Befremdender Rückfall in vormoderne Zeiten

Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ verfehlt ihr Thema auf der ganzen Linie

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist der Begriff des Westens mehr als nur eine propagandistische Projektionsfläche für seine vermeintlichen Gegner, die darin, angefangen von Thomas Mann „Betrachtungen eines Unpolitischen“ bis hin zu den heutigen Dschihadisten all das sehen wollen, was nicht mit ihren politischen Überzeugungen in Einklang zu bringen war und ist? Ist der Westen nicht nur ein Kampfbegriff, mit dem sich so trefflich die eigenen Reihen schließen lassen? Kann er also vielleicht doch historiografisch und schlussendlich auch als politisch-kulturelle Größe beschrieben werden?

Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler hat den achtenswerten Versuch unternommen, auf zunächst 1200 gewichtigen Seiten eine Geschichte des Westens zu schreiben, die den Leser von der Antike bis immerhin zum Epochenjahr 1914 durch eine unübersehbare Fülle von Stoff führt und damit auch zu erklären verspricht, was tatsächlich aus wissenschaftlicher Sicht das Eigentümliche und Substantielle dieser immer wieder beschworenen Größe sei.

Angesichts der aktuellen politischen Verwerfungen und der immer deutlichere Konturen aufweisenden ‚islamischen Unterwanderungen‘ seines europäischen Kerngebietes wäre eine solide und historisch begründete Selbstvergewisserung, was denn nun eigentlich der so genannte Westen sei, wo seine Akzidenzien liegen und sein nicht verhandelbarer Kern beginnt, zweifellos ungemein hilfreich und dringend geboten.

Tatsächlich aber leistet Winklers Buch genau dies nicht. Zwar nennt der Autor schon recht früh einige Besonderheiten des Westens, die sich so nicht in anderen Kulturkreisen finden lassen. Die Universitäten und das römische Recht wären hier aufzuzählen, nicht zuletzt aber auch der Monotheismus in seiner für Westeuropa typischen dualistischen Organisationsform zwischen Kaisertum und Kurie. Überhaupt ist für Winkler die Trennung zwischen geistlicher und politischer Gewalt der glückhafte Beginn einer sich immer mehr verzweigenden Pluralisierung, die den Weg zu den heute in der westlichen Staatengemeinschaft vorherrschenden demokratischen und föderalen Strukturen eröffnet hat. Von diesem Prozess verabschiedeten sich allerdings schon früh Byzanz, Russland und teilweise auch ein von der Reformation bestimmtes Deutschland. Eher noch mehr als der Islam war der östliche Cäsaropapismus, der politische und geistige Macht in einer Hand konzentrierte, der Gegenentwurf zum lateinischen Christentum.

Das alles wäre ein spannender Anfang gewesen, wenn Winkler diese analytische Position durchgehalten hätte. Doch zur Überraschung wohl seiner meisten Leser zeichnet der renommierte Historiker auf den folgenden Hunderten von Seiten im klassischen Erzählstil ein weitgestecktes und lineares Panorama der europäischen Geschichte von den monotheistischen Anfängen in Ägypten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dabei überwiegt ganz im historisierenden Stil des 19. Jahrhunderts die große Geschichte: Mächte, Diplomatie und Kriege. Dazwischen tauchen Versatzstücke der Ideengeschichte auf: Machiavelli, Hobbes, Locke, Rousseau und Toqueville, manchmal auch weniger prominente politische Denker wie der Brite Bolingbroke, ein Zeitgenosse Voltaires und führender Tory-Politiker unter Königin Anna.

Auf welche Forschungen sich Winkler hierbei beruft oder ob er sich vielleicht gar nur auf eigene Analysen stützt, bleibt ebenso unklar wie ihr unmittelbarer Zusammenhang zur Ausgangsthematik. Immerhin lassen sich Hobbes und Rousseau mit ihren totalitären Staats- und Gesellschaftsvorstellungen nicht unbedingt als ideologische Kronzeugen des Westens benennen. Oder war dieser doch vielschichtiger, ja ambivalenter, als ursprünglich angenommen? Winkler geht darauf leider nicht weiter ein und beharrt fast schon normativ auf einer Triade von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus als dem Kern des westlichen Modells. Bolschewismus, Faschismus und der gesamte linke revolutionäre Anarchismus des frühen 20. Jahrhunderts werden somit zu seinen gewalttätigen Abweichungen ebenso wie der von Winkler scharf kritisierte Rassismus.

