Mathematik und Poesie

Andrej A. Markows vergessener Beitrag zur quantitaven Textlinguistik

Von Felix Philipp IngoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Philipp Ingold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es dürfte für den jungen Philologen und Poetologen Roman O. Jakobson eine Sternstunde gewesen sein, als er 1913 in Petersburg zufällig eine Abhandlung des Mathematikers Andrej A. Markow zu Gesicht bekam, die ihm erstmals und blitzartig die Möglichkeit einer exakten Literaturwissenschaft modellhaft vor Augen führte. Dass dereinst objektive Befunde und Wertungen die damals (wie noch heute) weithin üblichen historisierenden, politisierenden oder psychologisierenden Deutungen literarischer Texte ablösen würden, war Jakobsons hochgemute Wunschvorstellung. Eine Vorstellung, die er mit manchen seiner gleichaltrigen Kollegen aus der russischen „formalen Schule“ teilte und in der Folge, über Jahrzehnte hin, zu realisieren versuchte.

Was Jakobson (der damals bereits auch mit der Einstein’schen Relativitätstheorie vertraut war) bei Markows statistischen und probabilistischen Erhebungen einhalten ließ, war die ungewöhnliche Tatsache, dass hier ein weithin bekanntes Dichtwerk, Aleksandr Puschkins Versroman „Jewgenij Onegin“ (1833), als Vorlage für eine mathematische Untersuchung herangezogen wurde. Was ihn daran sogleich faszinierte, ihn bei seiner eigenen Theoriebildung eines sprach- und literaturwissenschaftlichen „Formalismus“ bestärkte, war die von Markow eröffnete Aussicht auf eine exakte, quantitativ objektivierte Textwissenschaft. Dies wiederum war keineswegs das Anliegen des Petersburger Mathematikers, der ausschließlich an der Wahrscheinlichkeitsrechnung beziehungsweise an deren Anwendungsmöglichkeiten interessiert war und dem Text Puschkins lediglich als Arbeitsgrundlage für seine Auszählungen diente.

So konnte Markow auch nicht voraussehen, dass seine Forschungsergebnisse dereinst gerade für die Linguistik und Poetik eminent produktiv sein würden, vorab für die objektive Erkennung von Personal- oder Epochenstilen (Autorschaftsnachweis), für die Entschlüsselung geheimsprachlicher Codes, die Freilegung unterschwelliger Sprachmuster in Gedichten, die Bestimmung von Normen und Abweichungen in poetischen oder alltagssprachlichen Texten. Die „Markowschen Ketten“ sind diesbezüglich von Mathematikern, Linguisten und Poetologen gleichermaßen genutzt und fortentwickelt worden. Die nachhaltigsten Spuren dieser Entwicklung finden sich in den 1940er-Jahren bei Jan Mukařovský und den tschechischen Strukturalisten, in 1950er-Jahren bei Pierre Guiraud und der französischen mathematischen Linguistik (vorab der Lexikografie), in den 1960er-/1970er-Jahren bei Andrej Kolmogorow, Wilhelm Fucks, Jakobson und der informationstheoretisch beziehungsweise semiotisch fundierten Dichtungswissenschaft, gleichzeitig aber auch in der konkreten (visuellen, auditiven) Poesie Deutschlands, der Tschechoslowakei und Brasiliens sowie im französischen Werkkreis für potentielle Literatur (Oulipo), zu dessen Gründungsmitgliedern der Wissenschaftstheoretiker Jean Lescure und der mathematisch versierte Schachexperte François Le Lionnais gehörten.

Inwieweit Markows Vorarbeiten bei all diesen Schulen und Zirkeln wirksam geworden sind, muss vorerst dahingestellt bleiben. Tatsache ist jedoch, dass seine quantitativen Analysen literarischer Texte (nebst Puschkins Versroman untersuchte er Dichtungen von Vergil, Prosa von Sergej Aksakow und Iwan Gontscharow) eine Forschungsperspektive eröffnet haben, die sich nachfolgend über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich ausweitete, bis sie durch den arationalen Revisionismus der Postmoderne weitgehend ausgeblendet wurde.

