`Pataphysische Wortkunst

Julien Tormas „Euphorismen“ in deutscher Erstübersetzung

Von Felix Philipp IngoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Philipp Ingold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Klaus Völker, verdienter Herausgeber der Werke Alfred Jarrys und Boris Vians in Deutschland, legt nun erstmals ein Buch des hierzulande noch kaum bekannten französischen Dichters Julien Torma vor (1902 bis 1933), der inzwischen zu den Klassikern jener experimentellen Wortkunst gehört, die vorab im Umkreis des Collège de `Pataphysique und des Ouvroir de littérature potentielle (Oulipo) gepflegt wurde und weiterhin gepflegt wird. Der vorzüglich gestaltete Band enthält nebst Tormas „Euphorismen“ von 1926 und dem dazu gehörenden Register ein informatives Nachwort sowie umfangreiche erklärende Anmerkungen des Herausgebers, die eindrücklich vor Augen führen, wie weitläufig auch die prinzipiell traditionsfeindliche und wissenschaftskritische `Pataphysik mit der europäischen literarischen Kultur vernetzt war: von Michel de Montaigne und Blaise Pascal bis zum Comte de Lautréamont, zur Comtesse de Noailles und zu Marcel Proust reicht das Einzugsgebiet von Tormas ausufernden Lektüren, die in den „Euphorismen“ vielfaches, meist ironisch gebrochenes Echo finden.

Mit den Surrealisten teilt Torma sein vorrangiges Interesse an Träumen, Rätseln, Spielanlagen, Zufällen, jähen Epiphanien und erotischer Akrobatik, aber auch, umgekehrt, seine Skepsis gegenüber jeglichem System- und Fortschrittsdenken, ja, gegenüber dem „Gedanken“ und der Rationalität schlechthin. Dass er nicht zuletzt den bestehenden Kunst- und Literaturkanon der Grande Nation dezidiert ablehnt, braucht folglich kaum noch eigens unterstrichen zu werden. − Die „Euphorismen“, locker komponiert aus Notaten aller Art, aus Mikroessays und aphoristischen Phrasen, aus Traumtranskripten und wortspielerischen Lyrismen, sind denn auch mehrheitlich ex negativo formuliert, beziehen ihren meist polemischen Impuls aus dem Widerspruch gegen Ordentlichkeit, Normalität, Harmonie, Automatismus, Autorität, Gewissheit, Konvention, festen Glauben, guten Geschmack und gesunden Menschenverstand. Torma gibt sich damit im eigentlichen Wortsinn als Reaktionär zu erkennen – seine Art, literarisch zu agieren, besteht hauptsächlich darin, auf fremde, für ihn unakzeptable Behauptungen, Glaubenssätze, Meinungen zu reagieren.

Von daher erklärt sich auch die vorwiegend parodistische, nicht selten zynische Intonation mancher seiner „Euphorismen“, die weit eher zur Kakophonie der Schmährede denn zu rhetorischem Jubel neigen. Kunst und Komik werden konsequent unterdrückt durch einen galligen Griesgram, der Erhabenes wie Triviales verächtlich abfertigt und dessen euphorischer Zynismus bloß in der Schwäche oder Langeweile hin und wieder zur Ruhe kommt. Stuss und Müll, Peinlichkeiten und Scheiße jedweder Art zieht Torma allem vor, was gut, schön, wahr ist, und doch bleibt selbst der Po, als das bessere Antlitz des Menschen, nicht von ihm verschont. Darm, Sprache, Gefühlshaushalt, Museum, Gehirn, Erinnerung, Zukunft – alles muss entrümpelt werden, und Entrümpelung soll als neue Produktionsweise gelten. Torma zitiert Leonardo da Vinci: „Sie werden nur volle Latrinen hinterlassen.“ Und selbst meint er: „Müll? Nun ja, ein sehr großes Wort. Aber ist es nicht amüsant, in den Mülltonnen herumzustochern? Das ist sogar poetisch.“

Da alles hienieden – ewiges Recycling – sich gleich bleibt, kann man der Welt nach Tormas Überzeugung nur durch Gleichgültigkeit gerecht werden, nur dadurch also, dass man alles für gleichermaßen gültig und damit auch für gleichermaßen nichtig erklärt. Solche Gleichgültigkeit lässt jede Hierarchie (oder, zeitgemäß ausgedrückt, jedes Rating) hinfällig werden, sie kennt weder Fortschritt noch Gewinn, und da sie Unterschiede ausblendet, kann ihr – der Kalauer stammt vom „euphorischen“ Dichter – selbst das Ego egal sein. „Man entfesselt Sintfluten, Kriege oder Revolutionen, die viel kosten, und nachher wird alles wieder wie vorher. In der Tat, sei der Kleinkram nun maximalistisch oder minimalistisch, legalistisch oder korporativ, französisch oder deutsch und alles, was man möchte, sie basteln am selben Text.“

Tormas poetischer Egalitarismus findet seinen adäquatesten Ausdruck im Wortspiel, das nicht mehr unter der Alleinherrschaft des Autors steht, sondern unter dem unausweichlichen Diktat des Zufalls, der seinerseits aus der Eigendynamik des Sprachmaterials erwächst, was besonders offenkundig bei anagrammatischen Fügungen, beim Palindrom oder bei der Homophonie der Fall ist. Hier geht es um lettristische oder lautliche Gegebenheiten, die nicht erfunden, nur gefunden werden können, um poetische Verfahren, die den Autor als Sprachschöpfer entmächtigen, ihn auf die nicht minder produktive Funktion eines Arrangeurs beziehungsweise – in Tormas eigenen Worten – eines „Souffleurs der Sprache“ verweisen.