Überhaupt kommen die Kritiker des Westens auf Winklers opulentem Zug durch die Jahrhunderte fast gar nicht zu Wort. Zwar wird die Geschichte Russlands einbezogen und auch der Widerstand der dort vorherrschenden traditionellen Kräfte seit Zar Peter I. an westlichen Einflüssen findet sporadisch Erwähnung, ohne dass jedoch Winkler an dieser und vielen anderen Stellen die mögliche äußere Perspektive gegenüber dem Westen einnimmt. Elf dürftige Seiten widmen sich dem Thema ‚Asien und der Westen‘ und enthalten doch nur die notwendigsten Informationen über die Sepoy- und Taipingaufstände in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Gänzlich ungeklärt bleibt also, was man wo und zu welchen Phasen überhaupt als Westen begriffen hat. So bleibt sein Projekt einer Geschichte des Westens seltsam unhistorisch, zumal Winkler auch wirtschaftliche und kulturhistorische Aspekte in seiner Darstellung kaum berührt.

Warum griffen überhaupt westeuropäische Gesellschaften technologische Errungenschaften, die anderswo schon seit Jahrhunderten bekannt waren, so energisch auf und wurden auf diese Weise schließlich zu unbestrittenen Beherrschern der Welt, lange ehe Menschenrechte und Parlamentarismus auf der politischen Bühne erschienen? Welche besonderen Umstände führten denn eigentlich dazu, dass sich die von Winkler immerhin erwähnte Alphabetisierungsquote in Europa schon im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts so deutlich erhöhte? Gab es einen Wandel der Mentalitäten, wie ihn etwa David Landes in seien vergleichbaren Studien (Wohlstand und Armut der Nationen) beschreibt? Was ist mit dem von Max Weber initiierten Projekt des okzidentalen Rationalismus?

Die neueren Forschungen dazu haben nirgendwo in Winklers Werk Eingang gefunden und die industrielle Revolution wird tatsächlich auf ganzen fünf Seiten abgehandelt. Wie verhielt es sich denn mit der militärischen Revolution im Westen, die ihren Ausgang in den Niederlanden nahm und die europäischen Mächte mit neuen und schlagkräftigen Armeen versah? Wem schließlich die Frage nach den Ursprüngen der militärischen Überlegenheit des Westens Unbehagen bereitet, wird sich dann vielleicht eher wundern, weshalb auch kaum ein Wort über die Entstehung des europäischen Wissenschaftsmodells mit seiner empirischen Theoriebildung und seinen Forschergemeinschaften fällt. Haben denn alle diese Sektoren für die Entstehung des Westens keine Rolle gespielt? Kann eine Geschichte des Westens dies alles tatsächlich unter den Tisch fallen lassen? Als Rezensent reibt man sich die Augen.

Am Ende muss daher mit aller Deutlichkeit die Frage nach dem Cui bono? gestellt werden. Wer soll überhaupt Winklers endlose und einseitige Betrachtungen im klassischen Stil eines Leopold von Ranke mit Gewinn lesen? Den historischen Laien werden sie bald ermüden, den Fachmann aber erst gar nicht interessieren. Er findet Besseres und vor allem Genaueres in einer unübersehbaren Fülle von Spezialuntersuchungen, die Winkler oft gar nicht einmal berücksichtigt. Sein Projekt einer Geschichte des Westens hätte nur als eine kompakte und stringente Analyse Beachtung verdient. Als konventionelle Nacherzählung der politischen Geschichte eines um Nordamerika erweiterten Europas muss Winklers praktisch im Alleingang unternommene Tour d’Horizon sogar als ein befremdender Rückfall in jene vormoderne Zeiten angesehen werden, als es noch keine Scientific Community mit ihren Schulen und Forschungsprogrammen gab.

Titelbild

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen der Antike bis zum 20. Jahrhundert.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
1343 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783406592355

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