Über die Wahrheit der Kunst

Carl-Johan Vallgrens Roman „Kunzelmann und Kunzelmann“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Generationen erzählen die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Vorkriegsdeutschland der Dreißigerjahre, der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit in Westeuropa liefern den geografischen und zeitlichen Rahmen für die Lebensgeschichte von Victor Kunzelmann, Künstler, Restaurator und Kunstfälscher. Sein Sohn Joakim Kunzelmann und seine Tochter sind die Erben des Kunzelmann´schen Nachlasses, der vor allem aus einer umfangreichen Kunstsammlung besteht. Der Erzähler, Victor Kunzelmanns Sohn Joakim, wird relativ schnell mit den merkwürdigen Umständen des Todes seines Vaters konfrontiert. Große Teile der Gemäldesammlung wurden von Kunzelmann senior zerstört und von dem vermeintlichen Erbe in Millionenhöhe bleiben nur ein paar Einzelstücke, deren Wert überschaubar ist. Kunzelmann junior macht sich an die Nachlassverwaltung und an die Rekonstruktion des Lebens seines Vaters, um dessen Vernichtungsaktion der Gemäldesammlung zu verstehen.

Joakim erzählt die Geschichte seines Vaters, der in den Dreißigerjahren Schweden verlässt und nach Deutschland geht, nachdem seine Liebe zu einem Mann gesellschaftliche Konsequenzen nach sich zog. In Berlin eröffnet Victor Kunzelmann mit neuem Namen, neuen Papieren und einem Freund zusammen ein Geschäft für Briefmarken-, Handschriften- und Gemäldehandel. Den langsam steigenden Bedarf an Originalen beginnen die beiden, befördert durch ihre künstlerischen Neigungen, durch Fälschungen nachzukommen. So entwickelt sich mit der Zeit ein florierendes Geschäft. Angefangen mit Briefmarken entwickelt sich Victor zu einem Fachmann der Fälschung von Gemälden. Seine Studien der alten und neuen Maltechniken und eine umfassende Kenntnis der Kunstgeschichte erlauben ihm eine perfekte Reproduktion der Originale. Auch im „Dritten Reich“ betreiben die beiden Freunde einen immer schwungvolleren Handel, in Zuge dessen sie sogar als Gutachter zu Hermann Göring bestellt werden, für den sie einen gefälschten Vermeer begutachten sollen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sucht Victor wieder seine Heimat Schweden auf, beginnt dort als Restaurator zu arbeiten, heiratet – zur Tarnung seiner Homosexualität – eine ehemalige Freundin und nimmt seine Tätigkeit als Fälscher wieder auf – diesmal nur noch besser vorbereitet durch seine Kenntnisse als Restaurator und Gutachter für Museen auf internationaler Ebene. Unter diesen verschiedenen Schichten der Illusion von Wahrheit und Originalität in Kunst und Leben bleibt Victors Leben als Fälscher unentdeckt. „Außerdem war Viktor die moderne Wissenschaft. In seiner Eigenschaft als Konservator lag er an vorderster Front. Er war selbst daran beteiligt, Methoden zur Entlarvung von Betrügern zu entwickeln: chemische, optische, spektrale. Er wußte genau, wie die Experten dachten, und gerade deshalb konnte er sie hinter Licht führen.“Dieses Doppelleben wird erst mit der Zerstörung seiner Kunstsammlung und mit seinem Tod nach und nach von dem Erzähler Joakim, seinem Sohn, aufgedeckt.

Die zweite Erzählebene spielt in der Gegenwart. Joakim ist Journalist. Nur mäßig erfolgreich versucht er sich in medienkritischen Essays: „Die Medien waren überall, aber ohne Inhalt, oder eher mit soviel sinnlosem Inhalt, daß alle in den Treibsand eingesogen wurden. Wer nicht mitspielte, ging ohne weiteres unter. Wer nicht gesehen wurde, existierte nicht. Wer protestierte, wurde nicht gehört oder machte sich als altmodischer Moralist zum allgemeinen Gespött. Wer zu anderen am gemeinsten war, gewann. Kurz gesagt. Der Faschist im Menschen triumphierte.“ Der Tod seines Vaters trifft ihn in einer Lebenskrise. Die Auseinandersetzung mit Tod und eigener Geschichte, die Versuche, mit einigen aus dem Nachlass geretteten Fälschungen der eigenen Finanzmisere zu entkommen, begleiten den Weg des Erzähler aus der eigenen Krise zum einem neuen schriftstellerischen und persönlichen Anfang. Joakim kann nach der Aufarbeitung des „Nachlasses“ seines Vaters wieder mit sich und seiner Umwelt kommunizieren. Vallgren fasst dies treffend und humorig zusammen: „Immer seltener fiel er seinen pornographischen Lastern zum Opfer, immer seltener besuchte er youporn.com oder surfte in der Unendlichkeit des Cyberspace nach nackten Frauenkörpern.“ Die Erzählung lässt letztendlich die Fälschungen von Leben und Kunst hinter den Protagonisten zurück, sowohl bei Victor als auch bei seinem Sohn Joakim. „Erst als Viktor seine Fälschungen zerstört hatte, war er frei. Letzten Endes gab es eine Wahrheit, die er höher schätzte als alles andere: die der Kunst selbst.“ Kann es eine hoffnungsvollere Perspektive im Leben geben, als das die Kunst über eine gefälschte, unechte Wirklichkeit obsiegt?

Titelbild

Carl-Johan Vallgren: Kunzelmann und Kunzelmann. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Angelika Gundlach.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
610 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783458174608

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