Vom Zauber der Buchstaben

Schriftsteller erzählen, wie sie die Welt des Lesens entdeckten

Von Jutta LadwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Ladwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor dem Schreiben kommt das Lesen. Denn Bücher entführen uns in fremde Welten, lassen uns Bekanntschaft machen mit Helden, Schurken oder Zauberinnen und inspirieren uns zu Abenteuern in unserem eigens erdachten Universum. Doch für jeden Menschen gibt es eine Zeit ohne die bedruckten Seiten zwischen den Buchdeckeln: die Jahre, bevor man lesen kann.

Das gilt auch für Autoren wie Martin Suter, Ingrid Noll oder Donna Leon, die mit ihren Werken vielen Lesern unterhaltsame Stunden schenken. Auch sie mussten erst lernen, wie man mit dem Alphabet umgeht – und öffneten sich damit die Tür in die wunderbare Welt der Literatur. Daniel Kampa hat die Erinnerungen an ihre ersten Leseerfahrungen in „Wunderbare Wörterwelt“ zusammengestellt.

Zum Beispiel Martin Suter: Er blickt zurück in seine Kindheit und erzählt von seiner großen Leidenschaft für Karl May. Im Gegensatz zum Vater, der die Bücher heimlich lesen musste, sind Suter alle Bände problemlos in der Bibliothek zugänglich. Doch da das heimliche Lesen den Abenteuern von Winnetou und Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi einen zusätzlichen Reiz hat, richtet sich Suter ein Leseversteck in einer alten Apfelhurde, einem grob gezimmertes Regal für Winteräpfel und Kartoffeln, ein. Und gelesen wir natürlich stilecht mit der Taschenlampe.

Die „Heidi“ von Johanna Spyri ist Ingrid Nolls Kindheitsheldin. Während sie selbst in China lebte, tobte Noll in Gedanken mit Heidi und den Ziegen Schwänli und Bärli über die Almen. Der Geißenpeter, der mit elf Jahren noch nicht lesen kann, entlockte ihr ein „überhebliches Gelächter“, die blinde Großmutter „ein paar Tränen“. Noll litt mit Heidi unter dem scheußlichen Fräulein Rottenmeier, der schnippischen Tinette und dem langweiligen Lehrer. Doch teilte die Autorin von „Kalt ist der Abendhauch“ Heidis Lebensfreude, als diese heimkehrt auf die Alm: „[…], wo blaue Enziane, rote Himmelschlüssel, goldene Ziströschen und duftende Prünellen in frischen Lüften und hellem Sonnenschein gedeihen und wo der Wind in hohen Tannen braust – dort fand ich mein heimliches Paradies im heimischen Ostasien.“

Auch Krimiautorin Donna Leon kann sich ein Leben ohne Bücher nicht mehr vorstellen. Schon früh lasen ihre Eltern ihr und ihrem Bruder Märchen und Kinderbücher vor. Später war Donna Leon von einem Buch mit englischen Wortspielen fasziniert, denn dieses bot ihr nicht nur Rätselspaß, sondern offenbarte ihr auch die Vielfalt der englischen Sprache: „Ich weiß noch genau, welch freudiges Ereignis mich durchfuhr, als ich die wundersame Entdeckung machte, dass ein und das selbe Wort zwei verschiedene Bedeutungen haben kann. Auf einmal offenbarte sich mir die Sprache als ein Spielzeug, das alle anderen übertrumpfte.“

Weiter berichten Doris Dörrie, Doris Lessing, Ruth Rendell oder Brian Moore von ihren ersten Erlebnissen mit Literatur und ihren Lieblingsbüchern. „Wunderbare Wörterwelt“ ist eine Sammlung kurzer und unterhaltsamer Essays, in denen sich Schriftsteller an die Zeit zurückerinnern als sie selbst zu passionierten Lesern wurden. Ihre Erlebnisse sind für jeden, der Bücher liebt, nachvollziehbar, denn wir alle haben schon einmal heimlich unter der Bettdecke gelesen oder mit unseren Lieblingshelden in jeder Lebenslage mitgefiebert. Und vielleicht lässt sich anhand dieser Erfahrungen erklären, woher die Leidenschaft und die Inspiration dieser Schriftsteller für das Schreiben kommt.

Titelbild

Daniel Kampa: Wunderbare Wörterwelt. Schriftsteller erzählen von ihren ersten Leseerfahrungen.
Diogenes Verlag, Zürich 2009.
108 Seiten, 4,00 EUR.
ISBN-13: 9783257797220

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