Die Türkei zwischen Tradition und Moderne

Orhan Pamuks Romane „Das stille Haus“ und „Das Museum der Unschuld“

Von Tina RathRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tina Rath

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im vergangenen Jahr erschien Pamuks viel beachteter Roman „Das Museum der Unschuld“. Ein Jahr später veröffentlicht nun der Hanser-Verlag „Das stille Haus“, einen Roman aus dem Frühwerk Pamuks, der in der Türkei bereits 1983 erschienen ist.

Wer „Das Museum der Unschuld“ kennt, wird von „Das stille Haus“ wahrscheinlich überrascht sein. Beide Romane zeigen die Türkei in einem Spannungsfeld aus Tradition und Moderne, trotzdem könnten sie unterschiedlicher nicht sein.

In „Das Museum der Unschuld“ nimmt Pamuk den Leser mit in das Istanbul von 1975. Kemal und Sibel feiern ihre Verlobung – im Hilton-Hotel, der angesagtesten Location der Stadt. Das Fest ist größer und teurer als die eigentliche Hochzeit der meisten Türken: Kemal und Sibel gehören zur Oberschicht. Sie sind jung, reich und schön, sie haben im Ausland studiert, und für Kopftuch tragende Anatolierinnen haben sie nur Verachtung übrig. Sie schlafen schon vor der Ehe miteinander; in ihrem Freundeskreis gibt man sich modern. Alles scheint perfekt; es gibt nur einen Haken: Kemal hat seit sechs Wochen eine leidenschaftliche Affäre mit der achtzehnjährigen Füsun. Diese entfernte Verwandte, die aus einfachen Verhältnissen stammt, war bei der Familie in Ungnade gefallen, nachdem sie an einem Schönheitswettbewerb teilgenommen hatte. Nach Jahren sieht er sie nun zum ersten Mal wieder. Unter dem Vorwand, ihr Nachhilfe in Mathematik zu geben, trifft sich Kemal mit ihr in einer Wohnung, in der seine Mutter ausgemusterte Möbel und irgendwelchen Nippes abstellt.

Er setzt sie auf die Gästeliste für die Verlobungsfeier. Zu fortgeschrittener Stunde und mit erhöhtem Alkoholpegel tanzt er sogar mit seiner Geliebten, und die beiden verabreden, sich trotz der Verlobung weiterhin zu treffen.

Aber nach der Feier verschwindet Füsun. Der Liebeskummer nimmt einen zentralen Platz in Kemals Leben ein. Neben einer depressiven Symptomatik entwickelt er diverse psychosomatische Beschwerden: In seinen Innereien frisst ein physischer Schmerz. Mit Sibel kann er nicht mehr schlafen; die beiden verstehen sich überhaupt nur noch, wenn sie hinreichend angetrunken sind. Allmählich leben sie sich auseinander, aber Kemal behält den Grund seines Leidens für sich. Während Sibel mit Freunden in Paris Urlaub macht, zieht er in ein Hotelzimmer in einem heruntergekommenen Viertel, in dem er den Grundstein für seine jahrelange Leidenschaft legt, Dinge zu horten, die ihn an Füsun erinnern. Zuerst interessieren ihn nur Gegenstände, die die Geliebte tatsächlich selbst berührt hat, da er glaubt, ihr Geruch hafte noch an ihnen. So sammelt er Zigarettenkippen, an denen noch ihre Lippenstiftspuren kleben, Nippes, mit dem sie gedankenverloren gespielt hat, schließlich aber weitet er seine Sammelleidenschaft aus auf alles, was in ihm die Erinnerung an das Istanbul der Zeit, in der ihre Liebe gefallen ist, wachruft.

Endlich, Monate später, erreicht ihn ein Brief Füsuns mit einer Einladung zum Abendessen. Kemal ist überglücklich – bis Füsun ihm zu diesem Anlass ihren frischgebackenen Ehemann vorstellt. Unter fadenscheinigen Vorwänden besucht Kemal sie und ihre Familie jahrelang und entwendet aus ihrem Haushalt weitere Gegenstände, die Zeugen sein sollen für die Liebe der beiden und das Istanbul der siebziger Jahre.

Kemal sieht ein, dass Füsun froh sein konnte, einen Mann zu finden, der sie heiratete, obwohl sie keine Jungfrau mehr war. Auch an der Figur Sibels, die Kemal schließlich ihren Verlobungsring zurückschickt, wird deutlich, dass sich die Jugend der 1970er-Jahre gern modern und aufgeklärt gibt, aus der jahrhundertelangen islamischen Tradition aber nur schwer ausbrechen kann.

