Manische Philologie

Vladimir Nabokovs Puschkin-Edition in deutscher Übersetzung

Von Mark-Georg DehrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mark-Georg Dehrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von 1948 bis 1953 arbeitete Nabokov an „Lolita“, das zwei Jahre später von der Pariser Olympia Press und 1958 von Putnam’s in den USA verlegt wurde. 1955 beendete er „Pnin“, jene Geschichte eines großherzigen, umständlichen exilierten Gelehrten, der ein unwürdiges Dasein als Professor führt. „Pale Fire“ erschien 1962. Nabokov hatte Amerika da bereits wieder verlassen. 1940, den Expansionen des nationalsozialistischen Deutschland ausweichend, in die USA eingewandert, siedelte er sich nun in Montreux an, jenem Westeuropa, das ein Außenposten seiner verlorenen Kindheit als Spross einer reichen Familie im vorrevolutionären Russland gewesen war.

Die ganze Zeit über aber arbeitete Nabokov an einem kaum bekannten Werk: Er übersetzte Puschkins „Eugen Onegin“ ins Englische und erschloss das Werk durch einen minutiösen Kommentar. Das Wort ‚minutiös‘ erweckt dabei kaum eine angemessene Vorstellung von den Dimensionen der Edition, die 1964 erschien (Bollingen Foundation, Pantheon Books, New York). Die vier Bände bieten eine umfangreiche Einleitung, eine englische Übersetzung des Textes sowie aller Paralipomena Puschkins, einen über tausendseitigen Stellenkommentar, ein Faksimile der zweiten russischen Ausgabe (1837), Abhandlungen Nabokovs zur russischen und englischen Prosodie sowie über Puschkins Vater, schließlich einen hundertseitigen Index.

Der Stroemfeld Verlag und die Übersetzerin Sabine Baumann haben den Mut aufgebracht, sich des gewaltigen „Onegin“ anzunehmen und ihn der deutschen Leserschaft zugänglich zu machen. Offensichtlich wollte der Rowohlt Verlag, in dem die wunderbare deutsche Nabokov-Ausgabe erscheint, sich nicht auf dieses mehr als tausend Seiten umfassende Wagnis einlassen – wenngleich Dieter E. Zimmer, der die Bände bei Rowohlt betreut, zumindest beratend und streichend an den vorliegenden Bänden beteiligt gewesen ist und die deutsche Lizenz bei den Reinbekern lag. Der Übersetzerin und dem Verlag ist zu wünschen, dass ihr langer Atem und ihre Entschlossenheit von Lesern und Käufern honoriert werden.

Für jeden Nabokov-Afficionado, der die englische Ausgabe scheut, ist der „Onegin“ eine Pflicht. Die überbordende Edition ist weder ein verstiegenes Nebenprodukt noch eine Brotarbeit. Sie gehört ins Zentrum von Nabokovs Werk. Er selbst stellte ‚seinen‘ Onegin neben die „Lolita“ (1966 in einem Interview mit „The Paris Review“). Philologie, Herausgebertum, literarhistorische Biografien und Ähnliches spielen schon in Nabokovs früheren Romanen eine Rolle (etwa: „Dar“, englisch „The Gift“, erschienen 1938-1939; „The Real Life of Sebastian Knight“, erschienen 1941). Aber mit seiner Tätigkeit an der Cornell Universität rücken sie weiter in sein Werk ein. Es ist kein Zufall, dass die monströsen Memoiren Humbert Humberts von John Ray Jr., Ph.D., herausgegeben werden, dass Pnin am Waindell College russische Literatur unterrichtet, schließlich dass „Pale Fire“, das letzte Langgedicht des John Francis Shade, von dem Philologen Charles Kinbote herausgegeben und so eingehend wie abwandernd kommentiert wird.

