Auf dem Weg in die vierte Phase – Julia Reuter und Paula-Irene Villa haben einen Band über „Postkoloniale Soziologie“ herausgegeben und bieten darin „Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Interventionen“

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„Dass Frauen und Männer unterschiedlich denken und fühlen, ist doch klar!“ Tatsächlich sind solche markigen Sprüche, oftmals auch in kalauernder Form vorgetragen, immer noch nicht diskreditiert, sondern schlicht der Mainstream kultureller Hierarchiebildungen. Ist doch klar: Männer sind eher praktisch veranlagt, können logisch denken und machen gerne Outdoor-Urlaub, während Frauen immer nur Shoppen gehen beziehungsweise Kinder kriegen wollen, wobei sie lustigerweise nicht einmal einparken können.

Diejenigen, die so reden, glauben, selbstverständlich die „Wahrheit“ zu sprechen, und reagieren buchstäblich „befremdet“, wenn man ihre selbstgewissen Postulate einmal in Frage stellt. Gerne wird dann von ihnen die Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich der ungebetene Kritiker einfach weigere, fundamentale Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Existenz zur Kenntnis zu nehmen.

Solchen selbstbewussten Ideologen des Alltags ist meistens überhaupt nicht klar, dass gerade sie es sind, die nicht nur diskriminierende geschlechtliche Stereotypen festschreiben, sondern auch widersinnige interkulturelle Essentialisierungen – denn sexistische und rassistische Zuschreibungen funktionieren erfahrungsgemäß sehr ähnlich und bedingen einander: „So gesehen und alltagsweltlich formuliert, haben ‚AusländerInnen‘ eine ethnische Identität, ‚Schwarze‘ eine Hautfarbe, ‚Frauen‘ ein Geschlecht, ‚Homosexuelle‘ eine Sexualität oder ‚Afrika‘ eine koloniale Vergangenheit“, stellen Julia Reuter und Paula-Irene Villa in ihrem Band „Postkoloniale Soziologie“ nüchtern fest. Immer ist es also das ‚Andere‘ oder das ‚Fremde‘, dem etwas ausdrücklich zugeschrieben wird, während Vergleichbares beim ‚Eigenen‘ überhaupt nicht benannt werden muss, weil sich hier alles weitere immer ‚von selbst versteht‘.

Im sogenannten Zeitalter der „Globalisierung“ ist es jedoch endgültig unvermeidlich geworden, derartige „Sicherheiten“, wo auch immer sie postuliert werden, konsequent zu dekonstruieren. Denn nicht nur „Financial Times“ lesende Manager sind derartigen Reflexionsleistungen weiterhin abhold, selbst wenn sie ständig um den gesamten Globus jetten, sondern auch Akademiker. Oder Soziologen: „Kritische Selbstreflexion gilt, dies darf getrost behauptet werden, nach wie vor als politisch (wie in ‚versus‘ wissenschaftlich) und als eher lästige Nabelschau (oder schlimmer: Verknechtung durch die ominöse political correctness)“, schreiben Reuter und Villa in ihrer Einleitung. „Postkoloniale Perspektiven sehen exakt hierin eine Herrschaftsgeste, die darin besteht, sich mit bestimmten Fragen und Problemen nicht beschäftigen zu müssen, weil man von ihnen profitiert“.

Deshalb könne der postcolonial turn der Soziologie ein neues theoretisches Rüstzeug liefern – auch wenn es schwer fällt: „Dass mit einer postkolonialen Brille nicht nur klar wird, dass auch ‚Deutschland‘ Teil kolonialer Konstellationen war, auch ‚Deutsche‘ ethnisch konstituiert sind, auch ‚Männer‘ ein Geschlecht haben usw. macht nicht nur ein Reflexivitätspotential aus, sondern überdies die Verkomplizierung dieser Einsichten durch die Analyse der realen Verwicklungen, Komplizenschaften, Interdependenzen und (Un-)Gleichzeitigkeiten verschiedenster Zugehörigkeiten und Positionen.“

Trotzdem – oder gerade deshalb – haben Julia Reuter und Paula-Irene Villa in ihrem Band versucht, konkrete Anregungen zu einer „Postkolonialen Soziologie“ zu sammeln. Sie sprechen von einer „vierten Phase“, in der sich die postkoloniale Theorie „nach der materialreichen Analyse kultureller Golbalisierungsprozesse nun wieder verstärkt – wie in den 1970er Jahren – der wissenschaftstheoretischen Seite“ zuwende, um „das diskursive (Selbst-)Verständnis hegemonialer Fachidentitäten mit Hilfe von vor allem sozialwissenschaftlichem Analysewerkzeug“ zu dekonstruieren. Dazu haben sie in ihrem gemeinsamen Vorwort allerdings auch nicht vergessen zu betonen, dass nicht nur die Soziologie bisher eine gewisse Reserviertheit gegenüber postkolonialen Theorien an den Tag legte, sondern dass auch die Postcolonial Studies selbst an dieser Situation nicht ganz unschuldig seien, da ihre Vertreter es ebenfalls an „Dialogbereitschaft“ hätten vermissen lassen.

Nicht nur die äußerst informiert wirkende Einführung der Herausgeberinnen unter dem Titel „Provincializing Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung“ profiliert den Band, sondern auch die angemessen ‚internationale‘ Auswahl der Beiträgerinnen und Beiträger. Darunter befindet sich mit Gayatri Chakravorty Spivak sogar auch eine Frau, die längst als veritabler „Superstar“ der Zunft gilt. In den einzelnen Beiträgen geht es unter anderem um so aktuelle Themen wie „Postkoloniale Dimensionen von Islamismus und islamischem Fundamentalismus. Beispiele aus Indonesien“ (Susanne Schröter), um „Bourdieu, postkolonial. Anmerkungen zu einem Oxymoron“ (Nirmal Puwar) oder auch um „Edward W. Saids postkolonialen Kosmopolitismus“ (Benedikt Köhler).

J.S.

Titelbild

Julia Reuter / Paula-Irene Villa (Hg.): Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
336 Seiten, 28,80 EUR.
ISBN-13: 9783899429060

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