Wohin man am klügsten aus einem Heißluftballon fällt

Hans Christoph Buchs Roman „Sansibar Blues oder Wie ich Livingstone fand“

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um Sansibar so kennen zu lernen wie der Reisende im Roman von Hans Christoph Buch, muss man sich als erstes selbst vergessen. Muss auf einer Safari Hals über Kopf aus der Gondel eines Heißluftballons in eine Wildnis fallen, die keine ist, in der man per Mobilfunk Jeeps und Hubschrauber ordern kann, Hyänen Kreditkarten akzeptieren und Löwen sich achtlos abkehren. Muss sich – immerhin am Knie verletzt, wie wenig schlimm auch immer – ganz in die Besinnungslosigkeit stürzen, vergessen haben, wie man heißt, wer man ist, woher man kommt. Und in unausgesetzter Selbstansprache vergebens versuchen, sich zu sammeln: „du bist“, „du hast“, „du warst“, aber „du weißt nicht“. Ohne Sprache kein Ich, aber sprechen alleine genügt nicht. Bis zum Ende des Romans kommt das Erzähler-Ich, das sich so inständig in Du-Form anruft, nicht zustande. Dafür erteilt es anderen Figuren das Wort. Und die erzählen an seiner statt von Sansibar und sich selbst in der ersten Person.

Hans Dampf zum Beispiel. Ihn, den Afrikanisten, der Suaheli beherrscht, schickt die DDR im Jahre 1964 als Botschafter nach Sansibar. Es ist die Zeit der antikolonialen Unabhängigkeitsbestrebungen, der kurzen Phase Sansibars als Volksrepublik und des Massakers an seiner arabischen Elite. In Stone Town hält der Revolutionsrat das Polizeihauptquartier besetzt und Hans Dampf blickt in eine Gemeinschaftszelle wie auf das bekannte Gemälde mit den letzten Opfern der Grande Terreur kurz vor Robespierres Sturz. Es ist aber auch die Zeit des Kalten Kriegs und seiner um Einflusssphären ringenden Machtblöcke. Schon im Flugzeug begegnet Hans Dampf dem weltläufigen amerikanischen Diplomaten Frank Carlucci. Der wird den jungen, von der DDR-Staatssicherheit unterwiesenen, aber ungefestigten Kader durch manch heikle Situation manövrieren und dennoch das Nachsehen haben. Mit seiner Unterstützung rettet Hans Dampf, den die DDR bald durch einen zuverlässigeren Vertreter ersetzt, die vom Revolutionsrat verfolgte Sultansnichte Fathiya. Sie heiratet den Ostdeutschen. So bleibt Carlucci, der auch um sie warb, nur die Rolle jenes britischen Vize-Konsuls, der knapp einhundert Jahre zuvor, im Sommer 1866, der Sultanstochter Salme zur Flucht aus Sansibar verhalf.

Hans Dampf ist gut erfunden, aber die arabische Prinzessin Salme, die der Autor als nächste sprechen lässt, historisch belegt und mit ihren selbst verfassten Lebenserinnerungen Teil der europäischen Memoirenliteratur. Aufgewachsen als Muslima tritt sie zum Christentum über, ehelicht einen Hamburger Kaufmann, mit dem sie in Sansibar eine Liebschaft verband, und lebt als Emily Ruete in Deutschland. Später wird sie zum Spielball deutscher Kolonialpolitik und unsanft fallen gelassen. Es ist die Zeit der Berliner Afrika-Konferenz (1884/5), der deutsch-englischen Notenwechsel über Ostafrika (1886) und des Helgoland-Sansibar-Vertrags (1890), durch den sich Emily Ruete endgültig ins Abseits gestellt sieht. Recht unbekümmert mischt sich der Autor in die Angelegenheiten der Prinzessin. Sie muss mit Bismarck Tee trinken, die Zudringlichkeiten deutscher Arabischschüler abwehren und ihr erinnertes Leben mit der außergewöhnlichen Wendung beschließen: „Ich starb am 24. Februar 1924 im Beisein meiner Kinder, und die Urne mit meiner Asche wurde auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg beigesetzt.“

