Tragödie des Komödianten

Stephen Weissman bringt Chaplin zum Sprechen

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Vor einigen Jahren rief mich eine Bekannte an […]: ‚Irgendsoein frecher junger Kerl hat einen Artikel über Ihren Vater geschrieben. Er behauptet darin, Ihre Großmutter wäre ein leichtes Mädchen gewesen.‘ […] Der freche junge Mann entpuppte sich als der anerkannte Psychoanalytiker Dr. Stephen Weissman. Der Artikel war faszinierend, voller kluger Einsichten und sehr sorgfältig recherchiert. Außerdem hatte ich das unbestimmte Gefühl, der Autor könnte die Wahrheit geschrieben haben. […] Ich habe mich mit Dr. Weissman in Verbindung gesetzt. Der bestätigte, dass er ein Buch schreibe […]. Sein Buch ist völlig anders als alles, was je über meinen Vater geschrieben wurde. Weissman zeichnet ein kluges, psychologisch fundiertes Bild von Chaplin und verknüpft damit eine brillante Untersuchung des Zusammenhangs zwischen persönlicher Erfahrung und Kreativität.“

Dies schreibt Geraldine Chaplin im Vorwort zu „Chaplin. Eine Biographie“, und im Grunde ist hier alles gesagt: Chaplins Leben und Persönlichkeit, zumal die Kindheit unter – vorsichtig ausgedrückt – zerrütteten familiären Gegebenheiten, in Londoner Waisenhäusern, Slums und Varietés von dubioser Reputation, werden ungeniert, durchaus „frech“, auf den Seziertisch respektive die Couch gelegt und einer posthumen, gleichwohl genauen und sorgfältig abwägenden (Psycho-)Analyse unterzogen. Weissmans Vorgehen ist derart skrupulös und bedächtig, um (Selbst-)Kritik, präzises Quellenstudium und argumentative Solidität bemüht, dass beinahe der Eindruck aufkommen kann, Psychoanalyse könne ‚wissenschaftlich‘ betrieben werden. (Eine wahrlich eindrucksvolle Leistung.) Mit vulgärpsychologischer ‚Charakterkunde‘, kruden Extrapolationen, Common-sense-Schnellschüssen hat Weissman nichts zu tun. Am wichtigsten, Geraldine Chaplin hebt es zu Recht hervor: In keinem Augenblick erweckt Stephen Weissman den Anschein, Kreativität könne mit psychologischen Begriffen allein erklärt werden. Gerade jene Passagen, die Chaplins komödiantisches Wirken, zumal den ‚Tramp‘ als sein Erkennungszeichen, aus Kindheits- und Lebensumständen, besonders dem tief verankerten Vater- wie Mutterkomplex, zu erklären versuchen, heben immer wieder hervor, wie vieles zum Stoff des eigenen Lebens hinzukommen muss, damit es ästhetisch überzeugend ‚ins Werk gesetzt‘ werden kann. Stephen Weissman unternimmt – sozusagen – eine Familienaufstellung, doch ohne Mystizismus und mit klarem Bewusstsein der Grenzen jeder, auch dieser, biografischen Methode. Solche Demut wird dringend benötigt, denn Chaplin, der Künstler, ist hochgradig ambivalent, folglich nicht einordenbar. (Ein exzentrisches Beispiel: Am 16. April 1889 kommt er zur Welt – vier Tage vor Hitler, den er als „The Great Dictator“ mit mancherlei Zügen des ‚tramp‘ ausstatten wird. Auch Chaplin, der kompromisslose Gegner des Nationalsozialismus, hätte Hitler alias Hynkel mit Thomas Manns bekanntem Wort einen „Bruder“ nennen können.)

Weissmans hochseriöse, skrupelhafte Arbeitsweise offenbart sich auch in scheinbar Nebensächlichem: Der Anhang allein – mit Anmerkungen, Quellenangaben, Personenregister und Werkverzeichnis Charles Chaplins – nimmt ca. 70 Seiten ein, mithin fast ein Fünftel des Bandes. Umso erfreulicher, dass für die deutsche Ausgabe ein ebenso skrupelhafter Verleger gefunden wurde: Der Aufbau-Verlag würdigt, ungewöhnlich genug, im Klappentext die Übersetzerin, Ulrike Seeberger, ausdrücklicher Erwähnung. Tatsächlich kann die ausgefeilte Sprachgestalt über weite Strecken den Eindruck erwecken, hier liege ein im Original deutscher Prosatext vor. Auch Buchrücken, Einband, Typografie, selbst noch die Haptik des Papiers, bezeugen die ausnehmend gründliche Machart des Bandes. In dieser Preisklasse sind solche Details – sie steigern das Lesevergnügen erheblich – keine Selbstverständlichkeit. Bei Aufbau aber scheint die Welt der ‚Buchkultur‘ noch in Ordnung.