Die amerikanischen Romane, das autobiografische „Speak Memory“ und die literaturwissenschaftlichen Arbeiten zeigen – das Oxymoron sei erlaubt – drei Seiten derselben Medaille. Wenn „Speak Memory“ Kindheitserinnerungen zu funkelnden Destillaten raffiniert, so begibt sich der Puschkin-Kommentar mit manischer Energie in die Wendungen und Windungen des klassischen Werks aus dem untergegangenen Russland. Hier liegt der reale Ansatzpunkt für den furor philologicus des Charles Kinbote, der den verlockenden Potentialen von Erinnerung, Phantasie und Philologie freien Lauf lässt und das Werk eines anderen nach und nach mit dem eigenen Phantasma überschreibt. Auch Lolitas phantasmatische Nymphengestalt, die Humbert Humbert aus Assoziationsfäden Byrons, Merimées, Goethes, Poes, Puschkins und zahlreicher poetae minores webt, geistert durch Nabokovs Kommentar, wenn er das Geflecht freilegt, das Puschkins Verse mit der zeitgenössischen Kultur Westeuropas verbindet.

Aber obwohl Nabokovs „Onegin“ verschwiegen sein eigenes Werk kommentiert: Nabokov ‚ist‘ kein Kinbote und kein Humbert. Wer vergleichbare idiosynkratische Amokläufe erwartet, wird enttäuscht werden. Selten nur erlaubt sich Nabokov Ausflüge in die eigene Erinnerung, so etwa, wenn er auf das Gut Batowo zu sprechen kommt, wo Puschkin seiner Hypothese nach (erfolgreich) ein Duell ausfocht und das Nabokovs Großeltern väterlicherseits gehörte. Jene idiosynkratischen Energien treten stattdessen als disziplinierte philologische Tugenden auf den Plan: als genüssliche Pedanterie, die dem offensichtlich Bedeutenden wie dem scheinbar Unbedeutenden nachspürt. Als eine solche Tugend mag auch die diebische Freude gelten, mit der hier ein Dichterphilologe demonstriert, wie ein großes Werk zu behandeln sei. Nabokov bricht die funkelnde Eleganz und Melancholie jenes präzise geschliffenen Diamanten „Eugen Onegin“. Aus den bunten Strahlen lässt er ein panoramatisches Bild des vorrevolutionären Russland entstehen. Sein Puschkin-Kommentar ist in der Tat ein Puschkin-Kommentar, der auch Puschkin-Liebhabern ergötzliche und lehrreiche Stunden bescheren kann.

Nabokovs Lemmata weiten sich nicht selten zu veritablen Exkursen aus. Philologisch-demokratisch steht hier das Unterschiedlichste nebeneinander: die wellenumflossenen Füßchen, deren sich der Erzähler des „Onegin“ in Buch I, XXXIII erinnert; Puschkins nach Nabokovs Ansicht mangelnde Englischkenntnisse; Ossian; immer wieder Byron; die Kartenspiele des russischen Adels; die Unterschiede zwischen Preiselbeere und Moosbeere, zwischen Traubenkirsche und Vogelkirsche; schließlich minutiös rekonstruierte Biografica wie etwa Puschkins Verhältnis zum Dekabristenaufstand. Eigensinnige Ansichten finden sich natürlich auch hier: der Held des „Werther“ schluchze bei jeder Gelegenheit, der Roman sei „künstlerisch gesehen“ Chateaubriands „René“ und Constants „Adolphe“ „weit unterlegen“. Rousseaus „Nouvelle Héloïse“ erklärt Nabokov für „völlige[n] Schund“, die „Grübeleien“ des Schulmeisters August Wilhelm Schlegel für wohlmeinend, aber kaum lesbar. Eine fulminante Tirade gegen Epochenbegriffe wie Klassik und Romantik sollte noch heute über dem Eingang jedes literaturwissenschaftlichen Instituts angebracht werden: „Es gibt Lehrer und Schüler mit geradliniger Denkart, die von Natur aus dazu bestimmt sind, der Faszination von Kategorien zu verfallen. Ihnen bedeuten ‚Schulen‘ und ‚Bewegungen‘ alles; indem sie dem Mittelmaß ein Gruppensymbol auf die Stirn malen, rechtfertigen sie ihr eigenes Unverständnis für wahres Genie“; solche Kategorien lenkten ab von der „unverwechselbaren Eigenart einer individuellen künstlerischen Leistung“.

Dieser ad infinitum ausbuchstabierbaren Individualität des großen Werks hat sich Nabokov als dienender Philologe verschrieben – wohl nicht zuletzt mit Blick auf den Dienst, den er sich selbst als Dichter erhofft. Aber es sind natürlich nicht nur die Realien, die diese Unendlichkeit ausmachen, sondern die fundamentale sprachliche Arbeit Puschkins, die das Werk erst entstehen lässt. Seine Wortwahl wird daher genauso akribisch kommentiert wie die Prosodie und Metrik seiner Verse. Nabokov ist sich darüber im Klaren, dass er angesichts dieser Individualität des Werkes als Übersetzer eine Entscheidung treffen muss: Um die sachlichen Facetten des „Onegin“ in der englischen Übersetzung sichtbar zu machen, lässt er Vers und Reim Puschkins fallen. Er bietet (im Englischen) rhythmisierte Prosa, eine, wie er stolz und streitbar schreibt, „wörtliche“ Übersetzung, „die die exakte kontextuelle Bedeutung des Originals so genau“ wiedergebe, wie es die Zielsprache erlaube. Jede andere Art von Übersetzung sei Verrat am Autor und an seinem Text. Nicht zuletzt diese ‚strong opinion‘ führte zu dem Bruch mit dem Kritiker und langjährigen Diskussionspartner Edmund Wilson.

Die deutsche Ausgabe musste daher etwas sehr Ungewöhnliches leisten: Es galt nicht nur den Kommentar zu übersetzen, sondern gleichsam auch eine Übersetzung. Wohl um Puschkins Verse nicht zu sehr nach dem Prinzip der stillen Post zu behandeln, hat Susanne Baumann (unter Mitarbeit von Christiane Körner) den „Onegin“ direkt aus dem Russischen übertragen, offensichtlich aber mit ständigem Seitenblick auf Nabokovs Kommentierung. Die Sprödigkeit, die die deutsche Fassung durch den Verzicht auf Vers und Reim gewinnt, tut dem Text dabei gut. Neben der sprachlichen Arbeit Puschkins treibt sie auch den Lakonismus seines Stils heraus.

Um es noch einmal zu wiederholen: Die deutsche Ausgabe des „Onegin“ mit Nabokovs Kommentar ist eine verlegerische und übersetzerische Heldentat. Den Liebhabern beider Dichter sollte sie den nicht geringen Kaufpreis wert sein. Etwas geschmälert wird die Edition durch Folgendes: Nabokovs Einleitung und Kommentar sind an nicht wenigen Stellen gekürzt. Dem – leider denkbar knappen – Nachwort Baumanns zufolge sind nur Passagen weggefallen, in denen Nabokov auf das Verhältnis des Englischen und des Russischen eingehe. Das stimmt jedoch nicht. In der Einleitung beispielsweise fehlen zwei aufschlussreiche Stanzen, die Nabokov im Stile Puschkins konstruierte und in denen er gleichzeitig seine Übersetzungsarbeit reflektiert. Außerdem fehlt in der Einleitung Nabokovs Analyse der Struktur des „Onegin“. Sie umfasst im Original 48 Seiten und ist nicht weniger als eine Interpretation des Werkes, das Nabokov „zuerst und zuoberst“ als „Phänomen des Stils“ begreift. Zwar kehren viele der Beobachtungen im Kommentar wieder, aber eben vereinzelt und verteilt auf mehr als tausend Seiten. Auch im Kommentar selbst wird keine Regel für die Streichungen sichtbar: polemische Auseinandersetzungen mit den früheren englischen (und deutschen) Übersetzungen fehlen hier und da genauso wie sachliche Belegstellen Nabokovs oder Ausführungen zum russischen Reim, die der Erklärung der Sprachmelodie Puschkins dienen.

Offensichtlich dienen die Streichungen dem äußerlichen Zweck, den Kommentartext noch zwischen zwei Buchdeckeln unterbringen zu können. Darüber hinaus lässt die Herstellungsqualität der Bände zu wünschen übrig, obwohl sie der in dieser Hinsicht vorbildlichen Rowohlt-Edition in Farbe und Design angepasst sind. Dennoch: Diesen Anzeichen der Sparsamkeit in der Krise zum Trotz ist Nabokovs Puschkin ein prächtiges Geschenk für die deutsche Leserschaft.

Titelbild

Alexander S. Puschkin: Eugen Onegin. Versroman.
Vorwort und Einleitung von Vladimir Nabokov. Band 2: Kommentar von Vladimir Nabokov.
Übersetzt aus dem Russischen von Sabine Baumann,aus dem Amerikanischen von Sabine Baumann.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
1400 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000186

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch