Ein Halbgott der Sozialwissenschaften

Das neue Handbuch zur Soziologie Pierre Bourdieus lädt zum kritischen Gebrauch ein

Von Heribert TommekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Tommek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bourdieu – mon dieu!“ – so könnte man die Entwicklung der Soziologie Pierre Bourdieus und ihrer expandierenden, schließlich globalen und breiten transdisziplinären Rezeption in den letzten Jahrzehnten und insbesondere nach seinem Tod 2002 zusammenfassen. Diese Entwicklung ist zunächst geprägt von den praktischen Mühen ihrer Durchsetzung, dann aber von den magischen Effekten einer sich von selbst verstärkenden ‚Weihe‘. Die kalauernde, sich auf den Namen beziehende Anspielung auf das ‚Halb-Göttliche‘, die sich zu Lebzeiten polemisch gegen das Anmaßende des ‚Großunternehmens‘ Bourdieu richtete, hat sich zu einem klassischen, nicht mehr anzuzweifelnden Status mit Ausnahmecharakter gewandelt. Beide Umgangsweisen, die polemische wie die blind verehrende, sind kontraproduktiv.

Wie geht man nun mit dem Erbe eines Wissenschaftlers um, der stets nach der praktischen Genese und Logik gesellschaftlicher Ordnungen fragte, also das opus operatum (Feldstrukturen) im Lichte der Wechselwirkung mit dem von sozialen Auseinandersetzungen geprägten modus operandi (praktische Habitusstrukturen) bestimmte und sich damit gegen starre Ordnungssysteme und auch „scholastische“ Modelle wehrte, die sich von der Reflexion ihrer praktischen Handlungslogik abgekoppelt haben? Zahlreich sind mittlerweile die Einführungen zu Bourdieus Soziologie, die mal besser ausfallen, wenn sie die praktische Genese und Offenheit der Fragestellungen und Theorien aufzeigen, und mal schlechter, wenn sie schulbuchartig die Erklärung einzelner abgeschlossener Konzepte aneinander reiht.

Die im Metzler-Verlag erscheinende, allgemein recht erfolgreiche Reihe der „Handbücher“ bewährt sich auch in diesem besonderen Fall. Die Herausgeber Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein sind ausgewiesen: Gerhard Fröhlich betreut zusammen mit seinem Linzer Kollegen Ingo Mörth die umfassendste, kontextorientierte und referentielle Online-Bibliografie und Mediendokumentation aller Werke und Äußerungen von Bourdieu. Er hat mehrere Arbeiten zur symbolischen Anthropologie der Moderne in Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Bourdieus, Clifford Geerts oder Norbert Elias’ verfasst. Boike Rehbein, Professor für Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin, verfolgt ethnologisch fundierte Sozial- und Globalisierungstheorien und hat neben einer empirischen Untersuchung der Transformation des ökonomischen Feldes in Laos (2004) auch eine einschlägige Einführung zur Soziologie Bourdieus (2006) vorgelegt.

Auch die Zusammensetzung der anderen Beiträger des Handbuchs überzeugt durch eine gute Mischung ausgewiesener Forscher (so z.B. Helmut Bremer, Irene Dölling, Rolf-Dieter Hepp, Joseph Jurt, Andrea Lange-Vester, Stephan Moebius, Ingo Mörth, Lothar Peter, Michael Vester) und junger Nachwuchswissenschaftler. Hinzu kommen Soziologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler, die ihre Arbeitsschwerpunkte in anderen, verwandten Theorien haben und in einen fruchtbaren kritischen Dialog mit Bourdieu treten.

Die Mischung zwischen Kompetenz, Kritik und praktischem Gebrauch prägt im besten Sinne das Handbuch, wie auch die Herausgeber im Vorwort zum Ausdruck bringen, die sich der ‚praxeologischen‘ Verpflichtung dem Bourdieu’schen Denken gegenüber bewusst sind. Entsprechend ist der Aufbau des Handbuches sachdienlich, übersichtlich und zudem einer relationalen und reflexiven Soziologie adäquat: Statt mit einer losgelösten Biografie beginnt das Handbuch mit einer Darstellung der „Einflüsse“. Dass der folgende Abschnitt zu den zentralen „Begriffen“ der Soziologie Bourdieus am umfangreichsten ausfällt (knapp 180 Seiten), deutet darauf hin, dass der Schwerpunkt hier auf den analytischen Instrumenten liegt noch vor den „Werken“ als dritter Teil. Dieser ist wiederum übersichtlich gegliedert in „Frühwerke“, „Hauptwerke“ und „Feldanalysen“. Nach der Darstellung der internationalen und deutschen „Rezeption“ in ihren verschiedenen Ausrichtungen schließt das Handbuch mit einem umfassenden Anhang, der ein sinnvoll ausgewähltes Glossarregister, eine ausgiebige und gut vernetzte Literaturliste der zitierten Werke Bourdieus, der wichtigsten, auf den neuesten Stand gebrachten Sekundärliteratur, ein Autorenverzeichnis und schließlich ein komplettes Personenregister umfasst.