Die Gattungsbezeichnung „Biographie“ ist gleichwohl zu relativieren. Nicht so sehr deshalb, weil Weissman entschieden auf ‚eine‘ Methode der Lebensbeschreibung, die psychoanalytische, abstellt. Diese bringt reichen Ertrag, wird zudem um sozial- und ereignisgeschichtliche Informationen ergänzt. (Glanzvoll die Schilderungen zu Chaplins Herkunftsmilieu, den Londoner Music Halls, Varietébühnen kleinbürgerlich-proletarischen Zuschnitts.) Wesentlicher ist eine andere Beschränkung: Das letzte Vierteljahrhundert der Vita Charles Chaplins kommt nicht in den Blick. Weissmans Lebenserzählung endet mit „Limelight“ („Rampenlicht“, 1952), Chaplins letztem vollgültigen Filmwerk: Hier wird sein künstlerischer wie physischer Tod in Szene gesetzt – umso bestürzender, als der andere Komödiant des Jahrhunderts, Buster Keaton, prominent beteiligt ist. So gerät „Limelight“ zum Abgesang nicht auf Chaplin allein, sondern aufs Ganze der Stummfilmkomödienwelt.

Das künstlerische Erlöschen steht mithin am Ende. Was folgt, ein Vierteljahrhundert, wird zum bloßen, äußerst knappen Epilog degradiert, als seien physischer wie mentaler Verfall und das beschauliche Familienleben im Schweizer ‚Exil‘ nicht berichtenswert. Vielleicht mag Rücksicht auf Chaplins Angehörige, Geraldine Chaplin zumal, eine Rolle spielen. In jedem Fall zeugt Weissmans Entschluss von einer unter Biografen, zumal wo sie programmatisch ‚psychologisch‘ vorgehen, keineswegs selbstverständlichen Diskretion. Auch trägt er Chaplins manischem Drang zum Rampenlicht, zum Publikum, Rechnung: Dieses Leben, auch das private, wurde ‚in Rollen‘ gelebt. Mag Weissman Chaplins Rollen – an erster Stelle den ‚Tramp‘ – ins ‚wirkliche‘ Leben zurückprojizieren, so erweist er dem Künstler am Ende den gebührenden Respekt: Indem der Vorhang zum von Chaplin selbst bestimmten Zeitpunkt fällt.

Das frühe Ende fügt sich trefflich ins dramaturgische Konzept eines Lebensromans, fast möchte man sagen: einer antiken Tragödie. Die wüste Hetze der moral majority gegen den Künstler, Libertin und Linken Charles Chaplin hat diesen, zeitgleich mit „Limelight“, genötigt, ins Schweizer ‚Exil‘ zu gehen: „Täglich erschienen auf den Titelseiten Berichte über den Sensationsprozess mit der schrillen Anklage wegen Mädchenhandels, Fotos, die zeigten, wie ihm gleich einem gemeinen Kriminellen Fingerabdrücke abgenommen wurden, sowie eine Reihe feindseliger Artikel von Hollywood-Berichterstattern […], die ebenso wie Aktivitäten des FBI hinter den Kulissen, zum steilen Abstieg von Chaplins öffentlichem Image beitrugen. Eine sorgfältige Analyse […] legt nahe, dass man ihn trotz überwältigender Indizien für seine – schließlich auch eindeutig bewiesene Unschuld – leichtfertig unter Anklage gestellt hatte. […] Chaplin wehrte sich mit der Zähigkeit eines wahrhaftig ‚unverletzlichen‘ Kindes – wie jemand, der es gewohnt ist, routinemäßig alle Hindernisse zu überwinden […]. Mit genau dieser Überlebensstrategie hatte über vierzig Jahre lang sein kleiner Tramp die Herzen der Zuschauer auf der ganzen Welt erobert.“ Dass Weissman Anfang und Ende des (kreativen) Lebens Charles Chaplins ineinanderknüpft, zeugt von hohem schriftstellerischem Vergnügen – und darin, als doctor subtilis des Wortes, kommt Weissman dem Gründer und Meister des Fachs, Sigmund Freud, nahe.

Was bleibt von „Charles Chaplin“, über biografische Fakten und klug interpretierende Fiktionen hinaus? Von Mozart wurde gesagt, sein Spätwerk ‚lächle unter Tränen‘. Auch Chaplins Filme, nicht erst die späten, verdanken ihren Erfolg zum guten Teil humaner Ambivalenz, dem Schuss Empfindsamkeit und Bitternis im Gelächter. Mit Weissman wird die Träne um einiges durchsichtiger werden.

Titelbild

Stephen Weissman: Chaplin. Eine Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2009.
402 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783351027087

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch