Adorno, Luhmann und die Liebe in Frankfurts Zeiten der Studentenrevolte

Fragmentarische Fortsetzung einer abgebrochenen Recherche und eine halbwahre Geschichte Alexander Kluges über das Wintersemester 1968/69

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Juni-Ausgabe 2009 von literaturkritik.de steht der Bericht über eine abgebrochene Recherche zu einer reichlich unwahrscheinlich anmutenden Szenerie an der Universität Frankfurt: Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, der in die Wissenschaftsgeschichte als einer der maßgeblichen Antipoden der „Kritischen Theorie“ einging, soll im protestbewegten Wintersemester 1968/69 als Vertreter ausgerechnet von Theodor W. Adorno im lokalen Zentrum eben jener Theoriebewegung gelehrt haben – zum Thema „Liebe als Passion“.

Zu der Szenerie gibt es bisher nur vage Hinweise und zum Teil widersprüchliche Erinnerungen, es gibt Zeitzeugen, die sie für eine Erfindung halten, und eine halbwahre Geschichte von Alexander Kluge. Aber inzwischen liegen dazu immerhin einige Akten aus dem Frankfurter Universitätsarchiv vor.

Luhmanns Assistent erinnert sich

Der ehemalige Assistent Luhmanns, Otthein Rammstedt, veröffentlichte seine Erinnerungen an jene Zeit 1999 in der Zeitschrift „Soziologie: Mitteilungsblatt der DGS“ (Heft 2, S. 110-114). Sie wurden noch im selben Jahr nachgedruckt in einem von Theodor M. Bardmann und Dirk Baecker herausgegebenen Buch mit dem Untertitel „Erinnerungen an Niklas Luhmann“ („Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?“ UVK Universitätsverlag Konstanz, S. 16-20). Beim 16. Deutschen Soziologentag im April 1968 habe er Luhmann seinem einstigen Lehrer Adorno vorgestellt. „Sie waren beide sehr höflich, sehr distanziert, trieben einige Minuten Konversation – und das war es. Sie haben sich nie wieder getroffen und sich wissenschaftlich nie aufeinander eingelassen.“ Ein halbes Jahr später reiste Luhmann regelmäßig nach Frankfurt. „Im Wintersemester 1968/69 vertrat Niklas Luhmann Theodor W. Adorno. Wir fuhren 14-tägig montags nach Frankfurt. Der Vorlesungsbetrieb war in jenem Winter zusammengebrochen, das Institut für Soziologie geschlossen, Adorno und Habermas galten den Studenten als ausgesperrt. Luhmanns Vorlesung fand vor gut 20 Studenten statt, die sich im großen Vorlesungssaal, 2. Etage des Hauptgebäudes, verloren; fast die gleiche Gruppe fand sich zu den Seminaren im Institut, das diese Studenten eigens für diese Veranstaltung aufschlossen.“ In diesem Semester soll sich nach der Erinnerung Rammstedts Luhmann auch mit Jürgen Habermas getroffen haben: „Jürgen Habermas bat Niklas Luhmann in jenem Winter 1968/69 um ein Treffen, das in der Mensa der Frankfurter Universität stattfinden sollte, wohin ich Luhmann führte. Hier lernten sie sich kennen.“

Habermas selbst kann sich heute an ein solches Treffen nicht erinnern. Ob es tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich kaum belegen. Dass jedoch der Vorlesungsbetrieb in dem Semester zusammengebrochen sei oder dass Habermas und Adorno den Studenten als ausgesperrt galten, dürfte eine starke Übertreibung sein. Sie zeigt, wie sehr sich in solchen Rückblicken Wahrheit und Dichtung vermischen.

Alexander Kluges Geschichte über Liebe in Zeiten der Studentenbewegung

Bei Alexander Kluge werden derartige Vermischungen zur Methode. Kluge, damals als Jurist an dem Frankfurter Institut für Sozialfoschung tätig, stützte seine Rekonstruktion zu Luhmanns Vertretung des Adorno-Lehrstuhls auch auf mündliche Auskünfte des Soziologen Ludwig von Friedeburg, der 1966 nach Frankfurt berufen und dort Direktor des Instituts für Sozialforschung wurde, bevor er 1970 zum Hessischen Kultusminister avancierte.

