Wesentlicher Fingerzeig

Katharina Bahlmann untersucht, ob Kunstwerke ein „Antlitz haben“ können

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1993 veröffentlichte der amerikanische Ideenhistoriker Martin Jay eine umfängliche Studie über die Dialektik des Sehens respektive Nicht-Sehens. Einzelne Kapitel von „Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth Century French Thought“ erschienen bereits seit 1986; das ganze Werk inszenierte dann das Thema als einen „clash of intellectual cultures“ zwischen griechisch-christlicher und jüdischer Perspektive. Es endete mit einer Darstellung von Lyotards Lektüre von Emanuel Levinas, dem talmudischen Philosophen aus dem litauischen Kaunas.

Lyotard, der Denker der Postmoderne und der Idee des Erhabenen, habe im Sinne von Levinas und der jüdischen Tradition das visuelle Vollbild als Maßeinheit intellektueller Heuristik strikt abgelehnt. Nicht das Auge, sondern das Ohr, nicht das Bild, sondern die Stimme seien erkenntnisleitend, was Jay wiederum mit der externen Kritik am jüdisch-patriarchalen Phonozentrismus, an der Unterdrückung des Weiblichen und vor allem eben des sichtbaren Bildes korrelierte. Aber kann man bei Levinas wirklich von Visualitätsabwehr sprechen, wenn einer seiner zentralen Begriffe, „La Face“ heißt? Auch wenn er den Begriff paradox verwendet, indem er gerade kein physisches, sondern ein metaphysisches Ereignis damit intendiert, bleibt doch eine visuelle Basiserfahrung bestehen. Auch Lyotard negiert, Jay zufolge, die (Über-)Sichtlichkeit der Welt auf paradoxe Weise; seine legendäre Kunstausstellung im Centre Pompidou von 1985 „Les Immatériaux“ dürfte Martin Jay zu seiner großen Studie angeregt haben.

Levinas als Theoretiker des Bilderverbots, Lyotard als sein Adept: an dieser Stelle greift Katharina Bahlmann mit ihrer Dissertation „Können Kunstwerke ein Antlitz haben?“ ein, um nötige Klärung zu schaffen. Jay erwähnt sie nicht. Sie sieht vielmehr Lyotard und Levinas als Brüder im Geiste der Phänomenologie und zitiert weit zurückliegende Arbeiten von beiden aus den 1930er- und 1950er-Jahren. Von „Antlitz“ war damals freilich noch keine Rede – geschweige denn vom „Antlitz des Kunstwerks“.

Mit einem Kunstgriff etabliert Bahlmann dennoch ihr Thema, indem sie das Werk des jüdischen Künstlers Barnett Newman aufruft, dem Lyotard einen mystischen Aufsatz gewidmet hat. Was immer Katharina Bahlmann über das Erhabene im Kunstwerk, über dessen postmoderne Wahrnehmung durch Lyotard und schließlich die Verwandtschaft dieser Kategorie mit Levinas’ ethischer Metaphysik des Antlitzes herausarbeitet, müssen die Philosophen unter Bahlmanns Lesern beurteilen. Man kann das Buch aber auch mit Gewinn als Bildhistoriker lesen.

Denn seit Anfang der 1990er-Jahre steht seine Titelfrage im Raum; sei es bei Georges Didi-Huberman („Ce que nous voyons, ce qui nous regarde“, 1990) oder bei T.W. Mitchell („What do pictures want“?, zuerst als Vortrag 1996, zuletzt als Buch 2006) und in gewisser Verwandtschaft auch bei Lorraine Daston („Things That Talk“, 2007).

Können unbelebte, unbeseelte Dinge „Antlitze haben“? Sie können, wenn man „Antlitz“ entsprechend definiert – und hier bietet sich Levinas’ Metaphysik wirklich an. Denn gerade nicht eine anthropomorphe Dialogik, keine symmetrische Korrespondenz, ist bei ihm angelegt, sondern eine asymmetrische Ethik des Nackten, des Verletzlichen, des Respekts und der Anerkennung. Der Kurzschluss zwischen Lyotards Idee des Erhabenen und dieser Antlitzphilosophie hat viel für sich; ob man Barnett Newman als missing link nutzen kann, ohne dem Menschenantlitz Unrecht zu tun, sei wiederum den Kunsthistorikern überantwortet. Andererseits könnte man, ohne Levinas falsch zu lesen, doch auch auf die enorme Vorgeschichte seiner Antlitz-Idee verweisen. Christoph von Wolzogen hat den Gedanken zwar vehement abgewiesen (Philosophische Rundschau 42, 1995), aber schadet es wirklich, wenn man weiß, dass Levinas den 1929 erschienenen Bestseller von Max Picard „Das Menschengesicht“ ausdrücklich besprochen, und mit dem Autor Briefe gewechselt hat?

Picard fand sich in der Weimarer Republik mitten in einer Hoch-Zeit physiognomischer Philosopheme, einem regelrechten Gesichtsdiskurs in Ästhetik, Literatur, Psychologie, Biologie und Medizin. Spätestens seit und mit Rilke, George, Kassner, dann nach 1918 vor allem mit und von Spengler, Kretschmer, Sedlmayr, Fraenger und vielen andern wurde eine Heuristik entwickelt, die der anschwellenden Lichtbildporträtkunst in Fotografie und Film, aber auch der Gesichtsentstellungen im Weltkrieg gerecht zu werden versuchte. Béla Balász, der Kinotheoretiker und Walter Benjamin waren maßgeblich beteiligt, und Max Picard, der konvertierte Psychologe und Kunsthistoriker, war eine der Zentralfiguren. Als er merken musste, dass die Physiognomik als Wahrnehmungsethik rassistisch entgleiste, schrieb er sein Buch über die „Grenzen der Physiognomik“ – 1937, also viel zu spät.

Nicht nur der deutsche Diskurs, auch der französische, unauflöslich mit Marcel Proust verbunden, hat das Gesicht und eine hoch philosophische Gesichtslesekunst etabliert, zu schweigen von der Gesichtsleidenschaft aller russischen Autoren, mit denen Levinas in seinem Elternhaus (der Vater war Buchhändler) aufwuchs. Die vollkommen eigenständige Position, die Levinas in dieser Ideengeschichte einnimmt, muss noch geschrieben werden. Katharina Bahlmann hat einen wesentlichen Fingerzeig gegeben.

Titelbild

Katharina Bahlmann: Können Kunstwerke ein Antlitz haben?
Passagen Verlag, Wien 2008.
160 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783851658309

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