Porträts und Psychogramme

Über Gay Taleses „Frank Sinatra ist erkältet“

Von Martin SpießRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Spieß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

„Einer der besten Reporter Amerikas“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ über Gay Talese, „und für viele der eleganteste, der neugierigste und der gründlichste von allen.“ Das trifft es. Es ist Eleganz, die aus seinen Formulierungen spricht. Es sind (Neu-)Gier und Gründlichkeit, die ihn so besessen recherchieren lassen. Was die „Süddeutsche Zeitung“ nicht erwähnte: Es ist Genialität, die ihn spielerisch die Formgrenzen überschreiten lässt, zwischen Journalismus und Literatur, zwischen Reportage und Porträt.

Eine Sammlung seiner Reportagen ist, zusammen mit Auszügen aus seinen Büchern, jetzt in der „edition der Freitag“ erschienen. „Frank Sinatra ist erkältet“ heißt das Buch, benannt nach Taleses bekannter Reportage über den wohl berühmtesten Sänger des 20. Jahrhunderts. Sinatra, bekommt Talese gesagt, sei erkältet, das Interview müsse ausfallen. Für den Journalisten kein Grund zur Aufgabe, sondern vielmehr Anlass für die Flucht nach vorn. Er begleitet Sinatras Entourage ganz einfach, ein bisschen so wie auf einem Campaign-Trail. Er sieht ihn in Aktion: in den verschiedensten Situationen, an den unterschiedlichsten Orten, mit den unterschiedlichsten Menschen. Und während Talese Sinatra beobachtet, wie der eine Aufnahme macht oder sich in einer Bar mit einem jungen Kerl anlegt, dessen Kleidungsstil ihm nicht passt, entsteht ein unglaublich scharfes Bild des Mannes, der sich zwischen Superstar, Gigolo und Il Padrone, dem Freund der „ehrenwerten Gesellschaft“, bewegt.

Gay Taleses Texte lassen die Grenzen der Formen ineinander fließen. So sind seine Reportagen weniger zusammen geschnittene Bilder, Momentaufnahmen und O-Töne. Durch die Annäherung Taleses an seine, wenn man so will, Protagonisten sind sie vielmehr Psychogramme der von ihm begleiteten Menschen, sie sind gleichzeitig Reportagen und Porträts. Nicht umsonst ist Talese einer der, wenn auch unbekannteren, Vertreter des New Journalism. Er lässt sich, ähnlich wie Hunter S. Thompson und dabei doch ganz anders, Zeit für seine ungemein genauen Beobachtungen. Bis ins letzte Detail hinein fächert er dann seine Beobachtungen auf. Das ist zuweilen so orgiastisch viel Information, dass man sich – wie ebenfalls bei Thompson – beinahe ein bisschen davor fürchtet, sich eingeschüchtert sieht. Aber die Bewunderung für Taleses Beobachtungsgabe obsiegt, die Begeisterung über seine Fähigkeit, Informationen in diese vollendete Form von Sprache einzukleiden. Diese Sprache, die so bezaubernd nebensächlich klingt, dabei aber dem, was Talese sagt, umso mehr Gewicht beimisst, je beiläufiger es erzählt wird. Und man wünscht sich, wenn auch nur für einen Moment, seine Augen und seine Stimme.

Titelbild

Gay Talese: Frank Sinatra ist erkältet. Spektakuläre Storys aus vier Jahrzehnten.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christoph Hahn und Sky Nonhoff.
Der Freitag Mediengesellschaft, Berlin 2009.
414 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783936252262

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