Die Kindheit des Kartografen

Zu Reif Larsens Debüt „Die Karte meiner Träume“

Von Nils KasperRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Kasper

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Beschreibung eines Kinderzimmers, dessen Wandregale hunderte kleiner, farblich sortierter Notizbücher, Teleskope, Sextanten und allerlei Zeichengerät bergen, und die dem Ordnungssinn des Bewohners zum Trotz gelegentlich unter ihrer Last kollabieren, führt uns der Erzähler gleich zu Beginn in jene Zentrale, von der aus der zwölfjährige Held sich die Welt außerhalb mit wissenschaftlicher Genauigkeit erträumt.

Tecumseh Sparrow Spivet, den – seinem tierischen Namenspatron zu Ehren – alle kurz T.S. nennen, lebt mit seiner Familie auf einer kleinen Ranch im westlichen Bundesstaat Montana, USA. In dieser landschaftlich kargen Umgebung, die dem Blick des Betrachters wenig mehr zu bieten hat als die verlassene Bahnstation im Süden, die verkohlten Reste eines längst niedergebrannten Saloons, wenigen Beifußbüschen und den Bergen in der Ferne, lernt T.S. das Unsichtbare sichtbar zu machen und nennt sich daher selbstbewusst einen Kartografen. Der Vater, ein Gewächs dieser Gegend, die wie ein verblasstes Foto aus besseren Tagen erscheint, zehrt wortkarg und Whisky trinkend vom nostalgischen Pathos alter Cowboy-Filme und quittiert das abwegige Treiben des Sohnes nur mit stummer Missbilligung. Die Mutter, eine gestrandete Biologin, die bereits seit zwanzig Jahren vergebens einem dubiosen Käfer nachspürt, versteht es immerhin, den wissenschaftlichen Ambitionen ihres Sohnes Ziel und Maß zu setzen.

Als eines Tages das Telefon klingelt und der kindliche Held davon erfährt, dass ihm für seine in einigen namhaften Magazinen bereits publizierten Karten und Illustrationen ein angesehener Wissenschaftspreis verliehen werden soll, nimmt die Erzählung an Fahrt auf. Ziel der abenteuerlichen Reise quer durch den Kontinent ist Washington D.C., wo die Verleihung stattfinden soll und T.S. schließlich die ernüchternde Entdeckung macht, dass Wissenschaftler am Wissenschaftsbetrieb scheitern können.

Reif Larsen heißt der Autor, er dreht Dokumentarfilme, lehrt an der Columbia University und lebt in Brooklyn, New York. Mit seinem Roman „Die Karte meiner Träume“ tritt Larsen nun erstmals auf die Bühne der literarischen Öffentlichkeit und stellt seine Begabung im Geschichtenerzählen eindrucksvoll unter Beweis. Er zeigt uns die Vorstellungswelt eines kindlichen Sonderlings, den schon früh die Einsicht, „dass nichts von Dauer war“, alles Kindgemäßen entraten lässt, ohne bereits in den Kreis der Erwachsenen – als Wissenschaftspreisträger – aufgenommen zu sein.

Seine geschärfte Wahrnehmung alles Gleichzeitigen bedeutet für die Welt, in der er lebt, einen erheblichen Komplexitätsgewinn und versetzt ihn wie uns Leser immer wieder aufs Neue in Erstaunen. Ob es das Mienenspiel des Vaters zwischen Missmut und Gleichgültigkeit ist, dessen Nuancen T.S. dank seiner Illustrationen zu unterscheiden lernt, oder das Diagramm vom vieltönigen Brausen einer vorbeiziehenden Eisenbahn oder gar eine „Systematik der Langeweile“, die es ihm erlaubt, den Gemütszustand seiner launischen Schwester dem Gebaren nach taxonomisch einzuordnen, – all diese Zeichnungen eröffnen seiner Phantasie weite Spielräume vermöge der Einsicht, „dass eine Darstellung nicht das Dargestellte selbst ist“.

