Eine offene Beziehung um 1800

Hazel Rosenstrauchs Biografie zu Caroline und Wilhelm von Humboldt

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Hazel Rosenstrauchs Doppelbiografie des Ehepaares Caroline von Humboldt geborene Dacheröden und Wilhelm von Humboldt begleitet der Leser die einfühlsame Darstellung von zwei auf das engste miteinander verzahnten Lebensläufen. Rosenstrauch ist es gelungen, die vor allem geistigen Verbindungen zwischen Caroline und Wilhelm herauszuarbeiten und die Grundlagen von deren langjähriger und ebenbürtiger Beziehung dem Leser zu vermitteln. Ohne dabei die brisanten biografischen Details zu vernachlässigen, die sich vor allem auf die außerehelichen Beziehungen der beiden Ehepartner beziehen, schafft sie ein ausgewogenes Bild, das auch die bisher in den Biografien ausgeklammerten Details berücksichtigt.

Rosenstrauch wählt eine moderne, sich von den Interpretationen der vorhergehenden Biografen lösende Betrachtungsweise , die wohl am ehesten auch der Perspektive der Humboldts entsprochen haben mag. Die Autorin lässt „das nicht immer nur harmonisch tändelnde Paar viel erzählen von seinem Umgang mit einer Welt im Umbruch, von den Konflikten zwischen Wirken und Selbstverwirklichung.“ Dass dabei unversehens auch ein Epochengemälde entsteht, nicht zu letzt durch Wilhelms diplomatische Tätigkeit, ist nicht weiter verwunderlich. „Das Paar ist vierzig Jahre beisammengeblieben – wobei das ‚beisammen‘ einschloß, daß Caroline und Wilhelm oft eine Fernehe führten, abwechselnd zwischen Berlin, Paris, Rom, Jena, Erfurt, Burgörner (einem der Güter der Dacheröden) oder London“. Es wird ein Gesellschaftsbild entworfen, das sich der Perspektive der Humboldts bedient und weitgehend darauf verzichtet, die von vielen Biografen den Humboldts „übergezogenen“ Perspektiven zu reproduzieren. „In der Korrespondenz der beiden spielen Liebe und Klatsch eine ebenso wichtige Rolle wie die Frage, ob Denken oder Tat, das Schöne oder das Nützliche, die Vervollkommnung als Mensch oder die Aktivitäten fürs Vaterland Vorrang haben sollten.“

Ein besonderer Verdienst dieser Biografie liegt in der Charakterisierung von Wilhelm von Humboldts Persönlichkeitsentwicklung in Wechselwirkung mit dem Lebensweg seiner Frau. Auch die Darstellung der Zeiten, in denen sich das Paar von den öffentlichen „Geschäften“ zurückzog, fügen sich logisch in die persönlichen Biografien ein – vor allem auch in der Artikulation der Brüche und Verwerfungen in Wilhelms Biografie: „Es könnte ja sein, daß bereits Humboldt erkannte, wie leicht ein Wirken in der Welt ohne die Arbeit am ich mißlingt – oder in seinen Worten: daß die Festigung des Charakters davor schützt, sich im Treiben der Welt zu verlieren.“

Dabei wird die Beziehung zu Caroline nie außer acht gelassen: „Die zivilisierende Kraft, die entwickelte Völker von primitiven unterscheide, ist – nach Ansicht der neuen kulturellen Elite, die Geschmack und Moral definiert – die Liebe.“ Wobei man bei der Beschreibung der „Liebe“ als entwicklungsgeschichtlicher Kraft die „erweiterte“ Begrifflichkeit Wilhelms berücksichtigen muss, die vor allem seinen Biografen im 19. und 20. Jahrhundert nicht gefiel: „Er hat sich in Gedichten und Briefen recht freimütig über seine Sinnenlust geäußert und offenbar das Bedürfnis gehabt, neben der Heiligen auch Frauen zu lieben, die sich ihm unterwerfen. Erst seinem Biographen waren solche Äußerungen peinlich.“ Und: „Humboldts Biographen rätseln, welche abartigen Neigungen in seinen Versen stecken, wie sich das Geniale mit dem Zwanghaften, der Humanismus mit Sadismus vereinbaren läßt.“ Weitere Aufschlüsse gibt eine in die Biografie integrierte Edition von Wilhelms „Bruchstück[s] einer Selbstbiographie“.

Rosenstrauch lässt erfreulicherweise auch Carolines latenten Antisemitismus nicht wegfallen, und verzichtet auch nicht auf die Einordnung in den zeitgeschichtlichen Kontext: „Die deutsch-patriotische Allergie gegen Juden, die christlich-deutsche Tischgesellschaft und die Mythisierung des Mittelalters gehören zur Vorgeschichte eines nationalen wie auch eines christlichen Antisemitismus, der die Ermordung der Juden und das Wegsehen ihrer Nachbarn legitimiert hat. Inzwischen wird diese Zeit um 1800 gerne zur deutsch-jüdischen Symbiose verklärt.“

Ob dabei die These von der „Verklärung“ sich aus wissenschaftlicher Sicht halten lässt, ist allerdings so nicht ganz nachvollziehbar, nimmt man etwa die Texte zur „Tischgesellschaft“ zur Hand, die gerade in der historisch-kritischen Ausgabe der Werke und Briefwechsel von Ludwig Achim von Arnim als elfter Band erschienen sind. Carolines Nähe zu den Mitgliedern der Tischgesellschaft wird das ihrige getan haben um ihren Furor zu befördern. Dass Wilhelm diese Seite seiner Frau nicht schätzte und kritisierte, bleibt nicht verborgen.

Rosenstrauchs sensible Integration der Lebensläufe beider Ehepartner schafft mehr als nur eine rundum gelungene, auf die hergebrachten Klischees und Vorurteile verzichtende, unterhaltsame Doppelbiografie über ein Ehepaar in Zeiten, da die europäische Welt neu geordnet wird. Gäbe es an dieser Stelle eine Bewertungsskala von zehn Punkten für ein qualitativ kaum zu übertreffendes Buch, würde der Band diese zehn Punkte sicherlich erhalten.

Titelbild

Hazel Rosenstrauch: Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
336 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783821862071

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch