„Wendepunkt der Weltgeschichte“ oder lediglich ein ärgerlicher Betriebsunfall?

Zwei althistorische Darstellungen zur römisch-germanischen Auseinandersetzung im Teutoburger Wald und ihren Folgen

Von Barbara StieweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Stiewe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sieg des Cheruskerfürsten Arminius und seiner Verbündeten über drei römische Legionen unter der Führung des Publius Quin(c)tilius Varus gilt gemeinhin als eine der schwersten Niederlagen, die Rom je zugefügt wurden. Sie kostete auf römischer Seite mehr als 18.000 Menschen das Leben. In der fernen Hauptstadt am Tiber war man geschockt und räsonierte bereits über den Untergang des Reiches, dessen ‚goldene Zeiten‘ man kurz zuvor noch proklamiert hatte. Kaiser Augustus ließ nach Sueton, seinem Biografen, überall in Rom zur Vermeidung von Unruhen Wachen aufstellen, kündigte für bessere Zeiten große Spiele an und ließ sich aus Trauer und Verzweiflung mehrere Monate Bart und Haupthaar nicht schneiden.

Legendär ist auch sein Klageruf „Quintili Vare, legiones redde!“ Die Niederlage im „saltus Teutoburgiensis“ gegen marodierende Germanenstämme nagte kräftig am Selbstbewusstsein einer Weltmacht, und nach Augustus’ Tod wurde der ‚unglückliche‘, aber keineswegs leichtgläubige oder inkompetente Befehlshaber Varus, der sich vor seinem Einsatz in Germanien als Prokonsul und Legat in den bedeutenden Provinzen Africa und Syria einen Namen gemacht hatte, Opfer der ‚damnatio memoriae‘.

Auf germanischer Seite spielte der Sieg ‚Davids gegen Goliath‘ lange Zeit keine bedeutende Rolle, auch wenn Tacitus überliefert, Arminius sei in Heldengesängen geehrt worden. Erst rund 1500 Jahre nach der ‚clades Variana‘ erlebte die Arminius-Geschichte im deutschsprachigen Humanismus eine (bis heute andauernde) Renaissance. Ausgangspunkt ihrer Instrumentalisierung waren die zeitgenössischen Bemühungen, eine ‚nationale‘ Identität zu begründen und sich zugleich von den Fesseln der katholischen Kirche zu befreien. In diesem Kontext wurde Arminius’ Erfolg über Rom als Beginn einer glorreichen germanisch-deutschen Geschichte gefeiert. Die germanischen Stämme, einstmals mit dem Attribut des Primitiven und Barbarischen versehen, wurden nun zum edlen Naturvolk umgedeutet und mit den ‚Teutschen‘ der Gegenwart gleichgesetzt; aus dem Cheruskerfürsten Arminius wurde der deutsche Hermann, der seit dem 17. Jahrhundert zum omnipräsenten Helden in Dichtung, Oper, Drama und Malerei sowie bildender Kunst avancieren sollte.

Aber um Gedanken, die mit Schlagworten wie der „Geburt der deutschen Nation“ oder der „Gleichung germanisch-deutsch“ versehen werden können, geht es in den hier vorzustellenden Büchern gar nicht. Nicht der „Mythos“, sondern „Imperium“ und „Konflikt“ stehen im Zentrum des Interesses der Althistoriker Wolters und Dreyer. Beide Autoren betrachten die römisch-germanische Auseinandersetzung und ihre Folgen aus (weitgehend) römischer Perspektive. Während es Reinhard Wolters darum geht, Umstände und Verlauf der „Schlacht im Teutoburger Wald“ zu rekonstruieren und Aussagen zur Örtlichkeit zu treffen, beschäftigt sich Boris Dreyer mit der Bedeutung des „Untergang[s] des Varus“ für das römische Weltreich, analysiert also die mehrtägige Schlacht in einem größeren außenpolitischen Kontext und fragt nach einer möglichen Zäsur nach dieser vernichtenden Niederlage.

