körper aus angst

Björn Bicker schreibt mit „illegal“ ein Buch über „unsichtbare“ Migranten in Deutschland

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„wir arbeiten. / wir sind ordentlich. / wir sind fleißig. / wir haben einen traum. / wir sind krank. / wir sind gesund. / wir sind müde. / wir schwitzen. / wir sind ruhig. / wir sind wach. / wir sind nervös. / wir wohnen. / wir wohnen in zimmern. / schnee können wir nicht leiden. / was wir euch nicht erzählen: / wo wir herkommen. / wie wir heißen. / wo wir verschwinden. / aus. aus. aus.“ Aus vier Ländern stammen die vier „unsichtbaren“ Migranten, die Björn Bicker in seinem 2009 erschienenen Buch „illegal. wir sind viele. wir sind da“ abwechselnd zu Wort kommen lässt: Da ist zum einen ein namenloser 29-jähriger Ukrainer, dann ein Kurde, der vor dem Krieg geflohen ist, ferner eine junge Frau aus Ecuador und schließlich Jonathan, ein Ghanaer, dessen Geschichte als einzige nicht von ihm selbst, sondern von einer anderen Figur, nämlich einer 50-jährigen Deutschen erzählt wird, die sich ehrenamtlich für illegale Migranten engagiert.

So unterschiedlich die Motive jeweils auch gewesen sind, die die vier aus ihrer Heimat nach Europa geführt haben – sie alle haben Deutschland als Ziel ihrer Flucht gewählt und sind dabei in München gelandet. Allerdings führen sie dort trotz Arbeit und Unterkunft, Freundschaften und Liebesbeziehungen kein „normales Leben“, da sie nicht als Asylsuchende anerkannt und gemeldet sind. Im Gegenteil leben sie teilweise seit Jahrzehnten als Illegale in Deutschland – und das ständig in der Angst, von der Polizei gefasst und abgeschoben zu werden.

Mit „illegal“ rührt der 1972 geborene Björn Bicker, der Literaturwissenschaft, Philosophie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen und Wien studiert hat und seit 2001 an den Münchner Kammerspielen als Dramaturg arbeitet, an einem heiklen Thema, das in einer gesellschaftlichen Grauzone angesiedelt ist und ansonsten nur wenig diskutiert wird. Der Text auf der Rückseite des Schutzumschlages greift diesen Sachverhalt auf: „Wir wissen, dass sie da sind. Dass sie viele sind. Dass sie für uns arbeiten. Und keine Papiere haben. Illegal sind. Dieses Buch erzählt davon, wie sich das Leben in einem Land anfühlt, in dem man offiziell nicht existiert.“

Der Autor geht mit „illegal“ in die Offensive und macht den Leser mit dem „unsichtbaren Leben“ dieser Menschen bekannt: So erzählt der Ukrainer, der studiert hat und vier Sprachen spricht, was ihn aus seiner Heimat in den Westen gelockt hat, nämlich die Hoffnung auf eine, seiner Ausbildung angemessene Arbeit mit einem guten Gehalt. Der kurdische Flüchtling deutet die Erlebnisse, die ihn traumatisiert haben, nur an. Die junge Frau aus Ecuador, die dort als Sekretärin gearbeitet hat, berichtet von ihrer Familie, die jeden Monat auf das Geld aus Europa wartet, um weiter leben zu können. Und für Jonathan erzählt die engagierte namenlose Deutsche von den schlechten ökonomischen Verhältnissen in Ghana, von der Armut der Menschen dort und ihrer Hoffnung auf ein Leben in Wohlstand – und das nicht selten durch Versuche, nach Europa zu gelangen.

