Gestapo-Karrieren nach dem Ende der Nazi-Diktatur

Ein Aufsatzband von Klaus-Michael Mallmann und Andrej Angrick über „Die Gestapo nach 1945“

Von Jürgen SchmädekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Schmädeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon der Titel ist eine Provokation: „Die Gestapo nach 1945“? Gab es das, war die Gestapo nicht ebenso wie das „Dritte Reich“ mit dem 8. Mai 1945 am Ende? Die Wirklichkeit ist komplizierter, wie dieser Band in den Aufsätzen von 15 Autoren zeigt. Er ist – was den Titel erklären mag – der dritte Teil einer Trilogie, deren erster, „Die Gestapo. Mythos und Realität“, schon einen kurzen Artikel „Gestapo-Mitarbeiter nach 1945“ von Gerhard Paul enthält, und deren zweiter Band speziell der „Gestapo im Zweiten Weltkrieg“ gilt.

In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen waren die „Geheime Staatspolizei“ und der „Sicherheitsdienst“ (SD) im „Reichssicherheitshauptamt“ (RSHA) 1946 zu „verbrecherischen Organisationen“ erklärt worden. Als „verbrecherisch“ galten damit diejenigen Leitungs- und Verwaltungsbeamten, die seit dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 Gestapo-Mitglieder geworden oder geblieben waren, obwohl sie wussten, dass die Gestapo zur Verfolgung und Ausrottung der Juden, zur Ausübung von Grausamkeiten und Morden in Konzentrationslagern, Ausschreitungen in der Verwaltung der besetzten Gebiete, der Durchführung des Zwangsarbeiterprogramme und Misshandlung und Ermordung von Kriegsgefangenen benutzt wurde – und die an solchen Taten persönlich mitgewirkt hatten. Sie mussten Verhaftung und Verurteilung bis hin zur Todesstrafe fürchten, wie sie am RSHA- und Gestapo-Chef Kaltenbrunner 1946 bereits vollstreckt worden war. Im Einsatzgruppenprozess von 1948 verhängten die Amerikaner gegen 14 von 24 angeklagten SS-Führern aus Gestapo und SD die Todesstrafe. Dass von ihnen nur vier vollstreckt wurden, zeigt schon eine Aufweichung der harten Linie im Beginn des „Kalten Krieges“, der andere Prioritäten setzte.

Briten und Amerikaner, schreiben Mallmann und Angrick in ihrem Vorwort, seien 1944 von der „viel zu niedrigen Zahl“ von 15.000 Gestapo-Bediensteten ausgegangen, gegen die „automatischer Arrest“ verhängt werden sollte. Über 25.000 hätten das Kriegsende überlebt (die letzte RSHA-Statistik wies von rund 50.000 Angehörigen 31.371 als Gestapo-Mitarbeiter aus). Insgesamt gab es dann in den drei Westzonen 182.713 internierte Funktionsträger des NS-Systems, von denen Anfang 1947 bereits 86.244 wieder auf freiem Fuß waren. In der US-Zone waren am 28. Februar 1947 noch 1367 Gestapo-Bedienstete interniert. – Leider ist diese erste Phase bis zur Gründung der Bundesrepublik 1949 in dem Buch nur sehr lückenhaft dokumentiert.

Nur rund ein Drittel der ehemaligen Gestapo-Angehörigen gerieten in diesen Jahren in Haft, stellt Jan Kiepe in seinem Beitrag „Zwischen Ahndungsbemühungen und -behinderungen“ fest. Weit waren auch die Maschen der „Entnazifizierung“. Wer nicht mit falschem Namen „untertauchte“ oder (auch mit Beihilfe des Internationalen Roten Kreuzes, des Vatikans und der Siegermächte-Geheimdienste) ins Ausland floh, konnte in den polizeiliche Dienst zurückkehren – so wie es auch im Justizdienst rund 80 Prozent der Richter und Staatsanwälte gelang. Der erste Abschnitt „Karrieren“ bringt dazu mehrere Fallbeispiele, darunter in Westdeutschland das Netzwerk der „Alten Charlottenburger“, ehemaliger Lehrer und Schüler des dortigen (Kriminal-)Polizeiinstituts, seit 1937 „Führerschule der Sicherheitspolizei“. Wie Stephan Linck in seinem Beitrag zeigt, waren insbesondere das Bundeskriminalamt (BKA) und die Kriminalpolizeien in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen in Führungspositionen durchsetzt mit „Alten Charlottenburgern“, die vielfach an Morden der „Einsatzgruppen“ beteiligt waren, nun aber unter dem Schirm der britischen, sich am „Primat der Effizienz“ beim Neuaufbau orientierenden Besatzungsmacht ihre Karrieren im Polizeidienst fortsetzen konnten. Mit Recht sieht Linck hier ein „anhaltendes Desiderat“ der Forschung.