Fünfundzwanzig Jahre später bereut Kemal immer noch, Füsun nicht sofort einen Heiratsantrag gemacht zu haben; er hat stattdessen ein Museum gegründet, in dem er alle seine gesammelten Objekte ausstellt, das „Museum der Unschuld“. Der Roman liest sich wie ein kunstvoll ausformulierter Ausstellungskatalog dazu.

Mit diesem Roman entführt uns Orhan Pamuk in eine uns kaum bekannte Welt. Das Istanbul der 1970er-Jahre ist einerseits erstaunlich modern, andererseits aber auch seinen Traditionen verschrieben, die nun einmal in der Religion wurzeln. Dieses Dilemma beschreibt Pamuk mit feiner Ironie, aber auch einer großen Portion Anteilnahme. Für die Liebe und das daraus resultierende Leiden Kemals findet er einfühlsame Worte. Er versteht es, den Leser schon früh dunkel ahnen zu lassen, dass die Geschichte der beiden Liebenden keinen guten Ausgang nehmen wird, und dennoch bis zum Schluss die Spannung aufrechtzuerhalten, die einen bemerkenswerten Kontrast bildet zu der eher mageren äußeren Handlung des Romans – chapeau!

„Das Museum der Unschuld“ ist neben einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte und einem Museumskatalog aber nicht zuletzt auch eine Hommage an das Istanbul der siebziger Jahre, einen Ort, den es heute, nach einem Vierteljahrhundert des eifrigen Abreißens, Planierens und Neuerrichtens, nicht mehr gibt. Beide, Roman und Museum, konservieren ein (Lebens-)Gefühl, und, um Kemal (und damit Pamuk) zu zitieren: „Ist nicht eigentliches Ziel von Roman und Museum, unsere Erinnerungen so aufrichtig wie möglich zu erzählen und dadurch unser Glück in das Glück anderer zu verwandeln?“ Ohne das Museum der Unschuld jemals betreten zu haben: Der gleichnamige Roman hat dieses Ziel definitiv erreicht.

Fünfundzwanzig Jahre vor „Das Museum der Unschuld“ erschien in der Türkei der Roman „Das stille Haus“, der nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Die Handlung fällt in den Sommer des Jahres 1980, kurz vor dem Militärputsch am 12. September.

Die Geschwister Nilgün, Metin und Faruk verbringen wie jedes Jahr eine Woche im Haus ihrer Großmutter am Marmarameer. Nilgün liebäugelt mit dem Sozialismus, Metin träumt von einem Studium in Amerika. Faruk, der Historiker, sucht tagsüber in den Archiven der Gegend Stoff für ein Geschichtsbuch. Abends trinkt er und denkt an seine geschiedene Frau.

Die neunzigjährige Großmutter Fatma verbringt viel Zeit im Bett und führt Gespräche mit ihrem verstorbenen Ehemann, ansonsten schikaniert sie den kleinwüchsigen Hausdiener Recep. Dann ist da noch Hasan, Receps Neffe, der sich einer nationalistischen Gruppierung angeschlossen hat und mit seinen Machtfantasien seine schlechten Schulnoten zu kompensieren sucht. Als er sich in Nilgün verliebt, spitzt sich die Situation zu.

Der Roman wird abwechselnd aus den Perspektiven Receps, Fatmas, Metins, Faruks und Hasans erzählt. Jedem dieser Charaktere gibt Pamuk seine ganz eigene, unverwechselbare Sprache – aber auch eine Gedankenwelt, aus der sie nicht ausbrechen können.

Fatma ist ganz in der osmanischen Tradition verhaftet und führt in Gedanken Streitgespräche mit ihrem verstorbenen Mann, dem Arzt Selâhattin. Dieser war westlich orientiert und schrieb an einer Enzyklopädie, um die seiner Meinung nach rückständigen Türken von der Überlegenheit der Wissenschaft über den Glauben zu überzeugen – Fatma ihrerseits ist überzeugt, dass er für seine Sünden nun in der Hölle büßen muss. Außerdem plagt sie ein dunkles Geheimnis, in dem auch Recep eine Rolle zu spielen scheint.

Faruk weiß schon lange nicht mehr, warum er Historiker geworden ist. Die Begeisterung für die Geschichte ist ihm irgendwann abhanden gekommen. Eigentlich möchte er ein Buch über eine Pest schreiben, die zu Anfang des Jahrhunderts am Marmarameer wütete, aber er verliert sich mehr und mehr in den Akten des Archivs und fragt sich, was Geschichte von Geschichten unterscheidet – und wann er endlich den nächsten Raki trinken kann.

