Die Zukunft (in) der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung

Eine Einführung von Nicolas Pethes und ein prominent besetzter Sammelband bieten Rück- und Ausblicke auf ein Zentralthema der Kulturwissenschaften

Von Jan StandkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Standke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gedächtnis und Erinnerung – es kann wohl nur schwerlich als Übertreibung gelten, hier von Zentralthemen der Kulturwissenschaften zu sprechen. In den letzten zwanzig Jahren entwickelte sich eine mittlerweile kaum mehr zu überblickende Forschungslandschaft, in deren weitverzweigten Räumen sich die verschiedensten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen der Erforschung der Prozessualität und Medialität von Erinnerungskulturen sowie den Funktionsweisen von kollektiven und kulturellen Gedächtnissen in synchroner wie diachroner Perspektive widmen. In diesem Zusammenhang entstanden eine Vielzahl an Theorien und Konzepten, deren erstaunliche Reichweite sich auch auf die verstärkt interdisziplinäre Ausrichtung der Gedächtnisforschung zurückführen lässt. Neben den zahlreichen Impulsen, welche die Forschung aus diesen Diskussionszusammenhängen bezogen hat, spielt die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung auch in der akademischen Lehre längst eine wichtige Rolle. Kaum ein anderes kulturwissenschaftliches Thema ist darüber hinaus derart wirksam in das öffentliche Bewusstsein getreten. Momentan stellen die omnipräsenten Erkenntnisse der Neurowissenschaften eine wichtige Herausforderung für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung dar.

Der von Michael C. Frank und Gabriele Rippl herausgegebene Sammelband „Arbeit am Gedächtnis“ und die in der Einführungsreihe des Junius Verlags erschienene Monografie „Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien“ von Nicolas Pethes tragen der Bedeutung des Gedächtnisparadigmas in der Kulturwissenschaften Rechnung und bilden die ausdifferenzierte Diskussion in je spezifischer Weise ab. Ein wesentlicher Unterschied bezüglich der grundsätzlichen Perspektivierung der beiden Beiträge lässt sich an der Öffnung hin zu den aktuellen gedächtnisbezogenen Forschungen der Neurowissenschaften festmachen.

Nicolas Pethes’ Einführung in die kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien macht es sich zur Aufgabe, mit solchen Theorien von Gedächtnis und Erinnerung vertraut zu machen, „die sich von psychologischen oder neurologischen Beschreibungen von Erinnerungsprozessen unterscheiden und stattdessen ‚kulturelle‘ – also soziale, historische, philosophische, künstlerische usw. – Aspekte des Phänomens ‚Gedächtnis‘ in den Blick nehmen.“

Zentral für die kulturwissenschaftliche Modellierung von Erinnerungstheorien ist in diesem Zusammenhang der Übergang von den individuellen Einzelgedächtnissen hin zu Formen der kollektiven, langfristigen Memoria. Das Interesse an den ‚Kulturtechniken‘ des Erinnerns prägt dann auch das Profil des Buches. In einem ersten Teil werden die Geschichte der Gedächtnistheorie von der Antike über Nietzsche, Freud, Warburg, Halbwachs, Aleida und Jan Assmann bis hin zur systemtheoretischen Modellierung von Gedächtnis vorgestellt und die einzelnen Positionen problemorientiert erläutert. Was zunächst noch eine tour de force durch die Theoriegeschichte von Gedächtnis und Erinnerung erwarten lässt, stellt sich dann jedoch als eine auf die wesentlichen Begriffe und zentralen Zusammenhänge reduzierte, zugleich im hohen Maße anschauliche und spannende Führung durch das Feld der Gedächtnisforschung dar, die besonders Studierenden eine wertvolle Orientierungshilfe in diesem doch recht weitläufigen und mitunter unübersichtlichen Wissensbereich sein wird.

