Sprache, Empathie, Autismus

Neurowissenschaftler bilanzieren die Spiegelneuronen-Forschung

Von Yvonne WübbenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Wübben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Begreifen, was uns ergreift“ – mit diesen Worten charakterisierte der Germanist Emil Staiger einen Ansatz, der durch die subjektive und objektive Analyse von Texteigenschaften ermitteln wollte, warum uns bestimmte Gedichte bewegen. Will man Hirnforschern wie Marco Iacoboni glauben, haben die Geisteswissenschaften in diesen Fragen bald ausgedient: Ergreifende Gedichtlektüren sind demnach bloß eine elaborierte Variante basaler und letztlich motorischer Prozesse, die durch Spiegelneurone erklärt werden könnten.

Seit den 1990er-Jahren wird mit Spiegelneuronen ein Zelltyp erforscht, der für Empathie, Einfühlung und für das Erkennen von Intentionen verantwortlich sein soll. Entdeckt wurde der Zelltyp erstmals im Affenexperiment. Man präsentierte einem Versuchstier einfache Handlungen – wie Greifbewegungen – und stellte fest, dass gewisse Neurone sowohl aktiv sind, wenn der Affe die motorische Handlung selbst ausführt, als auch dann, wenn er die Ausführung derselben Handlung nur beobachtet. Dass die untersuchten Neurone nicht grundlegend zwischen eigenen und fremden Handlungen unterscheiden, folgerte der Neurowissenschaftler Marco Iacoboni in seinem 2009 erschienenen Buch „Warum wir wissen, was andere denken und fühlen“. Darin fasst er zunächst die jüngeren Forschungsergebnisse zusammen. Seit der Entdeckung der Spiegelneurone in den 1990er-Jahren wurde das oben beschriebene Ausgangs-Experiment vielfach variiert. Man ließ Affen unterschiedliche (Greif-)Handlungen beobachten und stellte fest, dass es kongruente und weniger kongruente Neurone gab. Das heißt: Einige Neurone feuern immer, andere nur in bestimmten Situationen. Diese Experimente trugen zu einem differenzierteren Verständnis der Zellen bei und dienten ferner der Identifikation intentionsspezifischer Spiegelneurone.

Iacobonis eigene Forschung beschränkt sich allerdings nicht auf das Tierexperiment. Er zählt zu jenen Forschern, die nicht mit Affen, sondern mit Menschen experimentieren. Dabei wendet er nicht-invasive Verfahren an, etwa die funktionale Magnetresonanztomographie (fMRI). Man legt dazu Probanden in einen Scanner und zeigt ihnen einfache Handlungen, etwa das Krümmen eines Fingers. Danach bittet man den Probanden, die Handlung selbst auszuüben. Jene Areale, die sowohl beim Beobachten als auch beim Ausführen aufleuchten, werden heute als humane Spiegelneuronen-Areale bezeichnet. Es sind beim Menschen die BA 40/44.

Ganz unumstritten ist das Schlüsselexperiment zum Nachweis humaner Spiegelneurone jedoch nicht. Die ausgewiesenen Areale sind erstens relativ groß. Sie enthalten zudem zahlreiche motorische und sensorische Neurone. Kritiker schließen daher nicht aus, dass die konstatierte Überlappung gar nicht auf zellulärer Ebene stattfindet. Theoretisch könnten jeweils eng beieinander liegende motorische beziehungsweise visuelle Verbände aktiviert sein, ohne dass ein Scan diesen Unterschied erfassen würde. In der Konsequenz hieße das, dass das Experiment gar keine Spiegelneurone misst.

