Erinnern als Durcharbeiten

"Exil und Avantgarden" in Jahrbuch "Exilforschung"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1983 erfüllt das Jahrbuch "Exilforschung" die Funktion eines interdisziplinären Forums, in dem Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und Forschungsgebiete ihre neuesten Ergebnisse vorstellen können. Seine Zielsetzung ist, die Fluchtwege, Lebens- und Arbeitsbedingungen, Ziele, Konzeptionen, Leistungen und Wirkungsmöglichkeiten des politischen Exils wie der jüdischen Emigration in ihrer ganzen Breite und Vielfalt darzustellen.

Der Jahresband 1998 ist einer erneuten Betrachtung der in den 20er Jahren entstandenen und nach 1933 aus Deutschland vertriebenen Avantgardebewegungen gewidmet. Ausgangspunkt der Auseinandersetzung - so das Vorwort - ist die postmoderne "Skepsis gegenüber dem einlinigen Fortschrittsbegriff der Aufklärung und der in ihm begründeten technischen und politischen Modernisierungskonzeption", die auch das Konzept einer künstlerischen oder literarischen Avantgarde in Frage stellt. Der Band folgt damit der von Lutz Winckler in seinem richtungsweisenden Beitrag über die Geschichte und Situation der Exilforschung entwickelten Forderung ("Mythen der Exilforschung" in Band 13 von "Exilforschung") nach einer Relektüre, nach einer erneuten Auseinandersetzung mit den Zeugnissen des Exils, in der die bisherige, von Mythen geprägte Interpretation - im Bereich der Literatur und Literaturwissenschaft seien dies Realismus, Antifaschismus und Kulturnation - durch eine distanzierende, Orientierungen, Werte und Konstellationen des Exils als historisch erkennende Aufarbeitung ersetzt werden müsse. Dabei vollziehe sich, in der Terminologie Freuds, Erinnern nicht mehr in der Form der "Wiederholung", sondern der des "Durcharbeitens". Vor dem Hintergrund jenes Paradigmenwechsels von der Utopie hin zur Erinnerung werden in diesem Band Aspekte exil- und akkulturationsbedingter Institutionalisierung, der Migration und Transformation betrachtet, und zwar an Beispielen aus den Bereichen der bildenden Kunst, des Films, der Musik wie auch der Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik.

An den Anfang des Bandes stellten die Herausgeber einen Beitrag von Peter Rautmann, "Gedächtnis - Erinnern - Eingedenken. Walter Benjamins Passagenarbeit und Dani Karavans Passagen in Portbou". Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen langwierigen Debatte über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin beschäftigt sich Rautmann mit der Schwierigkeit, der sich jegliche Errichtung von Gedenkstätten konfrontiert sehe, wenn man die Forderung Benjamins, nicht nur der Genies, sondern auch der "namenlosen Fron der Zeitgenossen" zu gedenken, als Maßstab an sie anlege. Für Benjamin ist Kulturgeschichte nicht ablösbar von der politischen Geschichte, jedes Dokument der Kultur zugleich eines der Barbarei. Als eine mögliche Antwort wird die Benjamin-Gedenkstätte des israelischen Künstlers Karavan verstanden, das Rautmann mit den Kategorien zu einer materialistischen Geschichtstheorie in Beziehung setzt, wie sie Benjamin im "Passagen-Werk" entwickelte. Die "Klage der Besiegten", die durch die vorherrschende Geschichtswissenschaft mit ihrer Suche nach Gesetzmäßigkeit aus der Geschichte entfernt werde, könne, so Rautmann, wachgehalten werden durch die emotionale und reflexive Wirkung, die ein Kunstwerk wie Karavans Ensemble "Passagen" im Besucher auszulösen vermag. Rosamunde Neugebauers Aufsatz "Avantgarde im Exil? Anmerkungen zum Schicksal der bildkünstlerischen Avantgarde Deutschlands nach 1933 und zum Exilwerk Richard Lindners" setzt sich eingehend mit den Bedeutungsvarianten und dem Auftreten des Begriffs 'Avantgarde' auseinander und weist anhand statistischer Daten auf den überraschenden Tatbestand hin, daß das Verdikt der "entarteten Kunst" für die Vertreibung und Verfolgung von Künstlern eine weit geringere Rolle spielte als deren politisches Engagement oder ihre 'Rassenzugehörigkeit' im Sinne der NS-Ideologie. Interessant ist auch die Feststellung, daß gerade die Exilsituation bei einer Reihe von Künstlern erst zur Entwicklung avantgardistischer Kunstformen führte.

