Gesamtdeutsche Nachkriegsgeschichte

Friedrich Dieckmanns Essays zu „Deutschen Daten“

Von Gerhard MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

„Fehlt es den staatlich wiedervereinigten Deutschen für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg immer noch an tieferem nationalgeschichtlichen Interesse?“ Diese Eingangsfrage, der erste Satz des „Vorworts“, zeigt das Generalthema und den Impuls Friedrich Dieckmanns an, der hier einige seiner politisch-zeitgeschichtlichen Essays, aus Anlass der Gedenkbemühungen des Mainstream – 1989 im Zentrum –, neu publiziert. „Deutsche Daten“ lautet der Haupttitel des Buches, und die als „Hauptdaten“ apostrophierten Jahre werden dergestalt markiert: 1945 – 1949 – 1953 – 1961 – 1989. Evident wird schon, dass Dieckmann (geboren 1937 in Landsberg an der Warthe, aufgewachsen in Dresden und Birkenwerder), so heißt es im „Vorwort“ ausdrücklich, den deutschen „Gesamtstaat“ im Blick hat. Er will der „Wechselwirkung einer verdoppelten Nachkriegsgeschichte“ nachgehen und der „konfrontativen Sicht“ (hier Weststaat, dort Oststaat) eine „realistische an die Seite […] stellen, die sich dem Bann der Ideologeme entzieht“. Ein berechtigter, vielversprechender Ansatz, und die nachfolgenden sieben Texte – bereits zwischen 1995 und 2006 an unterschiedlichem Ort veröffentlicht – entsprechen ihm durchaus. Fünf Essays ranken sich um die erwähnten zentralen Jahre, zwei andere denken über den „Nationalfeiertag“ der Deutschen und deren „nationale Besonderheiten“ nach („Versuch über die Deutschen“).

Die DDR wird von Dieckmann mit dem (historisch belegten, unter anderem auf Preußen bezogenen) Ausdruck „Staatssozialismus“ belegt; merkwürdig berührt auch die Formulierung „die Suspendierung des deutschen Gesamtstaats durch agonale [?] Siegermächte“. Überhaupt drückt sich der Autor – bei allem Stilwillen und aller Formulierungsdisziplin – vielfach kompliziert und teils kryptisch aus.

Die Überlegungen zum Nationalfeiertag („Das Vertragsfest“) gehen bis zum 18. Jahrhundert zurück und thematisieren die Begriffe Staat und Nation. Aktuell: Wäre nicht etwa statt des 3. Oktober (1990) – gegenwärtig als Tag der deutschen Einheit begangen – der 9. Oktober (1989), mit Rücksicht auf die großen Leipziger Montagsdemonstrationen – in Betracht gekommen? Was ist wahrhaft „feiernswürdig“?

Der Beitrag „Deutschland in der Stunde Null“, der den Blick vom April 1945 bis zum Jahr 1990 richtet, schließt mit dem Urteil, dass „die wiedergewonnene Staatseinheit […] insofern ein Doppelgesicht trug, als es die Emanzipation der ostdeutschen Bevölkerung einerseits sicherstellte und andererseits untergrub“. Ein Beleg für die gesamtdeutsche Perspektive, jenseits der westdeutschen selbstgefälligen des juste milieu, die Dieckmann einnimmt.

Der dritte Beitrag, zunächst auf 1949 bezogen: „Ein deutscher Staat nach dem anderen“, diskutiert ebenfalls eigenständig die Charakteristika der staatlichen Grundzüge von BRD und DDR und schließt pointiert: „Was das Jahr 1989 beendete, war die Epoche der vorauseilenden Irrtümer.“

Die „Hintergründe des 17. Juni 1953“ werden im folgenden Essay thematisiert. „Die Erhebung des 16. und 17. Juni 1953 war eine Tragödie nach antikischem Maß und Begriff“. Der „Held“, das waren „die Volksmassen, es war vor allem die Arbeiterschaft der DDR“. Differenziert, zu differenziert, um hier in aller Kürze einen Eindruck zu geben, werden die Ereignisse von Dieckmann analysiert. „Der 17. Juni ist fern jener Eindeutigkeit, die Symposien und Konferenzen, Feier- und Gedenkstunden ihm zu geben versuchen.“

Typisch für Dieckmanns Haltung sind diese Sätze: „Bin ich in der Bundesrepublik angekommen? Ich bin es, und nicht erst seit heute. […] Er [= der vereinigte Staat] war nie aufgelöst worden, insofern habe ich, keineswegs unbewußt, immer in ihm gelebt; es ist der Staat, der nach jenem deutsch-deutschen Bruderkrieg, der auch preußisch-deutscher Krieg heißt, unter dem Namen Norddeutscher Bund 1866 gegründet worden war.“ Gemünzt ist das auf die „Berliner Betongrenze“.

Um den November 1989 kreist das vorletzte, dem letzten Hauptdatum gewidmete Kapitel, anspielungsreich „Merkzeichen im Buch der Wandlungen“ betitelt. Der Blick muss, so Dieckmann, auf die große Demonstration vom 4. November 1989 im „östlichen Berlin“ gerichtet sein, der 4. und der 9. November 1989 „bilden eine Einheit“. Die Menschen kamen „in Massen, um einer machtgeschützten Staatsinnerlichkeit Demokratie abzufordern“ (wieder eine dieser merkwürdig hermetischen Formulierungen). Überzeugend die These: „Man spricht manchmal vom Fall der Berliner Mauer: the Fall of the Wall. Aber das ist nicht richtig: es war eine Öffnung.“ Auch dies ist berechtigt, Dieckmann zitiert eine Bewertung Hans Magnus Enzensbergers aus dem Jahr 1963: „Der Grundstein zu diesem Bauwerk wurde am 22. Juni 1941 gelegt. Die Mauer war lange gegründet, ehe wir sie sahen.“

Abschließend geht der Autor in einem wiederum historisch ausgreifenden Essay der Frage „Was ist deutsch?“ nach, Aussagen Immanuel Kants, Gottfried Wilhelm Leibniz’, Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Friedrich Schillers einbeziehend. Betont wird das „staatsfromme Phlegma der Deutschen“, und in diesem Kontext thematisiert der Autor auch seine Kritik an der amtlichen Rechtschreibreform („Hier zu Lande“). Er bleibt bei der traditionellen, grammatik- und sprachrichtigeren Variante (der Rezensent stimmt ihm hier vollkommen bei). Und was die Nationalhymne angeht, so erinnert Dieckmann – ebenfalls mit Recht – an die „Kinderhymne“ Bertolt Brechts: „Und nicht über und nicht unter / andern Völkern wolln wir sein / von der See bis zu den Alpen, / von der Oder bis zum Rhein.“ Friedrich Dieckmanns Essays sind originelle und souveräne Texte, die sich der Konventionalität und der Anpassung an jede „herrschende Meinung“ verweigern.

Titelbild

Friedrich Dieckmann: Deutsche Daten oder Der lange Weg zum Frieden. 1945 - 1949 - 1953 - 1961 - 1989.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
188 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305724

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