So reißerisch vielleicht die ein oder andere Überschrift der Bücher auch sein mag (es ist klar, dass im Jubiläumsjahr 2009 viele und eben auch die Altertumswissenschaftler auf der Begeisterungswelle für die „Schlacht im Teutoburger Wald“ mitschwimmen möchten) – ebenso souverän, allgemein verständlich und fachwissenschaftlich versiert sind die Darstellungen beider Althistoriker, die sich nicht nur an ein interessiertes Laienpublikum richten, sondern zugleich auch an Studierende und Fachvertreter. Auch wenn sich ihr Untersuchungsgegenstand ähnelt und ihre Herangehensweise vergleichbar ist, so ersetzen die beiden Abhandlungen einander keineswegs.

Dreyer bietet mit „Arminius und der Untergang des Varus. Warum die Germanen keine Römer wurden“ ein fundiertes Überblickswerk zur römischen Germanienpolitik von Caesar bis Domitian, nimmt also die gut 130 Jahre von 55 vor Christus (Caesars Germanienexpedition) bis 85 nach Christus (Errichtung der Provinzen ‚Germania Inferior‘ und ‚Germania Superior‘) in den Blick. Dabei verfährt er chronologisch, beginnend mit dem Rhein als Völkerscheide zwischen Gallien und Germanien unter Caesar und einer Politik der Rheinsicherung (Kapitel 1). Eine Abwendung von dieser defensiven Strategie erfolgte in augusteischer Zeit als Reaktion auf die verstärkten Germaneneinfälle in Gallien und kulminierend in der Niederlage des Lollius gegen die Sugambrer, 16 vor Christus (Kapitel 2): Augustus entsandte seinen Stiefsohn Drusus den Älteren (und nach dessen Tod dann Tiberius) ins innere Germanien (‚Germania Magna‘) mit dem Auftrag, die Gebiete zwischen Rhein und Elbe zu erobern (Kapitel 3).

Nach der Unterwerfung der dort siedelnden Stämme galt es, die eroberten Gebiete zu ordnen und zu sichern – unter dem Oberbefehl des Varus wurde ein härterer Kurs eingeschlagen (Kapitel 4), es kam zu einer „verschärften Provinzialisierungspolitik“, die Empörung unter den Germanen hervorrief und schließlich in den Aufstand 9 nach Christus mit der „clades Variana“ mündete (Kapitel 5).

Nach dem Untergang des Varusheeres im „saltus Teutoburgiensis“ wurde Germanicus von Augustus zu Rachefeldzügen ausgeschickt; Tiberius, der nach Augustus’ Tod zum Princeps aufgestiegen war, entschied, die Germanen ihrer eigenen Zwietracht zu überlassen und berief deshalb Germanicus aus dem rechtsrheinischen Germanien ab, denn dieser hatte – trotz des Sieges bei Idistaviso (16 nach Christus) – die ersehnte dauerhafte Befriedung nicht erreicht und lediglich enorme Verluste unter den Römern provoziert (Kapitel 6). (Wie weitsichtig diese Grundsatzentscheidung war, belegen die Umstände von Arminius’ Tod: Der Cherusker wurde von eigenen Leuten im Zusammenhang mit Führungsstreitigkeiten umgebracht.)

Auch Tiberius’ Nachfolger Claudius und Domitian hielten an der Strategie fest, Offensiven gegen die Germanen tunlichst zu vermeiden, um so nicht den Zusammenhalt zwischen eigentlich rivalisierenden Stämmen zu stärken. Fortan schrieb man den Rhein als Reichsgrenze fest; links des Flusses wurden zur Sicherung des ‚status quo‘ die Provinzen ‚Germania Inferior‘ im Norden und ‚Germania Superior‘ im Süden eingerichtet (Kapitel 7). Mit der Abwendung von der ‚Germania Magna‘ und dem Abzug von Truppen am Rhein begann der „Aufbruch in die ‚Neue Welt‘“: die Invasion Britanniens unter Claudius 43 nach Christus (Kapitel 8). Dreyer lässt seine Studie zur römischen Germanienpolitik mit Fokus auf den Maßnahmen, die einerseits der „clades Variana“ den Weg bereiteten und andererseits auf sie reagierten, mit einem knappen und pointierten Überblick über die Rezeptionsgeschichte dieses Ereignisses seit 1500 im deutschsprachigen Raum ausklingen (Kapitel 9). Den Charakter eines Lehrbuches unterstreicht neben den ausführlichen (aber keineswegs langatmigen) Quellenzitaten römischer Autoren in Übersetzung und den vielen Abbildungen, die geschickt in die Darstellung eingebaut werden, der 66-seitige Anhang mit Glossar, Zeittafel, Schaubildern, einem umfangreichen Literaturverzeichnis, wissenschaftlichen Anmerkungen und zwei Registern.