Betrachtet man freilich Markows Abzähl- und Rechenoperationen aus heutiger Sicht, so wird man über deren Unbedarftheit ebenso erstaunt sein wie über ihre theoretische Reichweite und praktische Anwendbarkeit. Seine Versuchsanordnung bestand darin, aus dem Textcorpus von „Jewgenij Onegin“ die ersten 20.000 Lettern in linearer Folge einem Raster von jeweils 10 Zeilen à 10 Zeichen einzuordnen, wobei weder Wort-, Satz- und Versgrenzen noch die Interpunktion und die Spazien berücksichigt werden sollten. Die binäre Auszählung hatte einzig die Vokale und Konsonanten als solche (das heißt ohne Berücksichtigung ihrer phonetischen Qualität und/oder ihrer grammatischen Funktion) zum Gegenstand und war einerseits auf die statistische Häufigkeit, anderseits auf die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens ausgerichtet.

Die Zählung sollte demnach nicht bloß den Letternbestand nach Vokalen beziehungsweise Konsonanten und damit den Status quo des untersuchten Texts festhalten, sondern auch aufzeigen, mit welcher Häufigkeit und an welcher Stelle im Textverlauf ein Vokal beziehungsweise ein Konsonant zu erwarten sein würde. Um die progressiven Übergänglichkeiten zwischen Vokalen und Konsonanten, also die Dynamik ihrer Wechselbeziehungen zu präzisieren, zeichnete Markow außer den Folgen 1 Vokal > 1 Vokal und 1 Konsonant > 1 Vokal auch andere, komplexere Gruppenbildungen auf: 1 Vokal > 1 Vokal > 1 Vokal; 1 Vokal > 1 Konsonant > 1 Vokal; 1 Konsonant > 1 Vokal > 1 Vokal; 1 Konsonant > 1 Konsonant > 1 Vokal; 1 Konsonant > 1 Konsonant > 1 Konsonant.

Bedeutung und Brauchbarkeit derartiger Auszählungen auf der Letternebene sind mit Bezug auf literarische Texte (oder genauer: auf die Literarität von Texten) äußerst zweifelhaft, vielleicht noch zweifelhafter als die etwa zu gleicher Zeit von Ferdinand de Saussure durchgeführten Anagrammstudien, die ebenfalls, wiewohl unter gänzlich anderem Gesichtspunkt, auf die Anordnung und die Wechselbeziehungen bestimmter Schriftzeichen gerichtet waren.

Die von Markow in seinen „Ketten“ numerisch konkretisierten Folgen von Zufallsvariablen geben – gerade weil sie aus literarischen Texten gewonnen wurden – Anlass zur Grundsatzfrage, was bei der Textentstehung willkürlich beziehungsweise unwillkürlich geschieht, eine Frage, die in jenem Jahr des epochalen künstlerischen Umbruchs mit besonderer Schärfe gestellt wurde. Die Vorkämpfer einer neuen, dezidiert antiautoritären und antitraditionalistischen Kunstpraxis – Futururisten, Kubisten, Rayonisten, Toutisten et cetera – verwiesen auf die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit des künstlerischen Materials, insbesondere der Sprache, die „als solche“ zum Zug kommen, „selbstwertig“ sein und also nicht mehr von einem Autor eigenmächtig manipuliert werden sollte. Die künstlerischen und dichterischen Verfahren selbst sollten produktiv gemacht werden, sollten im Hinhören auf rhythmische und melodische Verläufe gleichsam autopoetisch das Werk hervorbringen: der „Buchstabe als solcher“, das „Wort als solches“, letztlich auch das Werk als solches hatte seine eigene, sowohl vom Autor wie auch von außerkünstlerischen Bezügen befreite Funktion und Wertigkeit.

