Fast ein kleines Wunder

Über Philippe Claudels Roman „Brodecks Bericht“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Philippe Claudel ist in seiner Heimat einer der wichtigen Autoren der jüngeren Generation, dessen Bücher regelmäßig zu Bestsellern und mit wichtigen Preisen ausgezeichnet werden. Sein aktueller Roman „Brodecks Bericht“ erhielt den ‚Prix Goncourt des Lycéens‘ und wurde von den französischen Buchhändlern zu deren Lieblingsbuch gekürt.

Ein weiterer großer Erfolg nach „Die grauen Seelen“, mit dem Claudel in Frankreich eine echte Sensation gelang. Auch das neue Buch hat wieder ein Gewaltverbrechen zum Thema, wieder gibt es die schweigende Mehrheit, die der Aufklärung im Weg steht. Philippe Claudel scheint ein Konzept zu haben, das er auf höchst intensive Weise immer wieder variiert und das ihm immer neue Geschichten abringt.

„Brodecks Bericht“ spielt in einer nicht genau eingrenzbaren Zeit und an Orten, die nicht näher benannt sind. Der Autor vermeidet dadurch eindeutige und vorschnelle Zuweisungen, will den Leser nicht auf eventuell vorhandene Assoziationen bringen, die eine freie Lektüre und ein unbelastetes Nachdenken behindern würden. Und Claudel verdeutlicht mit diesem Trick, dass die in seinem Roman geschilderten Vorkommnisse universell sind, überall geschehen können, weil überall der Mensch ist. Brodeck, die Hauptfigur des Buches, ist eine mehrfach traumatisierte Person, ein Mann, der alle Schrecken erlebt, grenzenlose Angst durchlitten, Hunger und Grausamkeiten überstanden hat. Als Junge wurde er mit seiner Amme vertrieben, sie kamen in ein Dorf, das die beiden aufnahm, ihm sogar eine gehobene Bildung in der größeren Stadt ermöglichte, von wo er in ein Lager deportiert wurde. Noch in der Stadt hat er sich in Emélia verliebt, die Frau, die ihn in den schlimmsten Situationen am Leben bleiben ließ und zu der er zurückkehren wollte. Er hat überlebt und er ist zu Emélia zurückgekehrt. Sie leben, gemeinsam mit der alten Amme Fédorine und dem Töchterchen Poupchette, wieder in dem Dorf.

Brodeck ist Angestellter einer Behörde in der Stadt S., an die er Berichte über die Landschaft, die Natur, die Bäume und Tiere schickt. Diese Tätigkeit und seine Vergangenheit bescheren ihm einen zweifelhaften Auftrag: er soll einen Bericht über ein furchtbares Geschehen im Dorf verfassen. Eines Tages kam ein sonderbar wirkender Mann mit Pferd und Esel und bezog ein Zimmer im Gasthaus. Dieser Mann, den alle nur „Der Andere“ nannten und dessen Name im Buch nicht genannt wird, scheint ein wie auch immer geartetes Interesse an dem Dorf, seinen Menschen, seiner Geschichte zu haben. Seine Kleidung, der Umgang mit seinen Tieren, seine Gewohnheiten tragen dazu bei, dass um ihn schnell eine Aura des Besonderen entsteht. Dieser Mann, dem die Kinder anfangs neugierig und ehrfürchtig nachgehen, ihn jedoch später mit Steinen bewerfen, stellt in den Augen der Mehrheit des Dorfes eine Gefahr dar, weswegen sie ihn auffordern zu gehen. Da er diese Hinweise nicht erkennt oder ihnen nicht nachgibt, kommt es eines Tages zu eben jenem furchtbaren Geschehen. Die Männer des Dorfes schlagen ihn tot. Brodeck, der nicht dabei war, soll nun alles dokumentieren, wohl gemerkt im Sinne des Dorfes. Und also macht er sich an diese schreckliche Arbeit. Wovon jedoch das Dorf und auch seine Familie nichts ahnt, ist, dass Brodeck schon seit geraumer Zeit an einem anderen Bericht, seinem Bericht arbeitet. Und dieser beinhaltet sein Leben, all die Gräueltaten, denen auch seine seitdem nur noch singende und summende Frau Emélia zum Opfer fiel.

Philippe Claudel erzählt in „Brodecks Bericht“ so viele Geschichten, erfindet so viele Situationen, dass man sich nur wundern kann, wie konzentriert und sicher er diesen Stoff auf 332 Seiten bewältigt hat. Dabei wirkt dieses beklemmende und düstere Buch gar nicht konstruiert, vielmehr verschränkt der Autor Erzählzeiten und Handlungsebenen so geschickt, dass man bei der konzentrierten, aber nie langweiligen Lektüre immer in Aufregung bleibt. Großartig auch sein Umgang mit Namen und Eigennamen. So bezeichnet er die Besatzer als „Fratergekeime“, eine dunkle Stelle in seiner Seele, als Folge der Lagerhaft, als „Kazerskwir“. Die Männer im Dorf tragen Namen wie Orschwir, Heidkirch, Göbbler (man mag da als deutschsprachiger Leser schon gewisse klangliche Verbindungen zur deutschen Geschichte herstellen). Claudel skizziert kurze Biografien, die den jeweiligen Personen Eigennamen wie „Zungfrost“ und „Keinauge“ verleihen. Eigenartig ist in diesem Zusammenhang, dass Brodecks Familienmitglieder relativ schemenhaft bleiben, die alte Fédorine auf Hausarbeit, Emélia auf Singen und Schlafen und die kleine Poupchette auf Spielen und Schlafen reduziert werden. „Brodecks Bericht“ ist fast ein kleines Wunder, denn dieses so flüssig lesbare Buch erzählt in aller Klarheit von heftigsten moralischen Verfehlungen, Krieg, Lager und Vertreibung, von großem und größtem menschlichem Leid und zugleich von Liebe und Hoffnung. Es ist ein Roman, der in seiner Wucht und in seiner sprachlichen und formalen Gestalt an Georg Kleins „Libidissi“ und an Antoine Volodines „Alto Solo“ erinnert. Er sollte viele Leser erreichen.

Titelbild

Philippe Claudel: Brodecks Bericht. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christiane Seiler.
Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
331 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783463405551

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