Ähnlich positiv fällt die Bewertung des Wolter’schen Buches aus, das die „Schlacht im Teutoburger Wald“ mit ihren Kontrahenten Arminius und Varus im vergleichsweise engeren historischen Kontext eingehend rekonstruiert. Im Gegensatz zu Dreyer geht es Wolters weniger um Kontinuitäten und Diskontinuitäten der römischen Germanienpolitik im Umfeld der sogenannten „Varusschlacht“, sondern darum, eine „ebenso kritische wie transparente Orientierung über den aktuellen Stand unseres Wissens“ zu dieser schweren römischen Niederlage zu bieten. Diesem Vorsatz wird Wolters mehr als gerecht mit seiner Darstellung, die zwar wenig Neues bietet, aber dafür aktuelle Forschungsergebnisse kompakt und eingängig präsentiert und unterschiedliche Interpretationsansätze im Vergleich vorträgt.

Seine mit Abbildungen, Stammtafeln, Karten und knapp gehaltenen Endnoten versehene Abhandlung ist, neben Vorwort und Epilog, in acht Überblickskapitel unterteilt, die historischen und systematischen Gesichtspunkten folgen. Während die ersten beiden Kapitel die Ereignisgeschichte nachzeichnen – das erste behandelt die offensive augusteische Germanienpolitik und das zweite die Drususfeldzüge –, werden im dritten Kapitel mit den Lagern Oberaden, Haltern, Anreppen, Hedemünden und Lahnau-Waldgirmes Plätze römischer Präsenz im rechtsrheinischen Gebiet vorgestellt. Kapitel 4 führt die Kontrahenten Varus und Arminius ein; dabei wird jeweils die historische Person ihrem von den römischen Autoren gezeichneten (Zerr-)Bild gegenübergestellt. Das folgende Kapitel nimmt die „Varuskatastrophe“ ausgehend von der schriftlichen Überlieferung in den Blick und stellt Überlegungen zu den politischen Hintergründen des Aufstandes an: Handelte es sich um eine nationale Erhebung oder, wie es Dieter Timpe 1970 provokant in die Diskussion einbrachte, schlicht um eine Meuterei germanischer Hilfstruppen?

Im nächsten Abschnitt, dem letzten das historische Ereignis betreffenden Kapitel, werden die unmittelbaren politischen Konsequenzen der „clades Variana“ analysiert, die Augustus und sein Nachfolger Tiberius aus der Niederlage zogen. Bevor das Buch mit einem kurzen Ausblick auf die nationalpolitische (und seit 1950 dann weitgehend touristische) Funktionalisierung der „Schlacht im Teutoburger Wald“ ausklingt, rekapituliert Wolters die mehr als 700 Versuche, den Ort dieses Ereignisses ausfindig zu machen. Dabei setzt er sich mit dem Fundplatz Kalkriese bei Bramsche, der in der gegenwärtigen Debatte als der wahrscheinlichste Ort der „Varusschlacht“ gehandelt wird, kritisch auseinander. (Nicht zu überlesen ist die Skepsis des Numismatikers Wolters, der insbesondere auf Datierungsprobleme der Fundmünzen verweist, die lediglichen einen ,terminus post quem’ zulassen: 7/9 nach Christus und damit eben auch eine Einordnung in den sogenannten „Germanicushorizont“ 14-16 nach Christus erlauben.)

Abschließend sei nochmals anerkennend festgehalten, dass beide Bücher eine ansprechende, verständliche und kompakte Einführung in die Ereignisse rund um die „clades Variana“ bieten – trotz der Tücken, die die literarischen wie archäologischen Quellen aufweisen und die die Rekonstruktion von Ort und Ablauf der Schlacht wie ein Durchkämmen des sumpfigen und morastigen „saltus Teutoburgiensis“ im Jahre 9 nach Christus erscheinen lassen.

Titelbild

Reinhard Wolters: Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
255 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406576744

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Boris Dreyer: Arminius und der Untergang des Varus. Warum die Germanen keine Römer wurden.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009.
317 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783608945102

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch