Nazinarziss: Ein biografischer Versuch über Goebbels

Peter Gathmann und Martina Paul erzählen die „Psychohistorie“ des NS-„Reichspropagandaministers“

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Diese Biografie nähert sich der Persönlichkeit Goebbels mit den Mitteln der Psychohistorie und sucht in den Erlebnissen seiner Kindheit und Jugend die Wurzeln für die späteren politischen Entscheidungen“. Soweit der Umschlagtext. Er hat es in sich: Biografik mit den Mitteln der „Psychohistorie“ sei möglich. Die Wurzeln politischer Entscheidungen seien in Kindheit und Jugend zu suchen. Gesellschaftliche wie ideologische Bedingungen politischen Handelns dürften folglich vernachlässigt werden. Heute, da der Geltungsanspruch solcher Erklärungsformen, die Kindheitsgeschehnisse zum Ursprung alles Weiteren erheben, längst nicht mehr unangefochten scheint – wenn er es jemals war –, sind solche Bekundungen mutig, verwegen, geradezu sympathisch frech.

Peter Gathmann, Wiener Professor der Psychiatrie, hat „psychohistorische“ Abhandlungen über Erzherzog Rudolf und Kaiserin Elisabeth, vulgo Sisi, vorgelegt. Welche Art der Aufgabenteilung zwischen Gathmann und Martina Paul bestand, ist für den Leser nicht nachzuvollziehen, und ohne Belang. Mag sein, dass Paul – Lektorin und Sachbuchautorin – um Lesbarkeit fürs wissenschaftlich unbeleckte Publikum zu sorgen hatte. Das Ergebnis ist durchaus respektabel: nicht vom höchsten sprachlichen Karat – strukturarme Substantivketten sind zu bemängeln, auch grammatikalische und orthografische Nachlässigkeiten –, doch meistenteils les- und verstehbar. Gelegentlich – es sei nicht verschwiegen – treibt Gathmanns und Pauls Prosa exotische Stilblüten hervor: „Ziel ist, die Mittel und Werkzeuge tiefenpsychologischer Analyse in ihrer autonomisierenden und emanzipatorischen Wirkung auch außerhalb des therapeutischen Settings nutzbar zu machen. Wir gehen davon aus, dass in dieser speziellen, interdisziplinären Kooperation Erkenntnisse von entscheidendem soziopolitischem Gewicht generiert und eine Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung gefördert werden. […] Der tiefenpsychologische Erkunder der Werdung Goebbels’ […] ist vom unmittelbaren, dualen, dialogischen Erlebnis der zu erkundenden Person, wie sie in der Psychotherapie übliche Basis ist, ausgeschlossen.“

Mag solche Prosa verschroben klingen: Professionell instrumentierte „Psychohistorie“ ist alltagspsychologischen Zuschreibungen, wie sie beinahe unvermeidlich in biografische Darstellungen einfließen – und oft ins Anekdotische abgleiten –, denn doch überlegen. Gleichwohl kann sich Befremden einstellen, wenn wissenschaftlich akkreditierte Diskurse den Einsichten schlichter Alltagsvernunft bis zur Ununterscheidbarkeit ähneln: Dass Goebbels Narzisst war und körperliche ‚Mängel‘ kompensierte, ist keine neue Erkenntnis. (Und dies ist Gathmann und Paul durchaus bewusst.) Dass solcherlei Trivialitäten dennoch nicht Anstoß erregen, mag zweierlei Gründe haben: Erstens gibt es sachlich nichts zu bekritteln. Zweitens pflegen Gathmann/Paul trotz aller Kathederblüten einen insgesamt unprätentiösen Duktus: Sie gehen nicht auf Kothurnen, und ihre Fallhöhe bleibt gering.

Unvermeidlich auch dies: Sexualität und ihren Sublimierungsformen wird überragende Bedeutung zugeschrieben. In tabellarischer Verkürzung: „Muttersohn trifft Muttersohn: Goebbels und Hitler müssen beide den weiblichen Anteil verdrängen […], sublimieren ihre gegenseitige Anziehung durch die Vereinigung in derselben Frau [Magda Goebbels].“ Oder: „Goebbels ist als Manntypus für Frauen extrem frustrierend, was das Gleichgewicht von Geben und Nehmen betrifft.“ Mögen sie sachlich zutreffend sein – solche Worte sind tendenziell selbstparodistisch. Dies freilich ist nicht den Autoren anzulasten, vielmehr der psychoanalytischen Methode als solcher, die wiederum nicht a priori disqualifiziert werden kann – am wenigsten, wenn von verhaltensauffälligen historischen Persönlichkeiten wie Goebbels die Rede geht. Im Übrigen setzt das Autorenduo vorhandene Theorien durchaus undogmatisch und flexibel ein: Neben Sigmund Freud werden Alfred Adlers Individualpsychologie und „neuere Narzissmusforschungen“ von Kernberg, Akhtar und Thomson bemüht, auch Wilhelm Reich und Klaus Theweleit.