Zum Schluss nennt er als Beispiel für das Fortwirken des alten Denkens Walter Zirpins, dessen 1955 publizierte Behauptung, die hohe Kriminalität nach Kriegsende sei verursacht worden durch die „Freilassung des größten Teils der strafgefangenen und sicherungsverwahrten Berufsverbrecher, Asozialen und kriminellen Landfahrer“, sich noch in einem Polizei-Lehrbuch von 1986 wiederfand. Ergänzen ließe sich noch, dass Zirpins, der einst seine befriedigende Arbeit im Ghetto Litzmannstadt lobte, es nach 1945 zum Leiter der Landeskriminalpolizei von Niedersachsen brachte. Er wirkte dabei mit, die Legende vom Reichstagsbrand-Alleintäter Marinus van der Lubbe in die Welt zu setzen und damit auch die Rolle der Gestapo bei diesem hochpolitischen Kriminalfall zu verschleiern. Nicht zuletzt Enthüllungen aus der DDR führten zur vorzeitigen Entlassung in den Ruhestand. Dabei leistete die DDR, wie Andrej Angrick feststellt, einerseits durchaus Beachtliches bei der Verfolgung und Aburteilung von NS-Gewaltverbrechen, scheute sich aber andererseits auch nicht, Gestapo- und RSHA-Mitglieder als Spione und „Informelle Mitarbeiter“ (IM) der Stasi einzusetzen.

In Westdeutschland, von dem das Buch ganz überwiegend handelt, war es neben der andere Prioritäten setzenden Ost-West-Konfrontation vor allem das sogenannte „131er“-Gesetz von 1951, das auch vielen Gestapo-Angehörigen, sofern sie sich auf dienstliche Anweisung zur Versetzung dorthin berufen konnten, den Weg zurück in den öffentlichen Dienst öffnete. Hinzu kamen die Straffreiheitsgesetze von 1949 und 1954, die Einstufung von Tätern als „Gehilfen“, die sich auf „Befehlsnotstand“ beriefen, und die zunehmende Verjährung von Verbrechen, die schließlich nur für Mord aufgehoben wurde. „Für die westdeutsche Nachkriegspolizei“, resümiert Jan Kiepe dieses Kapitel, „ist deshalb zu konstatieren, dass sich insbesondere das Führungspersonal aus denjenigen zusammensetzte, die bereits während des Dritten Reiches in ihr tätig gewesen waren und sein verbrecherisches System unterstützt hatten.“ Das konnte – auch angesichts öffentlicher „Schlussstrich“-Mentalität – die Ermittlungen stark behindern. Darunter litt auch die Arbeit kriminalpolizeilicher „Sonderkommissionen“ und der schließlich 1958 gegründeten Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, die immerhin, bis heute, etliche in diesem Buch behandelte Fälle aufgreifen und zur Anklage bringen konnte.

Eine Hürde bildete auch der „Überleitungsvertrag“ zum Deutschlandvertrag von 1955, in dem festgelegt wurde, dass „abgeschlossene Strafverfahren“ französischer, britischer und amerikanischer Gerichte von bundesdeutschen Gerichten nicht erneut verhandelt werden durften. Das sollte strafmildernde Revisionen verhindern, war aber ein Schlupfloch vor allem für Täter in Frankreich, die dort in Abwesenheit verurteilt worden waren, aber, wenn sie gefasst wurden, nun von der Bundesrepublik weder ausgeliefert noch erneut vor Gericht gestellt wurden, und stellte selbst für einige Massenmörder kein Karrierehemmnis dar, wie Jacek Andrzej Mlynarczyk feststellen musste.