Hervorzuheben sind aus dem ersten Teil („Einflüsse“) mehrere Darstellungen, so zum Beispiel die Ausführungen zu „Leben und Zeit“, verfasst von Joseph Jurt in Art einer reflexiven Sozioanalyse, die die persönliche und wissenschaftliche Laufbahn aufzeigt (von der provinziellen Herkunft über die Algerienkriegserfahrung bis hin zum weltweit renommierten und politisch gegen den Neoliberalismus engagierten Professor am Pariser Collège de France). Zu nennen sind auch die hervorragenden Kontextualisierung der Theoriebildung etwa zum Einfluss der französischen Epistemologie und des Strukturalismus’ (von Stephan Moebius und Lothar Peter), der Soziologie Émile Durkheims (Gernot Saalmann), Marcel Mauss’ (Stephan Moebius), Max Webers (Gregor Bongaerts), Norbert Elias’ (Gerhard Fröhlich) oder der Sprachphilosophie Wittgensteins (Jörg Volbers). Dabei werden jeweils die Haupteinflüsse, Divergenzen und die wichtigsten Kritikpunkte dargelegt, wodurch ein anschauliches und zugleich analytisches Bild der Genese wissenschaftlicher Instrumentarien durch Konflikte, Abgrenzungs- und Konvergenzlogiken im wissenschaftlichen Feld entsteht.

Auch die Darstellung der Hauptbegriffe der Soziologie Bourdieus in der zweite Abteilung folgt einem ähnlichen Prinzip: Jeder Artikel, der auch den französischen Begriff nennt, gliedert sich nach „Begriff“, „Bedeutungskern“, „Funktion und Verwendungsweisen“, gelegentlich auch Ausführungen zur „Rezeption“ und zur „Kritik“ und endet schließlich mit einer kurzen Auswahlbibliografie. So erläutert zum Beispiel der Artikel zu „Feld (champ)“ von Rehbein und Saalmann die Herkunft des Konzepts aus Bourdieus Auseinandersetzung mit Max Webers Aufsätzen zur Religionssoziologie, seine Ausarbeitung im Kontext einer Studie zur „Künstlerische[n] Produktion und intellektuelle[m] Kräftefeld“ (französisch 1966, deutsch 1970), seine Analogie zur Spieltheorie, das Verhältnis der verschiedenen sozialen Felder untereinander und schließlich mehrere systematischen Unklarheiten bei Bourdieus Bestimmung dieses für ihn so zentralen Konzepts. Neben den bekannten Begriffen wie „Distinktion (distinction)“, „Habitus (habitus)“, „Herrschaft (domination) und Macht (pouvoir)“, „Kapital (capital)“, „Ökonomie (économie)“ finden sich auch weniger prominente, aber nicht minder wichtige Einträge wie „Einverleibung (incorporation)“, „Libido (libido)“, „Reflexivität (réflexivité)“, „Symbolische Gewalt (violence symbolique)“ oder „Verstehen (comprendre)“. Sie machen die transdisziplinäre Reichweite des Theoriegerüsts deutlich.

Die dritte Abteilung der „Werke“ ist unterteilt in „Frühwerke“ (Untersuchungen zu Algerien, zur Bildungssoziologie, zur Wissenschaftstheorie), „Hauptwerke“ und einzelne „Feldanalysen“ (zur Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Philosophiekritik, Sprache, Religion, Kunst, Fotografie und Literatur). Im Zentrum steht hier die 24 Seiten umfassende Darstellung des zentralen Werks der Feinen Unterschiede (von Helmut Bremer, Andrea Lange-Vester, Michael Vester), die auch analytisch zu den kompetentesten Darstellungen des gesamten Handbuches zählt. Denn die Verfasser gehören der Hannoveraner Forschergruppe um Vester an, die das theoretische Konzept des sozialen Raums in systematischer und empirischer Hinsicht maßgeblich für die deutschen Verhältnisse weiterentwickelt hat (Vester et al., 2001).

Auch die Ausführungen zu den anderen Hauptwerken machen die Kritikpunkte und die Weiterführung der Konzepte sehr gut deutlich nach dem Motto: „mit Bourdieu über Bourdieu hinaus“. Die abschließende Zusammenfassung der „Kritik und blinde[n] Flecken“ durch die Herausgeber ist einerseits hilfreich, weil sie nochmals alle Kritikpunkte vor Augen führt. Andererseits wirken diese Auflistungen wie auch schon entsprechende Hinweise in der Einleitung stellenweise akribisch und beflissen, denn hier werden einige pauschale Kritikpunkte wiedergegeben, deren Relevanz die vorausgehenden Beiträge bereits analytisch viel differenzierter erörtert haben. So zeigt sich noch in der beflissenen Kritik ex negativo die symbolische Macht des „Halbgottes“.

Berühmte Autoren laufen immer Gefahr, dass man sie zwar zitiert, sie aber nicht mehr liest und sich nicht mehr inhaltlich mit ihren Texten auseinandersetzt. Auch wenn nicht alle Beiträge das gleiche analytische Niveau aufweisen (so lassen die Ausführungen zu den Einflüssen von Karl Marx oder Michel Foucault einige wichtige Aspekte vermissen), so sind doch der Aufbau, die Sachkompetenz, die Vernetzung und die zweckdienliche Navigation vermittels interner Verweise, Register und bibliografischen Angaben so, wie man sich das von einem guten Handbuch wünscht, um sich mit einem Klassiker der Theorie sei’s als Einsteiger, sei’s als Spezialist eigenständig auseinandersetzen zu können. Dazu passt gut, dass zurzeit beim Konstanzer Universitätsverlag eine neue Werkausgabe sämtlicher Schriften Bourdieus erscheint.

Titelbild

Boike Rehbein / Gerhard Fröhlich (Hg.): Bourdieu Handbuch. Leben - Werk - Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2009.
436 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022356

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