Literatur im Geiste des Copy & Paste

Die 17-jährige Helene Hegemann löst mit ihrem neuen Roman „Axolotl Roadkill“ eine intensive Debatte aus. Darin haben sich bisher aber fast nur ältere Kritiker zu Wort gemeldet

Von Philip KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philip Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwas Unterhaltsames hat sie schon, die Plagiats-Debatte über die 17jährige Helene Hegemann und ihren gut 200 Seiten starken Roman „Axolotl Roadkill“. Es ist nicht das erste Mal, dass sie als Autorin erfolgreich in Erscheinung tritt: Am 6. Dezember 2007 – da war sie gerade mal 15 Jahre alt – wurde ihr Theaterstück „Ariel 15“ in Berlin im Ballhaus Ost uraufgeführt, und nur ein Jahr später feierte das Jugenddrama „Torpedo“ bei den Hofer Filmtagen Premiere. Hegemann lieferte hierfür das Drehbuch und erhielt prompt den Max-Ophüls-Preis für deutsche Nachwuchsfilmer.

2010 nun also ihr erster Roman, „Axolotl Roadkill“, –und sofort wird sie für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Die Feuilletons der großen Zeitungen loben Hegemann in den höchsten Tönen, stellen sie in eine Reihe mit Autoren wie Heinrich Böll, Peter Handke und Daniel Kehlmann, sprechen von einem Stellvertreter-Roman für die so genannten „Nullerjahre“, einer würdigen Nachfolgerin von Skandalautorin Charlotte Roche, nur eben noch jünger, noch drastischer. Um ihr eine Woche später all diese frenetisch und vielleicht auch voreilig hinausposaunten Prädikate wieder abzuerkennen, als bekannt wurde, dass die Autorin erhebliche Teile ihres Debüts einfach abgeschrieben hat.

Der Blogger Deef Pirmasens deckte diesen Skandal nur wenige Wochen nach dem Erscheinen von „Axolotl Roadkill“ auf seiner Homepage auf, indem er Passagen von Hegemanns Roman mit solchen aus „Strobo“, dem Text eines vom Feuilleton weitgehend unbeachteten Underground-Autors mit dem klangvollen Pseudonym „Airen“, verglich und dabei gravierende Ähnlichkeiten feststellen musste – an einer Stelle kopierte Hegemann sogar eine ganze Seite aus „Strobo“, ohne etwas daran zu verändern. Die junge Autorin blieb cool, entschuldigte sich in aller Form dafür, Airen, den sie sehr bewundere, nicht in ihrer Danksagung aufgelistet zu haben, und begründete, dass dies eben eine gängige Methode des jungen 21. Jahrhunderts sei: Copy & Paste. Man müsse einfach akzeptieren, dass der Roman in seiner Entstehung die Methoden des Jahrzehnts widerspiegele, so die junge Autorin etwas altklug in einem Interview mit FAZ-Chefredakteurin Felicitas von Lovenberg, sie sei „total gedankenlos und egoistisch“ gewesen. In der zweiten Auflage des Buches steht Airen nun in der Danksagung.

Entschuldigung hin, Entschuldigung her, das Feuilleton gab bislang keine Ruhe mehr. Das „Wunderkind“ wurde demontiert. Man forderte, ihr die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse wieder abzuerkennen, unterstellte sogar, ihr Vater, Carl Hegemann, hätte den Roman geschrieben und in ihm seine pädophilen Neigungen ausgelebt.

Kommentare wurden von bekannten Literaturkritikern unter Pseudonymen veröffentlicht. Ein gewisser „Axel Lottel“ – aber auch die „taz“ – warf den Feuilletonisten vor, Bücher wie „Axolotl Roadkill“, aber auch „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche als ,Wichsvorlage‘ zu benutzen, in dem Bewusstsein, die jungen Frauen hätten das Beschriebene selbst erlebt. Von Lovenberg verschlägt es im Interview mit Hegemann die Sprache, Maxim Biller lobt sie erst und schämt sich dann. Der Fall Hegemann hat die in die Jahre gekommenen deutschen Feuilletonisten in eine tiefe Sinnkrise gestürzt.

Das Problem ist: Diejenigen, die bisher über Buch und Plagiat sprachen, gehören einer ganz anderen Generation an. Vertreter der „Nullerjahre“, der „Copy & Paste-Generation“ haben bisher zur Diskussion nur wenig beigetragen. Einmal ist da das „Wunderkind“ Hegemann selbst. Dann Deef Pirmasens und der Underground-Autor Airen. Alle drei sind mit ihren Texten Gegenstand der Plagiats-Debatte, aber kaum selbst daran beteiligt.

Hier geht es nicht nur um ein neues Verständnis des Copyrights, hier geht es um ein neues Selbstverständnis überhaupt. Und es liegt auf der Hand, dass sich die Jüngeren selbst anders verstehen als die Alten. Hier handelt es sich um eine Generation, die ganz andere Wertvorstellungen hat als diejenigen, die in den Feuilletons den Ton angeben wie von Lovenberg, Biller oder Reich-Ranicki. Sie sind aufgewachsen mit Google und Apple, Amazon, Shareware und ebooks, Facebook, Studivz und dem Bewusstsein, ständig und überall auf diesem Globus online gehen zu können. Diese Generation hat Skype und Fernbeziehungen, teilweise interkontinental.