Torma selbst hat derartige Verfahren („dem Zufall auf die Schulter klopfen“) mit Vorliebe praktiziert, um klar zu machen, dass unter solchen Voraussetzungen nicht er als Autor die Textbedeutung bestimmt, dass diese sich vielmehr ergibt aus entsprechend arrangierten Lautkonstellationen. Das nachmals vieldiskutierte „Verschwinden des Autors“ findet hier im poetischen Sprachspiel eine valable Rechtfertigung, ist aber für Torma weit mehr als eine bloß spielerische Angelegenheit – tatsächlich bildet es den alles dominierenden Fluchtpunkt nicht nur seines Werks, sondern auch seiner dichterischen Existenz.

Im Gegensatz zu seinen surrealistischen Zeitgenossen (René Crevel, Maurice Daumas, Robert Desnos), im Gegensatz auch zu seiner eigenen „euphorischen“ Rhetorik ist Torma ein zutiefst nachdenklicher Elegiker, dessen Wortwitz nicht über sein tragisches Selbst- und Weltverständnis hinwegtäuschen kann. Ebenso konsequent wie sein Verschwinden als Autor hat er sein persönliches Verschwinden betrieben, und ebenso spärlich wie seine schmalen literarischen Zeugnisse sind die Lebensspuren, die er hinterlassen hat. Tormas Biografie ist so diffus, dass man sie am besten im Konjuktiv liest: er sei 1902 in Cambrai geboren, als Waise bei einem zwielichtigen Ziehvater an wechselnden Orten aufgewachsen, habe früh zu schreiben begonnen und sich als Schwuler geoutet; sei mit Max Jacob und einigen namhaften surrealistischen Dichtern zugange gewesen; habe Militärdienst geleistet, sich mit Gelegenheitsarbeiten sein Existenzminimum gesichert; sei in Frankreich weit herumgekommen, womöglich auch einmal nach Griechenland gereist. Die Aufbewahrung und Veröffentlichung seiner Texte habe er gänzlich desinteressiert zwei, drei Freunden überlassen, um 1933 als nomadisierender Lebenskünstler auf einer Wanderung in den Tiroler Alpen spurlos zu verschwinden. Seither scheint seine Legende, die ihn auch schon mal mit dem Gletschermann Ötzi identifiziert hat, mehr Realitätsgehalt zu haben denn seine defizitäre Biografie.

Die Frage, ob Torma tatsächlich gelebt und die unter seinem Namen vorliegenden Texte auch selbst verfasst hat, ist mehrfach gestellt, aber nie ganz schlüssig beantwortet worden. Handelt es sich bei seinem Leben und Werk vielleicht um eine `pataphysische Mystifikation? Doch selbst wenn er ein imaginäres Konstrukt sein sollte – sein Werk ist vorhanden, liegt gedruckt vor, kann gelesen und übersetzt, ausgedeutet und fehlgedeutet werden, und bereits hat es einen Präsenzgrad erreicht, der den des Verfassers bei weitem übertrifft. − Ein einziges Zitat sei hier als repräsentatives Exempel für Tormas „euphoristische“ Schreibweise angeführt, in der Wortschalk, Blödelei, Provokation und tiefere Bedeutung auf unverwechselbare Weise amalgamiert sind: „Wie, in der Tat, sich ausdrücken, wenn dieses Wort sich selbst einen skatosoziologischen Ausdruck verleiht und ihm als Urbild der Redeweise die Weihe erteilt? Wie dieser Kakophonie entkommen, da nun einmal, das erfuhr man durch Spezialisten, das Schweigen noch stinkender beredt ist als die Stimme? Man müsste die Sprache ein für alle Mal entleeren (vidanger).

Aber wir wissen, dass das unmöglich ist. Man kann immer ablehnen, IHRE Scheiße zu essen: man wird es nicht vermeiden, in ihr herumzuwaten. Man geht nicht fort. Dann ist man also gezwungen, diese Fäkalsprache zu gebrauchen, die es gibt, um von der Schande zu sprechen, der sie verfallen ist. Das ist eine Notlösung: aber doch mit diesem Luxus, unsere von den Konditoren des Mülls angeprangerte Koprolalie zu sehen.“

Als „ein völlig von der Mehrdeutigkeit der Dinge und Wörter überzeugter Mensch“ macht Torma es sich zur dichterischen Aufgabe, Wörter und Dinge „wenigstens vollkommen durcheinander zu bringen“, dies mit der kalkulierten Absicht, den Leser und mehr noch den Kritiker oder Übersetzer gleichermaßen zu verlocken und abzuschrecken.

Titelbild

Julien Torma: Euphorismen. Fragmente und Äußerungen, gesammelt von Jean Montmort.
Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Klaus Völker. Mit Illustrationen von Julien Torma.
Übersetzt aus dem Französischen von Klaus Völker.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009.
138 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783882216691

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