Gleichwohl sind nicht-invasive Spiegelneuronen-Experimente heute weitgehend anerkannt. Von Iacoboni wurden sie sogar entschieden modifiziert. Er bemühte sich, Vernetzungen zum limbischen System und zum Sprachsystem nachzuweisen und stellte auf dieser Basis weitere Überlegungen zur möglichen Funktion von Spiegelneuronen an. Iacobonis Versuchsdeutungen sind jedoch keineswegs allgemein anerkannt. Denn er untersucht beim Menschen Areale, die beim Affen experimentell noch nicht erfasst wurden beziehungsweise in denen keine Spiegelneuronen nachgewiesen werden konnten. Ferner tendieren seine Ausführungen über Sprache, Empathie und Autismus oft zum Spekulativen. Sie geben sich optimistisch, wo eindeutige Befunde fehlen. Wer genau hinsieht, erkennt, wo das Buch von sachlicher Wissenschaftsprosa auf literarische Erzählweisen umschaltet. Iacoboni gibt sich gern als eine Art Neuro-Held, der den Menschen komplexe Sachverhalte erklären kann. Er verknüpft saloppe neurowissenschaftliche Belehrungen mit wohldosierten Einblicken ins Private, mit Exkursen über Fußball, Harry Potter und den italienischen „Weltklasseexport“ Parma-Schinken. All das steht neben vielen, zum Teil recht hochtrabenden Formulierungen und Hoffnungen in die eigene Forschung, wie etwa der Vergleich von Spiegelneuronen-Forschung und Genom-Kartierung zeigt. Mag das Eigenlob zuweilen augenzwinkernd vorgetragen sein, der daraus abgeleitete Anspruch ist es sicher nicht.

Zwar will uns Iacoboni den Spiegelneuronen-Menschen als einen humaneren und besseren vorstellen. Zugleich aber sollen intakte Spiegelneurone die biologische Norm des besseren Menschen bilden. Der Reduktionismus dieser Anthropologie ist Programm. Denn Iacoboni zählt zu den Anhängern der so genannten Simulationstheorie, die Verstehen nicht als mentalen Vorgang begreift, sondern als einen mehr oder weniger unbewussten, durch Spiegelneurone vermittelten Prozess. Fragwürdig sind allerdings vor allem die daraus resultierenden politischen Forderungen. Iacoboni folgert nicht nur, dass neurobiologische Mechanismen Sozialverhalten wesentlich formen. Er fordert auch die Anpassung gesellschaftlicher Normen an die Ergebnisse der Hirnforschung. Beispielsweise schlägt er den Einsatz von Bio-Markern vor, die Spiegelneuronen-Aktivität messen und so zur Prävention von Gewaltverbrechen beitragen könnten. Man kann sich über diese Neuropolitik nur wundern, zumal das Buch viele interessante Fragen entweder nicht stellt oder nicht beantwortet: etwa, was im Gehirn passiert, wenn wir eine Handlung nur antizipieren und nie ausüben.

Iacoboni tendiert dazu, den Blick einzig auf einen Zelltyp zu richten und diesen als alleinigen Schlüssel zum Verständnis von Empathie, Sprache und Gewalt zu begreifen. Dadurch, dass er das Wort ‚Spiegelneurone‘ durch alle Gassen hetzt, bringt er die seriöse Forschung in Misskredit. In der Tat zählen Spiegelneuronen zu den wegweisenden Befunden der 1990er-Jahre. In dem über weite Strecken informativen Buch von Corrado Sinigaglia und Giacomo Rizzolatti, der zu den Entdeckern der Spiegelneurone zählt, erfährt man verschiedene Gründe dafür. Prägnant und für Laien gut verständlich wird dort die Bedeutung eines Zelltyps erläutert, der unser Verständnis vom Aufbau und von der Funktion der prä-motorischen und motorischen Rinde entscheidend verändert hat. Zum einen ist die Verschaltungsdichte der Spiegelneuronen höher als für die Rinde bislang angenommen. Zum anderen sind unterdessen zahlreiche parallele Verschaltungen nachgewiesen, die das gängige Funktionsbild der Rinde als Input-Output-Region wandelt. Die klassische Kartierung von Wilder Penfield erweist sich vor diesem Hintergrund als vereinfachend und ist damit ebenso hinfällig geworden wie die physiologische Unterscheidung von sensorischen, perzeptiven und motorischen Funktionen.