Man nennt sie die Generation Porno, Generation Flatrate-Saufen, es ist eine Generation, die ihre Bildung weitestgehend aus dem Fernsehen oder aus der Wikipedia hat, unter anderem, weil das Bildungssystem an immer neuen Reformen wie Bachelor oder G8 scheitert.

Wenn man krank wird, geht man heute nicht mehr zum Arzt, man geht erstmal ins Internet und sucht die Symptome. Hier wird gerade ein Jahrgang flügge, der – anders als alle bisherigen – von Geburt an mit dem world wide web konfrontiert wurde und dessen Gebrauch für die jungen Menschen vollkommen normal ist. Eine Debatte um den so genannten Ideenklau wie im Fall von Hegemann und „Axolotl Roadkill“ muss also in Zeiten von Blogs und Youtube, Twitter und dem ständigen Daten- und Ideenaustausch vielleicht anders geführt und bewertet werden als es bisher geschehen ist.

Zum Teil erledigt Hegemann das in ihrem Roman gleich selbst. Sie zitiert: Medea, Hamlet, David Foster Wallace, George Orwell und Airen. Die Überschriften zu jedem einzelnen Kapitel sind Zitate – besonders gelungen das Franz-Beckenbauer-Zitat – und das hat auch alles Methode: Das Zitieren gehört zum Konzept dieses Romans. Aber was will uns die Autorin damit sagen? Willkommen in der Copy & Paste-Generation? Willkommen im Zeitalter des aufgeweichten Copyrights? Es gebe keine Originalität, nur Echtheit, bemerkt sie in ihrer Stellungnahme zum Plagiatsvorwurf. Irgendwie hat das ja auch etwas Romantisches. Was damals für die Grimms, für Clemens Brentano, Achim von Arnim und andere Volkslieder und Märchen waren, sind für Hegemann eben heute die Blogs, Emails von Freunden, SMS, Bücher von Underground-Autoren, Pop-Literaten, Stilikonen, Werbebanner, RTL 2 und so weiter.

„Berlin is here to mix everything with everything“, ruft Bruder Edmond noch zu Beginn des Romans aus, ein Satz, der aus Airens Blog stammt, und mit dem die Autorin erstmal klar macht, unter welchem Stern das Buch steht. „Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde. […] Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.“

Die Frage, die man sich während der Lektüre immer wieder stellt, lautet: Wäre das Buch besser, wenn jedes Wort von ihr selbst stammen würde? Vermutlich ja. Beim Lesen bleibt immer ein schaler Beigeschmack, weiß man doch, dass manche Sätze von anderen Autoren stammen. Die Frage, die man hinterher schieben sollte, lautet: Ist es trotzdem ein gutes Buch?

Hegemanns „Wunderkind-Roman“ strotzt nur so vor pubertärem Pathos. Die Rigorosität und die Kompromisslosigkeit der Sprache sind beeindruckend. Nicht anders die pointierte Darstellung der gegenwärtigen Umwelt, die wie unter einem Stroboskop die skurrilsten Bilder zum Leuchten bringt, nur um kurz darauf wieder zu erlöschen. Beeindruckend ist auch, wie Hegemann Eindrücke aus dem Berliner Drogenmilieu – auch wenn diese nicht von ihr selbst, sondern anderen gewonnen wurden – sammelt, komprimiert und auf ihre Essenz hinunterkocht.

Neu ist das alles natürlich nicht. Die Drogen-Berichte hat man schon bei Hunter S. Thompson gelesen, die Fäkal-Sprache kennt man von Charles Bukowski. Der Unterschied liegt darin, dass der eine ein gewiefter Gonzo-Journalist war, der andere ein bei der Post angestellter Berufsalkoholiker. Hegemann dagegen ist eine junge Frau von 17 Jahren, die soeben als Stimme der „Nullerjahre“ ausgerufen wurde. Sicher ist sie reifer als die meisten 17jährigen, sicher schon abgeklärter und belesener, doch die Spuren der gerade überwundenen Pubertät sind noch deutlich zu erkennen.

„[K]urz bevor ich die Wohnung betrat, schlug mir der Geruch von vierzig Zentnern Kotze und Scheiße entgegen. Alles war vollgekotzt, überall wo ich hinsah, triumphierte irgendeine Kotzlache über den Sieg gegen uns.“ Mifti ist 16 und wohnt in Berlin. Ihre Mutter ist vor wenigen Jahren an inneren Blutungen gestorben. Sie war schwere Alkoholikerin. Darin weicht der Lebenslauf der Protagonisten von „Axolotl Roadkill“ von denen der meisten Teenagerexistenzen mit ihren patchwork-gebeutelten Familienatmosphären deutlich ab. Die Mutter tot, der Vater „eins von diesen linken, durchsetzungsfähigen Arschlöchern überdurchschnittlichen Einkommens, die ununterbrochen Kunst mit Anspruch auf Ewigkeit machen“, kommt Mifti bei ihren beiden älteren Geschwistern, Edmond und Annika, unter.