Historisch gleichfalls verbürgt ist der Sklaven- und Elfenbeinhändler Tippu Tipp, „dessen Geschichte Dr. Brode abwechselnd in der ersten und dritten Person erzählt“. Hier ist dem Autor ein deutscher Sprachforscher (wahrscheinlich verbeamtet) namens Heinrich Brode zuvorgekommen. Das gibt Buch die Gelegenheit, eine dritte Erzählebene zu eröffnen, die Tippu Tipp und Dr. Brode im Auge behält. Zu dritt blickt man auf Freund und Feind. Da ist etwa der abenteuernde Journalist Henry Morton Stanley. Seinem Bestseller „How I found Livingstone“ (1872, deutsch 1879) hat Buch den Untertitel von „Sansibar Blues“ entlehnt. Stanley nimmt bei seinen Expeditionen mehrfach Tippu Tipps Hilfe in Anspruch. So bei seiner Suche nach Livingstone. Lange vor dem Reporter, bereits im Juli 1867, trifft Tippu Tipp den schottischen Missionar. Man versteht sich. Obwohl dieser den Sklavenhandel abschaffen will, den jener betreibt. Moniert hat Dr. Brode nur, dass Tippu Tipp unmöglich die legendäre Frage „Dr. Livingstone, I presume?“ gestellt haben kann, da das Stanley vier Jahre später tat. Nach der ungleich beschwerlicheren Suche nach Emin Pascha, dem deutschen Arzt Eduard Schnitzer, der zuerst in osmanischem, später in deutschem Dienst steht, überwirft sich Stanley mit Tippu Tipp. Der setzt sich auf Sansibar zur Ruhe und stirbt 1905 als reicher Mann.

Wer die Erzählungen von Hans Dampf, Emily Ruete und Tippu Tipp liest wie konventionelle Lebensgeschichten, wird verprellt. Denn dort borgt sich Buch nur das Gerüst. Natürlich gibt es Geburt und Tod, Kindheit, Jugend, Kämpfe, Niederlagen und Triumphe, werden Sträuße unter Geschwistern, mit Vätern oder Staatsvertretern ausgefochten, somit recht gewöhnliche Werdegänge absolviert. Aber all das macht wie ein Schattenriss nur die groben Konturen sichtbar. In der Hauptsache bieten die drei Erinnerungen Anlässe, Anstöße, gelegentlich auch nur Vorwände, um historische Ereignisse und Figuren passieren zu lassen. Ihnen allen ist gemeinsam, vor, während und nach der europäischen Kolonialzeit Interessenpolitik gewesen zu sein, sie betrieben, sich in sie verstrickt oder sie kommentiert zu haben. So korrespondiert das den drei Ich-Erzählern von Buch angehängte Personal auch durch mehr oder minder dezente Anspielungen.

Nicht zufällig spricht Frank Carlucci bisweilen wie der deutsche Kolonialgouverneur Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg und dieser wiederum wie Otto Winzer, der stellvertretende Außenminister der DDR. Das setzt die drei nicht in eins. Aber es deutet die gleichen Widersprüche in den Interessenlagen an, die sie jeweils vertreten. Wenn Buch in einer Bar in Stone Town unerwartet Che Guevara auftauchen und anlässlich von Hans Dampfs amouröser Verlegenheit die Hamletfrage aufwerfen und Don Quichotte zitieren lässt („kämpfen Sie!“), wird deutlich, dass es immer auch um etwas anderes geht. Um mehr als eine Liebelei und entschieden weniger um mehr Freiheit und Menschlichkeit. Dafür um Politik und Wirtschaft und jedenfalls um mehr Macht. Das gilt für alle bei Buch zitierten Zeiten und Protagonisten, für Emily Ruete wie für Tippu Tipp und die von seinen europäischen Partnern angeblich vorrangig angestrebte Abschaffung der Sklaverei. Afrika war in den Kolonialphantasien immer auch die friedlich-wirtschaftlich und notfalls mit militärischer Gewalt zu befreiende, aus Herrschaftsgründen zu erobernde Frau.