In „illegal“ äußern die vier gesellschaftlichen Außenseiter auf unsentimentale Art aber auch, wie sie in München leben und mit welchen Schwierigkeiten sie zu tun haben: Sie wohnen in kleinen Zimmern ohne Fenster, bei Landsleuten zur Untermiete oder im Sommer in Pappkartons auf Baustellen. Sie arbeiten teilweise zwölf Stunden am Tag und das bei einem Stundenlohn von vier Euro. Begehren sie dagegen auf, warnen ihre Arbeitgeber sie mit einer Anzeige bei den Behörden. Sehen sie Polizisten oder Sicherheitsleute auf der Straße, versuchen sie diesen soweit wie möglich aus dem Wege zu gehen. Und lernen sie jemanden kennen, müssen sie auf jedes Wort aufpassen, das sie aussprechen.

Brisant sind die Themen, die in Bickers schmalem Buch angerissen werden: Sie reichen von Bestechlichkeit („was meinst du wohl, warum ich immer ein paar scheine dabei hab. ist mir schon zweimal passiert. Ausweiskontrolle. die scheine liegen im pass, da wo sonst das visum ist.“), über Schwarzarbeit („es gibt dieses verhältnis von geld und moral. je mehr kohle desto weniger skrupel. also bei bestimmten leuten ist das definitiv so. die geben dir arbeit weil du billig bist und keine fragen stellst.“) bis schließlich zur Anwendung des geltenden Rechts, das nicht immer nachvollziehbar ist („die frau auf dem amt glaubt auch, dass sie hilft. sie sagt, wir müssen zusammenarbeiten. aber sie sagt auch, ich vollziehe das gesetz. die leute kommen aus ländern zu uns, in denen das gesetz nicht befolgt wird. umso wichtiger, dass wir unser gesetz anwenden. deshalb kommen sie leute hierher. diese logik verstehe ich nicht. sie schicken die leute doch dahin zurück. andauernd. ja. wenn es keinen triftigen grund gibt für ihren aufenthalt in deutschland. und wer entscheidet, was ein grund ist. ich traue dem gesetz nicht. die frau auf dem amt lacht. ich schon, sagt sie. das ist mein beruf. das gesetz anwenden.“).

Dass das Leben der sich illegal im Lande aufhaltenden Menschen einem Balanceakt gleicht, dass sie ständig zwischen zwei Welten hin- und herpendeln, das macht ein Ausspruch des ukrainischen Arbeitsuchenden besonders gut deutlich: „in einem land sein und doch nicht in einem land sein. mitmachen ohne mitzumachen. alles sehen aber nichts berühren. wissen dass man glüht aber nicht verbrennen. das ist die kunst.“ Viele Flüchtlinge werden dabei mit der Zeit zu Heimat- und Besitzlosen, die oft nicht mehr haben außer dem, was sie gerade bei sich tragen. Ihr Alltag wird zum Provisorium, das täglich neu gesichert werden muss. Ihre Art von Freiheit stellt für sie schließlich eine Krisenerfahrung dar, die sie früher oder später im wahrsten Sinne des Wortes zermürbt: „die angst ist eine summe. eine summe aus allen ängsten die du kennst. sie ist dein zweiter körper. ein körper aus angst. und einer aus fleisch. das bist du.“

Zwei Vorschläage macht „illegal“ dem Leser zum Schluss: Aufgrund der hohen Anzahl der „neuen Menschen“, so die (Selbst-)Bezeichnung der „unsichtbaren“ Ausländer in Bickers Buch, und der Tatsache, dass deren Zahl in Zukunft noch weiter steigen werde, empfiehlt der Autor nicht nur den zuständigen Behörden, sondern der Gesellschaft als Ganzes, schon aus Vernunftgründen, diese Menschen mitsamt ihrer Probleme ernst bzw. überhaupt wahrzunehmen. Nicht zuletzt auch, um den sozialen Frieden in Deutschland und auf dem Kontinent auch in den nächsten Jahrzehnten gewährleisten zu können, sei eine neue Einstellung notwendig, die eine Integration, und zwar eine dauerhafte dieser Hilfesuchenden zum Ziel haben müsse. Andernfalls – so drastisch ist Bicker schließlich in seinem Vorausblick – drohe den Europäern früher oder später das Ende ihrer Zivilisation: „euer leben geht dem Untergang zu. / ihr seid alte Menschen. / ihr seid von gestern. / schaut euch an / mit euren gesichtern voller angst. / ihr haltet euch fest / an eurem alten glauben. / der heißt. / der heißt ihr seid die herren.“