Die Beiträge von Helmut G. Asper über die Filmavantgarde und von Jörg Jewanski zu dem gescheiterten Versuch Alexander Lászlós, sein avantgardistisches Projekt einer Farblichtmusik in den USA durchzusetzen, sind thematisch eng verknüpft. Asper korrigiert die in der Forschung vertretene Auffassung, daß die emigrierten Vertreter des abstrakten Films im Exil keine nennenswerte Wirkung entfaltet hätten. War die Produktion eigener experimenteller Filme auch in der Exilsituation erheblich erschwert, so gelang es Filmavantgardisten wie Oskar Fischinger, Hans Richter, Lásló Moholy-Nagy oder Helmar Lerski dennoch, durch ihre Filme und/oder insbesondere durch ihre Lehrtätigkeit an Film- und Kunsthochschulen die Entwicklung einer Filmavantgarde in Israel, den USA und Europa nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich zu beeinflussen.

Der größte Teil der Aufsätze beschäftigt sich mit der literarischen Avantgarde. So zeichnet Stephan Braese detailliert und differenziert Walter Benjamins weitgehend vergebliche Bemühungen nach, durch seine Arbeit als Kritiker eine Selbstverständigung der Intellektuellen im Exil in Gang zu setzen, die seine isolierte Position im Literaturbetrieb des Exils deutlich machen. Die Benjamins Denken kennzeichnende "Dichotomie von säkularisiertem Radikalismus und messianischer Utopie" gerät angesichts der unübersehbar herannahenden "Katastrophe" in ein starkes Spannungsverhältnis, nicht zuletzt durch die Gleichgültigkeit des kommunistischen Milieus gegenüber der Vernichtung des deutschen Judentums. Die aus der jüdischen Verfolgungserfahrung erwachsene geschichtliche Perspektive des utopischen Messianismus ermöglicht Benjamin tiefere Einsichten in das Phänomen der faschistischen Gewalt als der vorwiegend in der Kategorie des Klassenantagonismus operierende historische Materialismus. Braese kommt zu dem Schluß, daß nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust und der "Auslöschung jener Menschen, in deren Erfahrung und Denken jene 'jüdischen Einsichten' [...] auch in Deutschland einmal Halt hatten", nur mehr ein vermittelter Zugang zu Benjamins kritischer Arbeit möglich sei, da diese ihren ganz konkreten Ort in seiner Zeit hatte. Ihre Aktualität liege in dem Hinweis auf das säkulare Ausmaß der Niederlage, die der Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus in Deutschland erlitten habe. Auch Else Lasker-Schüler rekurriert, wie Doerte Bischoff aufzeigt, in ihrem letzten Prosawerk Das "Hebräerland" auf messianische Elemente jüdischer Überlieferung. Der avantgardistische Impuls des Textes manifestiere sich darin, daß Lasker-Schüler alle Sinneinheiten und Ordnungsmuster als kontingent vorführe. Der Text entziehe der Definitionsmacht der faschistischen Ideologie den Boden, indem er Identität und Heimat als etwas nicht Festlegbares präsentiert, und klage eine Humanität ein, die mehr ist als nur "das Gegenteil oder die Kehrseite der nazistischen Herrschaftsphantasmen". Diese Qualität des Textes wurde jedoch, wie Bischoff darlegt, weder von zeitgenössischen Rezensenten noch in der von den Mythen des Antifaschismus und Realismus geleiteten Forschungsliteratur wahrgenommen.

Die widerspruchs- und konfliktvolle Verbindung von sozialistischer Weltanschauung und politischem Engagement einerseits und künstlerischem Anspruch andererseits beleuchten die Artikel über Anna Seghers (Dieter Schiller) und Brechts "Hofmeister"-Bearbeitung (Marion Marquardt). Schiller wertet in seinem Beitrag über Anna Seghers kritisches Verhältnis zu der in Moskau gegründeten Exilzeitschrift "Das Wort" den im Russischen Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst in Moskau befindlichen Briefwechsel aus.

Die Frage nach avantgardistischen Positionen in der Literatur selbst wird von Jost Hermand ergänzt durch eine kritische Bestandsaufnahme der Wirkung ihrer exilierten Interpreten. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen war die der Exilgermanisten zahlenmäßig klein, wobei die überwältigende Mehrheit in den USA Zuflucht suchte. In der hier gezogenen Bilanz wird den aus Nazi-Deutschland emigrierten Germanisten eine innovative Wirkung im Sinne der Durchsetzung eines neuen Literaturbegriffs und neuer methodischer Konzepte weitgehend abgesprochen, was, wie Hermand jedoch selbst mehrfach betont, eine typologische Vereinfachung darstellt. Erst die in den späten 50er und 60er Jahren freiwillig in die USA ausgewanderten westdeutschen Germanisten hätten durch ihr an der gesellschaftskritischen Funktion ausgerichtetes Literaturkonzept frischen Wind in die amerikanische Germanistik gebracht und dort langfristig eine kulturwissenschaftliche Sichtweise begründet.

Titelbild

Gesellschaft für Exilforschung: Exil und Avantgarden.
edition text & kritik, München 1998.
272 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3883775916

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