwa als Demut und Scham verkleide – auch vor dem Subjekt. Letztlich entsprängen alle Emotionen der Eigenliebe, sollen diese erhalten und steigern und zwar so, dass „die entsprechenden Umwandlungen dem Subjekt verborgen bleiben“ und „mit anderen Emotionen, mit Überzeugungen und Wünschen interagieren“.

War für die Moralisten die Eigenliebe letztlich die Leit-Emotion, so lassen sich bei anderen Autoren zwar keine vergleichbaren Alleinstellungen finden, wohl aber spezifisches, auch wiederkehrendes Interesse für einzelne Emotionen, ihre Funktions- und Wirkweise. So taucht Zorn mehrfach als paradigmatische Emotion auf, auch Traurigkeit, sexuelles Begehren, Furcht oder Scham.

Die Bedeutung von Emotionen für die Kunst beschäftigt Philosophen unter verschiedenen Vorzeichen: Emotionen als Movens und Stimulans der Produktion von Kunstobjekten, als Gegenstand der Darstellung oder – seit der antiken Rhetorik – als deren intendierte Wirkung auf den Rezipienten. Von aktuellem Interesse sind etwa Spinozas Überlegungen zu Affektimitation und Affektübertragung aufgrund von Ähnlichkeit und seine Abgrenzung der Verfahren voneinander: Während es bei der Übertragung um eine affektive Besetzung von an sich irrelevanten Gegenständen geht, um eine Projektion, die auf bloßer Ähnlichkeit der Objekte beruht, denen das Gefühl des Subjekts gilt (wie etwa im Fall von Xenophobie, wenn die einem Individuum geltenden negativen Gefühle auf eine Gruppe projiziert werden, deren Mitglieder dem Erstauslöser vermeintlich ähneln), besteht bei der Gefühlsansteckung die vermeintliche Ähnlichkeit zwischen einem Subjekt und einem menschlichen Objekt, dessen Empfinden das Subjekt affiziert – womit die für Literatur- und Theaterwissenschaftler mehr als einschlägige Aristotelische oder auch Lessing’sche Mitleidsthematik aufgerufen wäre.

Die im wesentlichen sinnvollen Bezüge und Verweise sowie die insgesamt geringen Überlappungen und Redundanzen verleiten dazu, das Buch als Gesamtdarstellung zu lesen und erlauben es auch linear oder quer einzelne Fragestellungen zu verfolgen. Der systematisch interessierte Leser wird allerdings ein Sach-Register schmerzlich vermissen, kann sich indes mithilfe des ausführlichen, auch die Zwischenüberschriften erfassenden Inhaltsverzeichnisses behelfen.

Deutlich werden bei den Lektüren – den linearen wie den systematischen – bis in die Gegenwart reichende Traditionslinien wie etwa die auffällig zweischneidige Rolle der Stoiker: Während ihr Ideal der Affektlosigkeit heute kaum noch Anhänger findet, bezeichnet sich etwa die prominente amerikanische Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik Martha Nussbaum, die die kognitivistische Grundüberzeugung vertritt, Emotionen seien Urteile der Vernunft, als „neo-stoic“. Und von Descartes’ Verständnis von Emotionen als „genuin kognitiven Zuständen“ und evaluativen Repräsentationen ist der Weg nicht weit zu kognitivistischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen, die durch die Veränderung von Repräsentationen auch eine Veränderung von Emotionen bewirken und zudem eine neue Verbindung von Hirnzuständen zu geistigen Zuständen schaffen wollen. In Spinozas moralphilosophischem Programm, so Ursula Renz in ihrem Artikel, werden „Prinzipien, die wir heute der Verhaltenstherapie zuordnen würden, mit solchen kombiniert […], die psychoanalytische Einsichten vorwegnehmen“. Angesichts so deutlicher Hinweise auf Anschlussstellen an aktuelle Emotionsforschung und -therapie vermisst man im Artikel über die französische Moralistik den expliziten Hinweis auf die in den letzten Jahren viel diskutierte Theorie der Spiegelneuronen, wenn Markus Wild Montaignes Äußerungen über eine Art „mimetische Übertragung“ von Emotionen durch Imitation ihrer körperlichen Manifestationen konstatiert und den indirekten Bezug auf Annahmen zur Erlernbarkeit von Emotionen herstellt: „Es scheint sogar so, als würden Emotionen in der Individualentwicklung auf diesem Weg übernommen und erlernt, bevor wir über traurige, eklige oder schockierende Dinge überhaupt Bescheid wissen.“

Wollte man weiter kritisieren, was angesichts des Mammutunternehmens immer kleinlich ist, so ließe sich fragen, ob „Lachen“ (im Artikel „Lachen im spanischen Humanismus und in der Spätscholastik“) sich schlüssig in die Systematik der ansonsten behandelten Emotionen fügt und warum die Arbeit von Eckhart Schörle („Die Verhöflichung des Lachens. Lachgeschichte im 18. Jahrhundert“, Bielefeld, 2007 [= „Kulturen des Komischen“, hg. v. Friedrich W. Block, Helga Kotthoff und Walter Pape. Bd. 4]) dort keine Beachtung findet.

Freilich mussten die Autoren des Handbuchs mit dem vorliegenden Textmaterial arbeiten und das erfordert gelegentlich Zugeständnisse – Jean-Pierre Wils etwa räumt in seinem Artikel über Jean-Paul Sartre ein, dass in dessen Abhandlung „Esquisse d’une théorie des émotions“ eine „gehaltvollere Theorie der Emotionen“ fehlt, zugunsten eines „auffällig einseitigen Funktionalismus“, der sich aus Sartres damaligem Interesse an bewusstseinstheoretischen Überlegungen erkläre, die er anhand seiner „Theorie der Emotionen“ lediglich illustriere (gleichwohl ist es verdienstvoll auf Sartres 1939 entstandenen Text als einem Vorläufer der neueren Emotionsforschung aufmerksam zu machen).

Neben den zahlreichen Fragen, Themen und Kontroversen, die sich Lesern auch außerhalb des philosophischen Fachpublikums unmittelbar erschließen, werden im theologischen Kontext auch Fragen aufgeworfen, die sich dem ‚diesseitigen‘ Leser nicht unbedingt aufdrängen, wie etwa die, ob auch Jesus Christus gelacht habe oder ob „nicht auch immaterielle Wesen wie Engel Emotionen“ haben und was man sich unter dem Zorn Gottes vorzustellen habe. Hier wird dem Leser mitgeteilt: „Von Emotionen im Sinne von Leidenschaften (passiones) können wir bei Gott und den Engeln […] nicht sprechen.“

Titelbild

Hilge Landweer / Ursula Renz (Hg.): Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein.
De Gruyter, Berlin 2008.
712 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783110188653

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