Das gebrochene Fortleben bestimmter Phantasien wird nirgends klarer als in den Sprach- und Vorstellungswelten, Worten, Bildern und Szenarien, die wie „KILROY“ schon immer überall waren, die stets weiter gereicht werden, gleich bleibend, variiert oder völlig entstellt. Auch darum ist das Personal, das Buch dem Leser zumutet, so zahlreich. Es ist manchmal nicht mehr als ein Relais. Schließlich werden auch Dante, Mozart, Goethe und Fontane aufgeboten, kurzum: die zu Klischees und geflügelten Worten kondensierte humanistische Tradition: „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind“, schreibt Ottilie am Ende des siebenten Kapitels der „Wahlverwandtschaften“ in ihr Tagebuch. Diese Worte raunt Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg, den kleinen Hans Dampf auf dem Schoß, vor sich hin. Kaum von ungefähr in umgestellter Wortfolge. Sie fallen dem großen Hans Dampf just in dem Augenblick wieder ein, als er, um Fathiya zu retten, dabei ist, sich dem „Klassenfeind“ Carlucci auszuliefern. Damit konnten weder Goethe noch der Herzog rechnen.

Hans Dampfs Pate, im wilhelminischen Kaiserreich Gouverneur von Togo, passionierter Afrikareisender und Zierde von Zigarettenbildchen, half mit, die Phantasiewelt des zukünftigen DDR-Botschafters auszugestalten. In den Plaudereien des betagten Herrn führen sich die Löwen – anders als eingangs bei Buch – noch auf wie echte Löwen, brechen mit „Angriffsgebrüll“ und „offenem Rachen“ aus dem Busch, um arglos Vorübergehende zu reißen. Das ist die Welt der Abenteuer- und Kolonialromane, Reisebeschreibungen, Groschenhefte und Sammelbildchen, später durch zahllose Kino- und Fernsehfilme kolportiert.

Medien und ihre Techniken spielen in Buchs Roman keine geringe Rolle. Bereits die drei Lebensgeschichten sind mitunter Bildbeschreibungen. Ihre Vorlagen finden sich neben weiteren Zeichnungen, Fotografien, Landkarten, Postkarten und Sammelbildern im inneren Bucheinband. War die moderne Kolonialgeschichte zu einem nicht unbeträchtlichen Teil eine der Entwicklung, des Einsatzes und der Verbreitung von Medien, so lässt Buch seinen Reisenden ganz gezielt aus der Touristengondel und in einen „Jetlag“ kippen, als er gerade mit dem Foto-Handy „den Wettlauf eines Gepards mit einer Thompson-Gazelle“ filmt.

Die verschiedenen Zeitzonen, die er nun rasant durchquert, werfen aber nicht nur den Reisenden aus dem Gleichgewicht, sondern eine Reihe aktueller und brisanter Fragen auf, die Afrikas postkoloniale Gegenwart betrifft und die Buch teils direkt, teils indirekt stellt: Wie wäre mit den Folgen der Kolonialzeit umzugehen, wann und wie wäre gegen Menschenrechtsverletzungen einzuschreiten und welche Hilfe zur Selbsthilfe ist sowohl sinnvoll als auch praktikabel? Sie zu beantworten ist nicht Aufgabe des Autors. Nach dem Scheitern der gewaltsamen Eroberungs- und Erlösungsideologien sind ihre Widersprüche umso offenkundiger. Manche mögen sich lösen lassen, andere werden weiter bestehen. Wichtig ist, sich ihrer zu erinnern. Wie der Reisende in Hans Christoph Buchs „Sansibar Blues“.

Titelbild

Hans Christoph Buch: Sansibar Blues oder: Wie ich Livingstone fand. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
241 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-13: 9783821862187

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