Wie Iacoboni halten Rizzolatti/Sinigaglia ein ähnliches Resonanzsystem auch beim Menschen für wahrscheinlich und sehen dessen Bedeutung darin, Handlungen zu begreifen. Um ein Konzept wie ‚Greifen‘ zu verstehen, müssen demnach bestimmte Greif-Neurone aktiviert sein. Diese so genannte körperbasierte Theorie der Kognition („embodied cognition“) besagt, dass motorische Neurone für das Verständnis von Handlungen wegweisend sind. Bei Rizzolatti/Sinigaglia liest sich das so: „Dank der Einbeziehung [der motorischen Areale; YW] ist es dem Affen wie dem Menschen möglich, die Bedeutung der beobachteten ‚motorischen Ereignisse‘ zu entschlüsseln, sie also als Handlungen zu verstehen, wobei das Verstehen keiner Vermittlung durch Denken, Begriffe und/oder Sprache bedarf, denn es beruht einzig und allein auf dem Wörterbuch der Akte und dem motorischen Wissen, von denen unsere Fähigkeiten zu handeln abhängt.“ Schon die Kursivierung von ‚Verstehen‘, ‚Bedeutung‘, ‚Wörterbuch‘ und ‚Wissen‘ zeigt die anti-kognitivistische Verwendung dieser Worte, die sich in der Objektsprache der Spiegelneuronen-Forscher durchgesetzt hat. In der Tat grenzen sich Rizzolatti/Sinigaglia dezidiert von der kognitiven Neurowissenschaft ab. Ganz neu ist diese Tendenz nicht. Für den amerikanischen Behavioristen John B. Watson, der übrigens wie Iacoboni in die Werbepsychologie tätig war, lassen sich Gedanken allein auf senso-motorische Gewohnheiten des Kehlkopfes zurückführen. Auch Rizzolatti/Sinigaglia scheinen an diese behavioristischen Weisheiten anzuknüpfen und ihnen einen neurowissenschaftlichen Anstrich zu geben.

Die neurowissenschaftliche Verwendung von ‚Verstehen‘, ‚Kontext‘, ‚Intention‘ und ‚Handlung‘ hat mit der geistes- oder literaturwissenschaftlichen wenig gemein. Das mag mit den unterschiedlichen Verfahren der Wissensgewinnung zusammenhängen. Für Neurowissenschaftler ist das Experiment eine zentrale epistemische Kategorie und Praxis. Es ist an Ideale wie Reproduzierbarkeit und Vergleichbarkeit gekoppelt und bringt ein umschriebenes Spektrum an möglichen Gegenständen hervor. Im Experiment können solche Handlungen untersucht werden, die mit den Versuchsbedingungen kompatibel sind, das heißt die den Maßstäben von Kontrollierbarkeit und Reproduzierbarkeit Stand halten und somit die experimentellen, epistemischen Normen reflektieren. Eine interdisziplinäre Erweiterung der Empathie-Forschung scheint vor diesem Hintergrund einerseits wünschenswert. Anderseits – und das mutet paradox an – scheint sie die Differenz der Wissenschaften zu verfestigen. Denn gerade dort, wo Gegenstände wie ‚Empathie‘, ‚Ekel‘ und Verstehen‘ heute im interdisziplinären Zusammenhang erforscht werden, spannt sich die Schere zum Teil weiter auf, scheinen die Begriffe wenig kompatibel.

Freilich sollte dieser Umstand nicht gegen die Spiegelneuronen-Forschung angeführt werden. Die Kritik aus eigenen Reihen wirft mitunter aber ein zweifelhaftes Licht auf das Potential dieses Ansatzes. Kritisiert wird heute etwa, dass Imitationsverhalten bislang primär verhaltenspsychologisch getestet und nicht in direkten Einzelzell-Ableitungen untersucht wird. Zudem weisen einige in der Spiegelneuronen-Forschung verbreitete Verfahren (wie die transkranielle Stimulation) eine schlechte räumliche Auflösung auf. Die simultane Aktivierung von Inselarealen, die für Empathie oder Gefühle zentral sind, und von prä-motorischer Rinde wird zuweilen als Koinzidenz gewertet, die noch nichts über die mögliche oder fehlende Beteiligung kognitiver Prozesse aussagt.

Insgesamt ist das Buch von Rizzolatti/Sinigaglia um einiges sachlicher und zurückhaltender in der Deutung der Spiegelneuronen-Experimente als das Iacobonis. Gleichwohl vermisst man auch hier eine kritische Auseinandersetzung mit den Gegenstimmen aus dem eigenen Feld.

Der Text ist eine ausgearbeitete und ergänzte Version einer in der FAZ vom 21.10.2009 erschienenen Rezension („Jeder weiß, was Sie denken. Dieser Hirnforscher hat einen Traum: Marco Jacoboni erklärt mit dem Konzept der Spiegelneurone die Welt“).

Titelbild

Giacomo Rizzolatti / Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls.
Übersetzt aus dem Italienischen von Friedrich Griese.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
230 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518260111

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marco Iacoboni: Woher wir wissen, was andere denken und fühlen. Die neue Wissenschaft der Spiegelneuronen.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009.
320 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783421042361

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