Die unendliche Geschichte der richtigen Partnerwahl

Über Virginia Woolfs Roman „Nacht und Tag“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Veröffentlichung ihres ersten Romans „Die Fahrt hinaus“ war Virginia Woolf in eine schwere Depression und Wahnvorstellung verfallen, von der sie sich nur langsam erholte und die ihr gesamtes späteres Leben überschatten sollte. Zu diesem Genesungsprozess gehörte das Schreiben an ihrem zweiten Roman „Nacht und Tag“. Im Dezember 1914, nach dem Beginn des ersten Weltkriegs, begann sie mit dem Schreiben des Romans und beendete ihn im November 1918, nur wenige Tage nach dem Waffenstillstand.

Umso mehr überrascht es, dass diese Urkatastrophe Europas in dem Roman überhaupt keine Erwähnung findet. Nach allgemeinem Urteil, ihr eigenes inbegriffen, ist es ihr konventionellster Roman, was jedoch nur wenig über dessen literarische Qualitäten aussagt.

In dem Roman geht es in erster Linie um die bekannte Geschichte der Partnersuche zwischen den Geschlechtern. Die Protagonisten sind Ralph Denham, Jurist und Dichter, Katharine Hilbery, wohlerzogene aber eigenwillige Tochter aus der Londoner Oberschicht sowie William Rodney, Regierungsbeamter und Dichter und Mary Datchet, mittellose Kämpferin für die Rechte der Frau. Am Anfang verlobt sich Katharine Hilbery mit dem trockenen William Rodney, obwohl sie sich schon seit dem ersten Kennenlernen von Ralph Denham angezogen fühlt. Dieser wiederum kommt ebenfalls erst im Laufe des Romans zur Einsicht, dass er eigentlich Katharine liebt, obwohl er in ihrer Gegenwart nur ungeschickt oder unbeholfen Konversation pflegen kann. Erst durch das Auftauchen der Cousine Katharines, Cassandra Otway, kommt es zur Lösung und zum Happy End. Ralph Denham bekommt seine Katharine und William Rodney verbindet sich mit Cassandra Otway. Die Frauenrechtlerin Mary Datchet bleibt als einzige des ursprünglichen Quartetts allein zurück.

Mit diesem Figurenensemble entfaltet Virginia Woolf eine konventionelle und im englischen Roman seit Jane Austen durchaus bekannte Verwicklungsgeschichte zwischen jungen Leuten auf Partnersuche mit Happy End. Im Grunde könnte man aber auch sagen, dass es um das gesellschaftliche Leben, die Konventionen und überlebten Rituale der spätviktorianischen Gesellschaft in London Anfang des 20. Jahrhunderts geht. Virginia Woolf schildert die Salons der Oberschicht mit ihren längst überholten Konventionen und Spleens in aller Ausführlichkeit.

Eingebettet in diese Gesellschaftskomödie mit oft satirischen und sozialkritischen Elementen ist die Liebesgeschichte von Katharine Hilbery, einer emanzipierten Frau, die zwischen zwei Männern steht. In dieser Situation stehen allerdings auch die beiden Männer, zwischen denen sie schwankt. Ralph Denham wird von der Frauenrechtlerin Mary Datchet geliebt, während Willian Rodney sich eigentlich mehr zur Literatur hingezogen fühlt. Ein Hauptmerkmal der Figuren ist ihre Unentschlossenheit und Unsicherheit. Katharine weiß nicht, ob und wenn ja, wen sie heiraten soll, denn eigentlich fühlt sie sich eher zur Mathematik und den Zahlen hingezogen. Ebenso ergeht es Ralph Denham, der sich einerseits von Katharine vermeintlich nicht akzeptiert sieht und sich entsprechend abweisend gegen sie verhält, andererseits sich gleichzeitig von ihr angezogen fühlt und sein brüskes Verhalten bedauert.

Man geht sicher nicht fehl, dass diese Stimmungen und das Verhalten der Protagonisten Verhaltensmuster der Mitglieder des Bloomsbury-Kreises spiegeln, dessen Mitglied Woolf bekanntlich war. Auch dort kam es ja zu den merkwürdigsten Heiratsanträgen, Freundschaften oder Verbindungen und zu endlosen Gesprächen und Diskussionen über Gott und die Welt. Lediglich die Diskussionen waren sicher in Bloomsbury ein wenig intellektueller und aktueller.

Auffallend ist Virginia Woolfs literarische Technik in dem Roman, die ihr wohl auch den Vorwurf der Konvention und Langeweile eingetragen hat. Die Probleme der Figuren werden oft umständlich explizit ausgebreitet, es bleibt kaum etwas ungesagt und der Fantasie des Lesers überlassen. Auch bleibt die Romanhandlung ohne große Überraschungen oder Höhepunkte. Dass der Roman dennoch seinen Reiz hat und es durchaus verdient, gelesen zu werden, liegt an der humorvollen, manchmal sogar satirischen Beschreibung der Oberschicht, ihrer Salons und Gesellschaften und den Party- oder Salongesprächen. Hier gelingt es Virginia Woolf, ihre Kritik an den überkommenen Gesellschaftsritualen deutlich zu machen, ohne die Figuren zu denunzieren. Auch sind die Themen, die für Virginia Woolf selbst später wichtig wurden, schon angerissen – Stellung und Gleichberechtigung der Frau, Bevorzugung der männlichen Mitglieder der Gesellschaft.

Wenn sich Katharine, anders als es damals für Frauen ihrer Herkunft üblich war, lieber insgeheim mit Mathematik und den Zahlen auseinandersetzen möchte, so ist dies nicht nur eine Hommage an ihre Schwester Vanessa, der der Roman gewidmet ist, sondern macht deutlich, dass Frauen ein eigenständiges intellektuelles Interesse haben und es nur die Verhältnisse sind, die sie an dessen Ausleben hindern. Auch ein Thema, dass Virginia Woolf noch häufig literarisch aufarbeiten wird.

Anlässlich des Erscheinens dieses Romans sollte noch einmal auf die von Klaus Reichert betreute und herausgegebene Werkausgabe der literarischen und autobiografischen Texte Virginia Woolfs im Fischer-Verlag lobend hingewiesen werden.

Titelbild

Virginia Woolf: Nacht und Tag. Roman.
Herausgegeben von Klaus Reichert.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
500 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783100925695

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