Ohne allzu krude Übertreibung lässt sich behaupten, dass heutige Zeitgeschichtsforschung von strukturgeschichtlichen Ansätzen bestimmt wird. Jene Autoren, die das politische Geschehen des ‚Dritten Reichs‘ aus der Person und den Absichten Hitlers und anderer ‚Führungspersönlichkeiten‘ zu erklären versuchen, sind längst in der Minderheit: Nicht „große Männer“, so der Konsens, machen Geschichte, im Guten oder im Bösen. Der Deutungskompetenz von „Narziss Goebbels“ sind folglich, wo sie ausgreift ins Politische, enge Grenzen gesetzt. Der Anspruch, den Nationalsozialismus zu ‚erklären‘, wird freilich nicht einmal vom Klappentext erhoben: „Dieses Buch begleitet den Leser von Goebbels’ Anfängen bis zum Abschlusspsychogramm einer narzisstisch gestörten Persönlichkeit.“ Das ist mit Blick aufs ‚Dritte Reich‘ nicht wenig, aber beileibe nicht alles.

Mögen „psychohistorische“ Darstellungen nur einen Ausschnitt geschichtlicher Wirklichkeit erfassen und nicht einmal als eigentliche ‚Biographien‘ gelten können – für aufschlussreiche Seitenblicke übers psychologische Gehege ist gesorgt: So stellen die Autoren in ungewohnter Gründlichkeit Goebbels’ Agitation gegen Berlins Polizeivizepräsidenten der 20er Jahre, Bernhard Weiß, dar, den deutschen Weltkriegshelden jüdischer Herkunft, der wie wenige Goebbels’ und seinesgleichen Aufstieg zur Macht zu bekämpfen versuchte. Detailgenau wird nachgewiesen, wie Muster antisemitischer Propaganda an der Person Bernhard Weiß’ gleichsam erprobt und Jahre später aufs Judentum im Ganzen übertragen werden. So gerät „Narziss Goebbels“ wie nebenbei zum Denkmal eines fast vergessenen Helden: „Joseph Goebbels beißt sich, einem Bullterrier gleich, in seinem Opfer fest. Schließlich jagen aber nicht die Nationalsozialisten Bernhard Weiß aus seinem Amt, sondern ihre konservativen Steigbügelhalter mit dem Papenstreich vom 20. Juli 1932. Auch an diesem Tag leistet Weiß energische Gegenwehr, als seine sozialdemokratischen Amtskollegen das Spiel schon längst verloren geben. Nach seiner Absetzung eröffnet er in Berlin eine Anwaltskanzlei, bevor er im März 1933 in letzter Minute nach Prag und anschließend nach London flieht. Bernhard Weiß stirbt im Jahre 1951 nach einem, wie er selbst sagte, glücklichen Leben“.

Dass Gathmann und Paul recht umstandslos auf die Gegenwart schließen – von Goebbels auf Haider – wird mancher überzogen finden. Erfrischend ist es doch: „Die fremdenfeindlichen Ausfälle des österreichischen Politikers Jörg Haider verdeutlichen anschaulich, wie sehr sich auch heutige sogenannte Volksvertreter nicht zu schade sind, nationalsozialistische Stereotype populistisch zu bedienen. Jörg Haider machte, so wie vor ihm Joseph Goebbels, die amerikanische ,Ostküste‘ für die Krisen der Weltwirtschaft verantwortlich und witterte eine diesbezügliche ,Verschwörung‘ […]. Das menschenverachtende Spiel, das Goebbels mit Bernhard Weiß betrieb, setzte Jörg Haider fort mit dem ehemaligen Präsidenten des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes, Ludwig Adamovich, und dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Ariel Muzicant, denen er ob ihrer Namen eine zweifelhafte Herkunft unterstellte: „Wenn einer schon Adamovich heißt, muss man sich erst einmal fragen, ob er eine aufrechte Aufenthaltsberechtigung hat“ (2002). Im Fall Muzicant bediente Haider die gleichen Klischees, mit denen Hitler und Goebbels ihre Vernichtungskampagne begonnen hatten: In Anspielung auf eine Waschmittelmarke höhnte er beim Villacher „politischen“ Aschermittwoch zum Gaudium seines Publikums: „Wie kann einer Ariel heißen, wenn er so viel Dreck am Stecken hat.“

Starker Tobak für ein Land, das Haider posthum zum Volkshelden und Popstar mit Jacko-Anmutung hinaufstilisiert und Politschranzen von zweifelhaftester Dignität – H. C. Strache, Andreas Mölzer, Ewald Stadler – mit Ruhm und Einfluss versieht. (Umso erstaunlicher, dass „Narziss Goebbels“ vom Wiener Forschungsministerium den polemisch wie „psychohistorisch“ wohlverdienten Druckkostenzuschuss einheimste). Nicht zuletzt deshalb sind Gathmann und Paul zahlreiche Leser zu wünschen.

Titelbild

Peter Gathmann / Martina Paul: Narziss Goebbels. Eine Biografie.
Böhlau Verlag, Wien 2009.
299 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783205784111

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