Der zweite Teil des Buches bietet einen an Beispielen reichen Überblick über die Funktionen des Erinnerns in verschiedenen kulturellen Feldern und medialen Formaten. Besonderes Augenmerk legt Pethes hierbei auf die historischen Wandlungen und Wirkungen von Erinnerungsakten und Gedächtnisleistungen im Spannungsfeld von Bewahren und Vergessen, Präsenthalten und Verdrängen, Akzeptanz und Zensur. Erinnerung wird vor diesem Hintergrund als kollektiver Akt der Selbstvergewisserung beschrieben, der – oftmals als Reaktion auf erfahrene Krisen oder Traumata – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem unauflösbaren Zusammenhang verdichtet. Betont werden somit stets die beiden konstitutiven Prozesse des Gedächtnisses: das Speichern und das Abrufen bzw. Aktualisieren. Der sich durchgehend andeutende literaturwissenschaftliche Akzent des Buches wird in einem letzten Kapitel didaktisch äußerst sinnvoll entfaltet. Am Beispiel des in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung sehr beliebten Werks W. G. Sebalds demonstriert Pethes abschließend, welche Einsichten aus der Arbeit an und mit den Theorie kultureller Erinnerung zu gewinnen sind.

Zielt Pethes’ Buch also vor allem darauf ab, die ‚Gegenwart der Vergangenheit‘ im Akt des kollektiven Gedenkens und Erinnerns in ihrer Relevanz für die Zukunftsdeutungen von gesellschaftlichen Gruppen herauszustellen und so die grundlegende Beschaffenheit und Funktion kultureller Gedächtnisse zu skizzieren, öffnet der Aleida Assmann gewidmete Band „Arbeit am Gedächtnis“ den Blick für die methodische und theoretische Zukunft der Gedächtnisforschung als interdisziplinäres Arbeitsfeld der Kulturwissenschaften.

Die Bedeutung, die den theoretischen Beiträgen Aleida Assmanns für die Etablierung der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung im nationalen und internationalen Kontext zukommt, kann wohl kaum überschätzt werden. Umfassend zeichnen Michael C. Frank und Gabriele Rippl in der bestens als erste Einführung in das Thema geeigneten Einleitung des Bandes diese Erfolgsgeschichte nach, die in den verschiedenen Disziplinen mitunter jedoch ganz unterschiedliche Ausprägungen erfahren hat. Ein Ziel des Sammelbandes ist es daher, die heterogenen Debatten und methodischen Fundierungen einzelner Disziplinen zusammenzuführen und Entwicklungstendenzen innerhalb des Forschungsfeldes sichtbar zu machen. Die Bandbreite der Positionen, die von den faszinierenden Arbeiten Aleida Assmanns wichtige Impulse bezogen haben, ist ebenso beachtlich wie die Vielfalt der Untersuchungsbereiche, an denen die Gedächtnisforschung sich abarbeitet. Freilich dominieren auch hier die literatur- und geschichtswissenschaftlichen Perspektiven. Deutlich zu erkennen ist dabei aber die grundsätzliche Offenheit für Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Forschung. Aufgegriffen werden diese Zusammenhänge unter anderem in den Beiträgen von Harald Welzer oder Astrid Erll, die das Potential dieser Orientierung für eine Erweiterung der kulturwissenschaftlichen Modellierung von Erinnerung und Gedächtnis kritisch reflektieren.

Die weiteren, durchweg anregenden Beiträge des Bandes entfalten anhand von exemplarischen Analysen verschiedener Gedächtnismedien und Fallstudien zu Prozessen kollektiven Erinnerns und Vergessens den Horizont des kulturwissenschaftlichen Gedächtnis-Paradigmas in seiner ganzen transkulturellen Weite. Dass in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung die ‚Zukunft‘ als Fluchtpunkt der menschlichen Selbstdeutung stets eine zentrale Rolle spielte, ist unbestritten. Die hier vorgestellten Bände verdeutlichen, dass sich aber auch die Gedächtnisforschung selbst in einer Entwicklung begriffen sieht, deren vielleicht wichtigste Herausforderung in der produktiven Kontaktaufnahme mit den Neurowissenschaften besteht.

Um sich zukünftig in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zurechtzufinden, sollte man vertrauensvoll zur Einführung von Nicolas Pethes und dem Sammelband „Arbeit am Gedächtnis“ greifen. Besser kann man sich zum Thema zurzeit nicht informieren.

Titelbild

Michael C. Frank / Gabriele Rippl (Hg.): Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann.
Wilhelm Fink Verlag, München 2007.
427 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770545346

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Titelbild

Nicolas Pethes: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2008.
181 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783885066569

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