Ergebnisse von Kluges Nachforschungen sind in eine der 166 Liebesgeschichten des unlängst erschienenen Buches „Das Labyrinth der zärtlichen Kraft“ eingegangen. Sie heißt „Küche des Glücks“, erzählt, so der Untertitel, über „Zwei Tage im Wintersemester 1968/69 in der Revolutionsstadt Frankfurt a.M.“ und vermischt Fakten mit Fiktionen auf eine Weise, die die Grenzen zwischen beiden kaum noch erkennen lässt. Erkennbar ist allerdings, was den Schriftsteller an dem Stoff gereizt hat: neben dem Kontrast zwischen zwei höchst unterschiedlichen Persönlichkeiten und Theoriekonzepten die Spannungen zwischen Politischem und Privatem, theoretischer Abstraktion und existenzieller Betroffenheit in Liebesangelegenheiten um 1968.

Bei der Montage von Berichten über mehr oder weniger wahre Begebenheiten, von Lektüreexzerpten, essayistischen Reflexionen,Text- und auch Bilddokumenten ist Luhmann in dem gesamten Buch, noch vor Freud, der meist zitierte Experte in Sachen Liebe. Sechs Geschichten sind ihm ausdrücklich gewidmet. Und das gewählte Motto für sie ist Luhmanns „Liebe als Passion“ entnommen: „In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationsmedium …“ In einer dieser Geschichte, der letzten und längsten, tritt er schließlich persönlich auf: „Der Mann aus Bielefeld suchte sich seinen Weg mit langen Schritten. Die Aktentasche in der linken Hand. Er nahm den Weg durch das Studentenhaus Jügelstraße, weil er die Pulks wartender Studenten vor dem Haupteingang der Universität meiden wollte. Durch den Pförtnerausgang des Studentenhauses konnte er den Seiteneingang des Hörsaalturms erreichen und im Inneren des Gebäudes zu den Seminarräumen gelangen, die im ersten Stock lagen, direkt über dem umgebauten Portal. Im Übungsraum, in dem sechzig Teilnehmer Platz gefunden hätten, erwarteten ihn vier Studierende, drei Frauen, ein Mann. Er begrüßte die Anwesenden. Das Maschinenskript entnahm er seiner Aktentasche, die Übung hieß Liebe als Passion. Die Ankündigung auf der Anschlagstafel vor dem Rektorat war durch Mitteilungen überklebt, die zu einem Teach-in aufriefen. Der Mann aus Bielefeld erläuterte höflich die von ihm beabsichtigte Vorgehensweise für das Seminar.“

Der Mann kam zwar aus Münster, aber ansonsten könnte sich das erzählte Geschehen tatsächlich ungefähr so zugetragen haben. Und auch was nach einem harten Schnitt anschließend über Adornos Klage darüber zu lesen ist, dass sein Freisemester und die in ihm geplanten Forschungsprojekte zeitraubenden Verpflichtungen anderer Art zum Opfer fallen, entbehrt sicher nicht einer gewissen Realitätshaltigkeit. In einer weiteren Szene entwirft ein an Wilhelm Reich geschulter Student die Vision einer erotisch vitalisierten Revolution: „Ohne einen massiven Zuschuß aus den Depots der zärtlichen Kraft, so Kühlmann, kann die Bewegung die gewaltigen Anstrengungen zur gesellschaftlichen Veränderung nicht dauerhaft auf sich nehmen. Noch ist die Bewegung nicht zahlenstark. Sobald sie angeschlossen wäre an den ubiquitären Strom (jahrtausendealt) aufgestauter libidinöser Kräfte, den wir Orgon nennen, wird der politische Elan mit Flügeln versehen sein. ‚Was privat ist, muß politisch werden.’“