„Um 16 Uhr 30 wache ich orientierungslos in einen Bettbezug gewickelt auf und bin in erster Linie von mir selbst gelangweilt.“ An diesen Punkt kehrt der Roman immer wieder zurück, und von ihm ausgehend durchstreift Mifti die Berliner Nacht- und Drogenszene wie ein Zombie. Kaum ein Pulver, das sie nicht konsumiert, kaum eine Pille, die sie an sich vorübergehen lässt. Sie selbst sagt, sie habe ein Problem mit Sex, hat aber trotzdem ständig welchen, meist mit älteren Männern, die sie kaum kennt und die ihr ihre roten und verschrumpelten Schwänze ins Gesicht halten wollen. Man fragt sich, was dieses Mädchen kaputt gemacht hat, dass es sich so sehr selbst hassen und zerstören muss. Um diese Frage zu beantworten, nimmt die Autorin den Leser mit auf eine schonungslose Reise durch Berlins Rinnsteine und Disco-Toiletten, und im Laufe der gut 200 Seiten ergibt sich aus einzelnen Rauscherfahrungen, Impressionen, Emails und SMS-Nachrichten ein Bild, das das Ausmaß der seelischen Zerrüttung erahnen lässt.

„Meine Mutter ist gestorben, als ich dreizehn war.“ Das ist der Satz, auf den sich der Roman in seiner Essenz reduzieren lässt. Ein Schlag, mit dem das Mädchen nicht fertig wurde. Hilfesuchend verliebt sich Mifti in Alice, eine 48-jährige Frau, die als DJ in Berlins In-Clubs auflegt und in der sie zweifelsohne die tote Mutter wiedererkennt. Alices Anerkennung wird für das Mädchen zumDreh- und Angelpunkt ihrer Existenz. Bei aller Melodramatik transportiert das Buch jedoch immer auch ein Gefühl: Das Gefühl, wie es ist, ein Teenager zu sein – pubertär, unverstanden, zurückgewiesen und alleingelassen. Und da ist man auch ganz nah an der Autorin dran. Hegemanns Mutter starb, als sie dreizehn war und der Vater im Buch erinnert häufig auch an Carl Hegemann.

„In dem Buch geht es ja darum, dass sich hier jemand bewusst für eine negative Entwicklung entscheidet“, antwortete Hegemann in einem Interview mit Cosima Lutz für „Die Welt“ auf die Frage, in welche Richtung die Wirkung ihres Romans gehen solle. Man darf gespannt sein, welche Entwicklung die junge Hegemann nach all dem Wirbel um ihre Person nun selbst nehmen wird und wie sich die Jury des Preis der Leipziger Buchmesse Mitte März entscheidet. „Axolotl Roadkill“ dürfte nach alledem wohl kaum noch ausgezeichnet werden.

Anmerkung der Redaktion: Beiträge und Hinweise zu der Debatte über Helene Hegemanns Roman enthält unser Kulturjournal.

Titelbild

Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2010.
203 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783550087929

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Leserbriefe

Hans Peter Roentgen: Einer Behauptung aus dem Artikel muss ich denn doch heftig widersprechen: Im Internet, in den Blogs und Foren finden sich durchaus jede Menge an Diskussionen über den Fall Hegemann und die Frage des Copyrights statt. Und ...

gitta kohl: In der Tat, in Foren und Blogs wird über HH´s Opus zwar heiß, aber kaum widersprüchlich "diskutiert", weswegen ich den Eindruck habe, dass es sich eher um so was wie eine Neiddebatte handelt. HH hat Urheberrechte ...

Hans Peter Roentgen: Nicht nur im Internet wird sehr einheitlich diskutiert. Die Feuilletons waren ja - vor der Entdeckung des Plagiats - auch alle einheitlich begeistert. Und schrieben, als wollten sie sich als neue PR Manager bei Ullstein ...

gitta kohl: "Ich finde meine dissoziative Identitätsstörung interessanter als alles, was diese Stadt mir ununterbrochen ins Gesicht kotzt." (Quelle Helene Hegemann, Axolotl Roadkill 2010 by Ullstein, S. 24, wir wollen ja in der Beziehung ...

Herbert Huber: Sie zitieren: " Es geht um meine Achtungswürdigkeit, um Stahl und Beton, um eine riesige Fensterfront, die mit beweglichen Rollläden verschlossen werden kann, um meine Angst vor dem Tod, es geht um die Explosion der Wahrnehmung ...

gittakohl: @Herbert Huber Ja, diese HH-Sätze erfordern eben ein weites Feld der Phantasie, und "Explosion der Wahrnehmung"? ist für den einen halt "verbales Gekotze", für den anderen ein interessantes Synonym für : ...




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