Der Autor deutet mit diesen Ausführungen zur Asylpolitik der EU, die er den Migranten in einem langen „Prosagedicht“ in den Mund legt, zweitens wohl auf die Auswirkungen der Globalisierung und in diesem Zusammenhang auch auf die der weltweiten Klimaerwärmung hin: Neue Konflikte und Kriege, aber auch Naturkatastrophen insbesondere in der dritten Welt würden die „Festung Europa“ möglicherweise stärker als je zuvor zum Wunschziel nicht nur politischer und wirtschaftlicher, sondern vermehrt auch von „Klimaflüchtlingen“ machen: „wir erzählen keine geschichten aus unserer heimat. / weil wir keine heimat mehr haben. / alle geschichten sind erfunden. / wir haben vergessen wo unsere heimat ist. / auf dem langen weg um die erde haben wir alles vergessen. / wir erzählen euch eure geschichte.“

Björn Bicker gelingt es mit „illegal“ einen beeindruckenden Einblick in eine, wahrscheinlich den meisten Menschen in Deutschland ansonsten verschlossene Welt zu gewähren. Die Sprache, die er seinen von vier Kontinenten stammenden Protagonisten in den Mund legt, ist dabei hart und nüchtern. Dennoch – trotz oder vielleicht gerade wegen des rauhen Klimas in ihrem Alltag erscheinen die Figuren hungrig nach Leben und Freude. Nur müssen sie auf der Suche nach ihrem (Liebes-)Glück stets mehr als vorsichtig sein und dürfen bestimmte Grenzen nicht überwinden, die für andere, legal im Land lebende Menschen nicht existieren: „du lügst mit jedem schritt mit jedem wort mit jedem satz. deine familie hat dich geschickt. das studium. die hoffnung. dein land. deine lüge ist deine wahrheit. du glaubst dir alles du musst sagen ich bin ein anderer als der den du an der warmen hand hältst. aber du schweigst.“

Durch die Abwechslung der Erzählerstimmen und ihrer Geschichten – und diese zusätzlich unterbrochen durch die erwähnten „Prosagedichte“ – gewinnt der Leser zusätzlich einen Eindruck von der Vielfalt der Lebensformen der Migranten und damit der Konflikte und Prüfungen, die diese in Deutschland zu bestehen haben: Während im ersten Teil mit dem Titel „neue menschen“ aus der Perspektive der Flüchtlinge berichtet wird, wechselt diese im zweiten Teil mit der Überschrift „ich sehe sie“, worin die erwähnte ehrenamtlich tätige Dame von ihrer Suche nach dem verschwundenen Jonathan, aber auch von den Gründen erzählt, weshalb sie sich für die Illegalen einsetzt. Durchgehend im Buch ist dagegen die Kleinschreibung sowie die eigenwillige Punkt- und Kommasetzung. Diese deutet auch auf die Außerkraftsetzung der ansonsten für das „normale Leben“ vorherrschenden Rechtschreibung und Rechtsprechung – zumindest aus Sicht der Betroffenen: „eure tollen gesetze. / die gelten. / die funktionieren. / nicht für uns. / wir glauben nicht an eure alten gesetze. / wir sind neue menschen. / wir glauben nicht an eure grenzen. / die gelten nicht für uns.“

Titelbild

Björn Bicker: Illegal. Wir sind viele. Wir sind da.
Verlag Antje Kunstmann, München 2009.
125 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783888975547

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