Metin trifft Bekannte, allesamt Kinder reicher Leute. Die Jugendlichen versuchen ihre Langeweile mit Alkohol, Marihuana und schnellen Motorbooten zu betäuben. Ihre Gespräche sind inhaltsleer und ziehen sich oft über mehrere Seiten. Damit stellt Pamuk die Geduld des Lesers stellenweise auf eine harte Probe. Allerdings macht er es dem Leser auf diese Weise möglich, sich in Metin hineinzuversetzen, der das Gefühl hat, anders zu sein als diese reichen Jugendlichen, die mit ihrem Leben nichts anzufangen wissen, während er von einem naturwissenschaftlichen Studium in Amerika träumt. Gleichzeitig wird ihm jedoch klar, dass seine Familie kein Geld hat, um ihn dabei zu unterstützen.

Hasan ist erst seit Kurzem Mitglied der nationalistischen Jugend. Die anderen Mitglieder lassen ihn das unausgesetzt spüren, was Hasan langsam wütend macht. Die Gruppierung ist vor allem damit beschäftigt, Schutzgeld von den Ladenbesitzern im Ort zu erpressen. Hasan gerät in einen Konflikt, als er sich in Nilgün verliebt, die sich offen sozialistisch gibt. Einerseits bewundert er sie für ihre Schönheit und spioniert ihr heimlich nach, andererseits beschimpft er sie als „Societyschlampe“, die sich für seinen Geschmack viel zu aufreizend kleidet. Hasan, der aus ärmlichen Verhältnissen kommt, fühlt sich dazu berufen, die Türkei nach nationalistischen Idealen zu gestalten und die Sozialisten zu besiegen. Er hat immer wieder wütende Machtfantasien, kann aber doch den Gedanken nicht abschütteln, dass er immer eine sklavische Natur sein wird: In einer Schlüsselszene des Romans lässt Metin Hasan den klapprigen türkischen Wagen seines Bruders einen Berg hinaufschieben. Es regnet in Strömen, Hasan müht sich ab, und Metin rührt keinen Finger. Der Leser fühlt sich an Sisyphos erinnert, und tatsächlich glaubt Hasan irgendwann, einen Felsbrocken den Berg hinaufzurollen. Gleichzeitig kann der klapprige Wagen, der nicht anspringen will, auch als ein pars pro toto für den Fortschritt der Türkei gelesen werden. Schließlich springt er doch an, rollt den Hügel herunter – auf der anderen Seite. Metin sitzt am Steuer, Hasan bleibt im Regen stehen.

An vielen Charakteren wird auch in diesem Roman Pamuks die Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft zwischen Vergangenheit und Zukunft, osmanischer Tradition und westlich orientiertem Fortschritt, Religion und Wissenschaft, Asien und Europa deutlich. Vielleicht hat Pamuk nicht ganz zufällig als Schauplatz der Handlung die Gegend am Marmarameer ausgewählt, das die geografische Grenze zwischen diesen beiden Kontinenten bildet.

Ganz unterschiedlich ist die Sprache in den beiden Romanen: Während Pamuk in „Das Museum der Unschuld“ die unglückliche Liebe Kemals mit geradezu epischem Atem erzählt, lässt er in „Das stille Haus“ die fünf Erzähler in teilweise redundanten, oft quälenden Gedankengängen um sich selbst kreisen. Die Sprache, die man in „Das Museum der Unschuld“ als schön und allenfalls ein wenig melancholisch empfindet, erscheint hier zerhackt und als wenig geeignetes Mittel, die anderen Menschen zu erreichen, mit ihnen in Interaktion zu treten. Sie dekonstruiert sich selbst. „Das stille Haus“ ist damit sehr viel sperriger als „Das Museum der Unschuld“. Während sich letztgenanntes auf der Metaebene mit den Gemeinsamkeiten von Roman und Museum auseinandersetzt, stellt „Das stille Haus“ die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichte und Geschichten, „denn“, denkt Faruk in seinem Archiv, „Geschichte besteht ja nicht einfach aus dem Erzählen von Geschichten. Ein gutes Geschichtsbuch muss sich von einem guten Erzählband oder einem guten Roman noch durch etwas anderes abheben als nur durch die Fußnoten. Aber wodurch genau?“ Eine befriedigende Antwort findet er nicht.

Titelbild

Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld.
Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
476 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446230613

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Titelbild

Orhan Pamuk: Das stille Haus. Roman.
Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
367 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446234000

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