Wenn nun Andrej Markow in einem als unvergleichlich „genial“ und „originell“ geltenden, eng an die Person Puschkins gebundenen Dichtwerk wie „Jewgenij Onegin“ Strukturen beziehungsweise Strukturbildungsprozesse offenlegt, die nicht auf eine auktoriale Instanz, vielmehr auf eine mehr oder minder bestimmte Zufallsfolge von Schriftzeichen zurückzuführen sind, die sich ihrerseits zu Wörtern und Sätzen fügen, so passt dies durchaus in den Kontext der damaligen Kunst- und Literaturrevolution: Freiheit und Wille des Autors werden auf der Letternebene unterlaufen durch einen verborgenen, von Wahrscheinlichkeiten determinierten Produktionsprozess, der das Konzept der Originalschöpfung obsolet erscheinen lässt.

Diesen Schluss und dieses Ansinnen hat Markow allerdings nicht eigens mit seinen Berechnungen am Textkörper des „Jewgenij Onegin“ verknüpft, und er hätte für deren Durchführung auch eine andere Vorlage wählen können. Schwer nachvollziehbar bleibt in jedem Fall die Tatsache, dass er, mit Puschkins Versen vor Augen, nicht auf die Idee (oder wenigstens in Versuchung) kam, seine Auszählungen für die Analyse metrischer oder lautlicher Gegebenheiten nutzbar zu machen, denn gerade die Prosodie bietet reiches Material für quantitative Erhebungen, die auch poetologisch von Interesse sein könnten.

Dazu hätte Markow jedoch die Letternebene verlassen und zusätzlich Phoneme, Silben, Einzelwörter auszählen müssen, so wie es vor ihm bereits der Dichterphilosoph und Laienmathematiker Andrej Belyj in seinen Studien zum „Symbolismus“ (1910) am Beispiel des russischen vierhebigen Jambus getan hatte. Doch wenn nicht der strukturalen Poetik, so zumindest der mathematischen Linguistik hat Markow mit seinen Vorarbeiten eine Reihe produktiver Anstöße gegeben, die seit den 1950er-Jahren (vorab in der Lexikologie) erfolgreich fortgeführt wurden und von denen dann indirekt auch die Vers- sowie die allgemeine Dichtungstheorie profitieren konnten.

Dies geschah ab 1960 während gut zwanzig Jahren fast gleichzeitig in den USA und Frankreich, in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Polen, durch den besonderen Einsatz von Max Bense und Wilhelm Fucks auch in der BRD. Was damals, gegenüber Markow reichlich verspätet, in Moskau und Tartu mit der Auszählung von Einzelwörtern und der Feststellung von deren Häufigkeit beziehungsweise Redundanz in dichterischen Texten begonnen wurde, um daraus objektive Kriterien für die Bestimmung eines Werk-, Personal- oder Epochenstils zu gewinnen, fand seine Fortsetzung in Warschau, Paris und Nordamerika, wo man entsprechende Berechnungen prognostisch nutzte, indem man durch Häufigkeits- und Sequenzanalysen ästhetisch merkmalhafte Abweichungen der Dichtersprache von der alltagssprachlichen Norm feststellte und damit endlich einen objektiven (weil messbaren) Nachweis für künstlerische Werthaftigkeit gefunden zu haben glaubte.

Diesen Glauben gibt es heute kaum noch. Der langwierige Durchgang durch die Postmoderne und ein gleichmacherisches Globalisierungdenken haben auch in künstlerischen Dingen die Anpassung gegenüber der Abweichung, die Vereinnahmung gegenüber der Differenz aufgewertet. Neues wird nicht mehr durch Entkanonisierung und Verfremdung durchgesetzt, sondern umgekehrt durch Traditionalisierung und Synkretismus. Doch die Erforschung, vollends die Bewertung dieses Phänomens liegt jenseits der Reichweite quantitativer Methoden.

Titelbild

Andrej A. Markov: Berechenbare Künste.
Herausgegeben von Philipp von Hilgers und Wladimir Velminski.
Diaphanes Verlag, Berlin 2007.
183 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783935300698

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