Für all dies liefern die Autoren dieses Sammelbandes zahlreiche Fallbeispiele. Eines der eklatantesten betrifft den bis zum SS-Obersturmbannführer aufgestiegenen Dr. Otto Bradfisch, der in seiner mörderischen Laufbahn als Leiter des Einsatzkommandos 8 der Einsatzgruppe B von 1941 bis Ende Februar 1942 für 60.811 Erschießungen verantwortlich war, bis Jahresende noch für die Deportation von 26.600 Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt ins Vernichtungslager Kulmhof und die Ermordung mehrerer tausend Juden aus Dorfghettos des Regierungsbezirks, schließlich im Juni/Juli 1944 für die Deportation von über 7.000 Menschen nach Kulmhof und etwa 67.000 Juden nach Auschwitz-Birkenau. Bis 1953 lebte er unter falschem, dann wieder unter seinem richtigen Namen, bevor er 1958 in München verhaftet und 1960 mit vier anderen EK-8-Mitgliedern angeklagt wurde. Obwohl die Anklage bewusste Teilnahme an Massenverbrechen, niedrige Beweggründe und Grausamkeit der Tatdurchführung hervorhob, wurde er, wie Peter Klein in seinem Aufsatz schreibt, „letztlich nicht als Mittäter qualifiziert, sondern lediglich wegen Beihilfe zum Mord angeklagt“. Schließlich wurde er zunächst zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, die mit Strafen von sieben und drei Jahren in zwei weiteren Verfahren zu 13 Jahren zusammengezogen wurden. Krankheitshalber und unter Mithilfe des Hamburger Pastors Hermann Schlingensiepen wurde er dann 1969 entlassen und starb 1994 mit 91 Jahren. Ähnlich blamabel-skandalös verlief die Strafverfolgung der von Himmler angeordneten „Aktion Erntefest“, der 1943 in Ostpolen über 43.000 Juden zum Opfer fielen (Jochen Böhler). Dass es anders ging, zeigte das „Lebenslänglich“-Urteil gegen Alfred Rapp im Jahre 1965 (Klaus-Michael Mallmann). Die Reihe meist negativer und weniger positiver Beispiele ließe sich fortsetzen.

Gab es also „die Gestapo nach 1945“? Als weiter arbeitende Geheimpolizei sicher nicht. Aber allzu viele ihrer Angehörigen wirkten nicht nur in den Polizei-Organisationen des Bundes und seiner Länder, sondern auch als Versicherungsvertreter oder in renommierten Firmen und Organisationen weiter, und in erstaunlich großer Zahl waren sie in – wie man heute sagen würde – „Seilschaften“ miteinander verbunden. Das ist ein politisch und moralisch beschämendes Fazit. Die Nachkriegs-Demokratie ist daran nicht zugrunde gegangen – nicht zuletzt, weil nach 1945 trotz aller Schlussstrich-Mentalität die NS-Zeit mit ihren Institutionen und Organisationen so diskreditiert war, dass ein eigenständiges, politisch relevantes organisatorisches Weiterleben des Nazi-Ungeistes nicht möglich war. Wenn er politisch zu gefährlich wurde, kam es auch, wie im Falle der „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP), zum verfassungsgerichtlichen Verbot. Die allermeisten dieser Nazi- und Nachkriegs-Akteure leben nicht mehr. Politischen, auch gewalttätigen Extremismus gibt es bis heute; Wachsamkeit bleibt geboten.

Gewidmet ist das Buch „Wolfgang Scheffler zum Gedenken“, der als historischer Sachverständiger in zahlreichen NS-Prozessen zur Aufklärung der Verbrechen wesentlich beigetragen hat.

Titelbild

Klaus-Michael Mallmann / Andrej Angrick (Hg.): Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen.
Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Band 14.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2009.
352368 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783534206735

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