Nachtschwärmer

Über Paul Brodowskys Erzählband „Die blinde Fotografin“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Fotografin erblindet. Ihr Freund versucht, sie im Leben zu halten, indem er ihr das Sehvermögen ersetzt. Er beschreibt ihr das Aussehen japanischer Nudelsuppen, die rätselhaften Zeichen an den Wänden der U-Bahn-Stationen und die Augenfarbe einer Stripperin. In Paul Brodowskys Erzählung „Aufnahme“ verwandelt sich der Ich-Erzähler aus Liebe selbst in einen Fotoapparat. Ganz neu ist dieses Motiv nicht: Schon Irmgard Keun schickte ihr kunstseidenes Mädchen durch das Berlin der 1920er-Jahre, um einem Kriegsblinden vom pulsierenden Großstadtleben berichten zu können.

Bei Brodowsky hetzt der Protagonist durch New York, mit weit aufgerissenen Augen. Versucht das Verlangen der Fotografin nach äußerster Präzision zu befriedigen. „Also nochmal, sagte sie in dem Taxi, als wir die lange Straße am Park entlangfuhren, was siehst du jetzt, fragte sie, Hochhäuser sagte ich, hohe Wohnhäuser, sagte ich, so kann ich mir nichts vorstellen, sagte sie, hier neben uns zum Beispiel drei Sandsteintürme, genau baugleich, sagte ich, hinter einigen Fenstern brennt noch Licht, schwach gelbes Glühlicht, […] gut, sagte sie, geht doch.“

Es ist ein atemloser Erzählsog, in den Brodowsky den Leser zieht. „no time for consciousness“ lautet das Motto der Geschichte. Allein die Verschleifung von Redewiedergabe und Erzählerbericht zu einem absatzlosen Fließtext verleiht dieser Prosa etwas Fieberhaftes. Wie eine Handkamera springt der nervöse Blick des Erzählers hin und her, saugt sich an beliebigen Details fest. Nur nicht zur Ruhe kommen, nur nicht innehalten. Nur nicht auf das schauen, was bereits geschehen ist und auf das hin der Bericht unweigerlich zusteuert: dem letzten Bild der Fotografin.

Paul Brodowsky, 1980 in Kiel geboren, gehört zu den vielversprechendsten Vertretern der jungen deutschen Literatur. Für sein avanciertes Schreibprogramm scheint gerade die kurze Form prädestiniert zu sein. Dazu gehört der Verzicht auf psychologische Erklärungen oder chronologische Darstellung. Seine Figuren sind nur mit einer minimalen Vita versehen. Es sind Großstadtnomaden, die an die Nachtschwärmer in den Bildern Edward Hoppers erinnern. Sie treffen aufeinander, auf Partys, in U-Bahnen, in Cafés, ziehen für kurze Zeit gemeinsam weiter und verlieren sich wieder.

Einige seiner Texte umfassen nur einen Moment, einen existenziellen Augenblick, in dem die Beziehung auf der Kippe steht. Für die Figuren unter Entscheidungszwang dehnt sich die Gegenwart ins Unendliche. In der Erzählung „Im Flur“ steht der Protagonist nur da und lauscht dem verräterischen Klingeln des Telefons seiner Freundin. In diesen wenigen Sekunden erscheinen die letzten gemeinsamen Stunden in neuem, abgründigem Licht. „Guten Morgen, alles in Ordnung, fragte sie, als sie in einem Bademantel aus dem Bad kam und mich verschwörerisch anlächelte. Ich gehe mal Croissants holen, sagte sie, und die Milch ist auch alle, ich fahre also noch rasch zum Bahnhof, nicht wundern, wenn es einen Moment dauert, sagte sie, du kannst ja schon mal Kaffee machen. Gestern Nacht nach dem Konzert, daran muss ich jetzt denken, während das Telefon klingelt und ich zwischen dem Klingeln höre, wie in der Küche einzelne Tropfen Kondenswasser aus dem Boiler auf der Spüle auftreffen, gestern Nacht war Irina in einer Stimmung, die ich so noch nie an ihr erlebt hatte, und ich frage mich, ob gestern lediglich ein bislang verborgener Charakterzug zum Vorschein gekommen ist, oder ob es noch andere, mir bislang unklare Gründe für ihr Verhalten gibt.“

Hektisch gleiten die von Eifersucht und Paranoia bedrohten Figuren über die Oberflächen der Dinge. Versuchen mit allen Sinnen, wieder Sicherheit zu gewinnen. Auffallend häufig verletzen sie sich; beißen dem anderen in die Schulter oder ritzen sich mit Rasierklingen oder Teppichmessern die Haut auf. Durchstoßen die Körpergrenze, um sich oder den anderen einmal wirklich zu berühren. In „Judith“, der Geschichte einer obsessiven Liebe, läuft ein Mann ruhelos durch die Stadt, fühlt sich verfolgt und sieht vor seinem geistigen Auge die ins Gedächtnis eingebrannten Schnappschüsse seiner Beziehung. Erst allmählich wird deutlich, dass er ein Stalker ist, der sogar nachts bei seinem Opfer einbricht. „Die Luft ist warm. Judith liegt neben ihm, halb abgedeckt, er versucht, sie nicht anzuschauen. Er schließt die Augen und sofort sieht er Judith, wie sie mit ihren Händen ihre Brüste umfasst, sie schaut an seinem Kopf vorbei, er bemüht sich, ihre Augen zu erkennen, sie sind seltsam farblos, wie auf einem Schwarz-weiß-Foto, sie bewegt sich nicht, sie lächelt. Als er die Augen öffnet, liegt sie noch immer neben ihm. Sie liegt auf dem Rücken, ihr Mund ist offen, ihre Lider sind geschlossen, eine Hand neben dem Kopf, zur Faust geballt. Sie schläft, und immer noch hat sie Angst, denkt er. Plötzlich umfasst er ihren Hals. Sie hat grüne Augen.“

Für Paul Brodowsky ist Schreiben, wie er sagt, „das Zueinanderstellen von Einzelmomenten. Das Ordnen der blätternden Schichten der Welt“. Dazu arbeitet er mit schnellen Schnitten, wechselt selbst innerhalb eines Satzes Perspektiven oder Sprecher. In „Nachtstück“ werden zwei Handlungsstränge so miteinander verschränkt, dass der Eindruck eines Split-Screens, eines geteilten Bildschirms, entsteht und der Leser quasi Satz für Satz hin und her zappen muss: zwischen Gregor, der durch Hongkong irrt und von einer dunklen Limousine verfolgt wird, und seiner Freundin Nora, die ihn zur gleichen Zeit mit einem Fotografen betrügt. Oder ist letzteres nur eine Eifersuchtsfantasie? Nach der Lektüre ist nur eines sicher: Von diesem Autor wird noch zu hören sein.

Titelbild

Paul Brodowsky: Die blinde Fotografin.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
132 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783518418741

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