Der Roman liest sich wie die Anleitung, eine bereits entdeckte, geografisch längst vermessene Welt neu zu entdecken. In alter Hobo-Tradition macht sich der kindliche Held eines Morgens mit dem Sprung auf einen Güterzug der Union Pacific auf die Reise nach Washington D.C. Die von Taxis und schwarzen Limousinen dominierte Großstadt durchstreift er auf einem gefundenen Fahrrad, um sich nach langer Irrfahrt nur wenige Blocks weiter auf einem verlassenen, märchenhaft entrückten Parkplatz wiederzufinden. In der Absicht, sich den schließlich immer zudringlicheren Blicken der Erwachsenenwelt zu entziehen, entschwindet er durch die Gänge eines unterirdischen Tunnelsystems, das seit der Bürgerkriegszeit weite Teile der Stadt durchzieht und inzwischen längst in Vergessenheit geraten ist. Mit einiger Befriedigung bemerkt der Weitgereiste am Ende seiner Aventiure: „Der Weg, den wir gingen, stand auf keiner Landkarte.“ Mit diesem Ausklang nimmt der Autor eine Anspielung auf Herman Melvilles „Moby Dick“ wieder auf, die dem Roman als Motto vorangestellt war und reiht sich zugleich in eine Tradition literarischer Reflexion von Karten ein.

Zweifellos ist Reif Larsen mit seinem Roman auf der Suche nach einer neuen Erzählform, deren zentrale Bestandteile Randbemerkungen, Karten und Illustrationen sind. Leider bleiben diese erzählerischen Nebenwege, die scheinbar auch erst nach der Abfassung des Hauptstranges ergänzt wurden, oft Sackgassen, die nicht wieder in den weiteren Erzählverlauf eingeflochten werden. Die Lektüre läuft daher oft ins Leere und lässt die Frage nach dem Zweck der für sich genommen durchaus liebevollen Illustrationen und Randglossen aufscheinen. Die schiere Demonstration origineller Einfälle kann über die Distanz eines immerhin reichlich vierhundertseitigen Romans auch ein wenig ermüden. Hätte sich der Autor mit mehr Konsequenz für seine erzählerischen Schleichwege entschieden, so wäre vielleicht ein Roman entstanden, dessen Lektüre als tatsächliche Fährtensuche die Vorstellungskraft des Lesers noch mehr gefordert hätte. Nicht ganz so opulent bebildert hätte der Roman vielleicht mehr Wirkung getan, denn der weiße Raum zwischen den Zeilen ist der Ort, an dem die Phantasie des Lesers spielt.

Dass Larsens Rechnung durchaus aufgehen kann – was sie im Großen und Ganzen auch tut – zeigen einige gelungene Episoden, wie jene, in der T.S. der langatmigen Rede des Direktors vom washingtoner naturwissenschaftlichen Institut lauscht und dabei ein Diagramm zeichnet, in dem er neben den Worten des Vortragenden die teils gelangweilten, teils zustimmenden Gesten eines der Gäste nebst jeweils dem „Grad meines Interesses“ festhält. Die Ironie liegt in der Form der Darstellung des Gleichzeitigen, und der Autor tut gut daran, statt eines Kommentars in den Worten seiner Figur lakonisch hinzu zu setzen: „Nach einer Minute dieser Rede hätte ich gern versucht, ein schlaffes Karottenstäbchen in mein Weinglas zu schnippen.“

Das große Lesevergnügen, das dieser Roman bereitet, verdankt sich nicht zuletzt der Arbeit Manfred Alliés und Gabriele Kempf-Alliés, die mit ihrer Übertragung aus dem Amerikanischen dem Ich-Erzähler ihre Stimme liehen. Die Sprache ist dem Vokabular des kindlichen Helden durchaus angemessen und klingt dennoch nirgends nach ,Kindermund‘. Der Roman, im Original mit „The Selected Works of T.S. Spivet“ betitelt, ist inzwischen in 30 Länder verkauft und nun auch in Deutschland erschienen.

Titelbild

Reif Larsen: Die Karte meiner Träume. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
435 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783100448118

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