Erst mit der siebten Szene kehrt die Geschichte wieder zum Schauplatz der ersten zurück, in das Seminar Luhmanns. Eine Studentin hofft hier, etwas darüber zu lernen, wie sie an einen von ihr begehrten Studenten „herankommt, der ihr schon seit letztem Freitag auf ihre Nachrichten und Kassiber nicht mehr geantwortet hat“. Mit den theoretischen Ausführungen Luhmanns kann sie kaum etwas anfangen. Aber sie „war gern bereit, sich auch längere Ausführungen anzuhören, die sie nicht interessierten, wenn sie am Ende erfahren könnte, worin PASSION besteht und wie man sie in einem Geliebten oder Freund erzeugt“. Nach diversen anderen Szenarien aus dem protestbewegten Frankfurt schlägt die Geschichte am Ende ganz ins Burleske um: Adorno lädt Luhmann in einem Restaurant ein, sucht bei ihm Rat, wie er seine verlorene Geliebte zurückgewinnen kann, bietet ihm eine Zusammenarbeit an: Statt seine „Ästhetische Theorie“ zu vollenden, beabsichtige er „eine GENEALOGIE DER TREUE IN LIEBESANGELEGENHEITEN zu schreiben. Er könne das parallel zu Luhmanns SOZIOLOGIE DER LIEBE tun. Luhmann wandte ein, das Seminar heiße inzwischen LIEBE ALS PASSION. EINE ÜBUNG. Um so besser, erwiderte Adorno, dann könne man seine und Luhmanns Arbeit gemeinsam publizieren und so – in Gegenbewegung zum studentischen Zeitgeist, nämlich auf das Wesentliche konzentriert, sozusagen als Beispiel GROSSER KOOPERATION – ein doppeltes Semesterergebnis vorlegen, ein öffentliches Zeichen setzen. Man könne aber nicht seine persönlichen Liebesgeschichten öffentlich ausbreiten, meinte Luhmann. Wie solle er sich denn praktisch verhalten, fragte Adorno zurück. Ohne die Geliebte werde er es im Leben nicht aushalten.“

Die Akten des Universitätsarchivs

Die Akten, die das Universitätsarchiv Frankfurt am Main zu Luhmanns Lehre in Frankfurt auffinden konnte, sind naturgemäß nüchterner. Und sie sind nicht sonderlich ergiebig, aber zumindest in einer Hinsicht aufschlussreich. Aus dem Protokoll zur Fakultätssitzung am 3. Juli 1968 geht hervor, dass Adorno selbst es war, der in dieser Sitzung Luhmann für seine Vertretungen vorschlug. Der auf den 12. Juli datierte „Antrag auf Lehrstuhlvertretung“ des Dekans der Philosophischen Fakultät an das Kultusministerium lieferte eine Begründung dafür, die Adorno so ähnlich formuliert haben dürfte: „Die Philosophische Fakultät der J.W.Goethe-Universität bittet darum, Herrn Privatdozenten Dr. Niklas Luhmann mit der Vertretung von Herrn Prof. Dr. Theodor Adorno im Wintersemester 1968/69 für das Fach Soziologie zu beauftragen. Herr Dr. Luhmann gilt als einer der begabtesten jüngeren Hochschullehrer seines Faches, der mit der Verbindung von juristischen und verwaltungswissenschaftlichen mit soziologischen Fragestellungen sich früh einen besonderen Namen gemacht hat.“ Mit einem Schreiben vom 31. Juli erhielt Luhmann vom Ministerium den offiziellen Auftrag, Adornos Lehrstuhl zu vertreten. Eine Personalakte zu Luhmann legte die Universität am 1. Oktober an. Wenig später wurde er an der Universität Bielefeld zum Professor ernannt, übernahm die Vertretung aber trotzdem. Die Mitteilungen zur Fakultätssitzung am 19. November bestätigen: „Prof. Dr. Niklas Luhmann, Bielefeld, vertritt in diesem Semester teilweise (Soziologie) Prof. Adorno. Die Kosten hat die DFG übernommen.“ Über die von Luhmann angebotenen Lehrveranstaltungen konnten keine Akten gefunden werden. Erinnerungen von Teilnehmern sind bislang nicht bekannt geworden. Bleibt als Dokument jenes inzwischen aus dem Nachlass veröffentlichte Manuskript über Liebe, das Luhmann den Studenten in Frankfurt zur Diskussion präsentierte.

Titelbild

Niklas Luhmann: Liebe. Eine Übung.
Herausgegeben von André Kieserling.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
96 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783518585047

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Titelbild

Alexander Kluge: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten.
Mit 1 DVD.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
607 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421253

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