Schilda ist nebenan

Volker Braun und Bruno Schrep erzählen in Kurzprosa von den Narreteien des Sozialstaats und entgleisten Existenzen

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die heutige Arbeits- oder vielmehr Arbeitslosenwelt im Zeichen von Hartz IV ist vielen Autoren ein Thema für einen Sozialroman. Für den Büchnerpreisträger Volker Braun war dies ein Anlass, das historische Genre des Schelmenromans auf seine Tragfähigkeit für literarisches Schreiben von heute zu überprüfen: in seinem vor zwei Jahren erschienenen Schelmenroman „Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer“. Auf das „Machwerk“ ist nun das „Flickwerk“ gefolgt, eine Sammlung von Kurzprosastücken, bei welcher der arbeitslose Protagonist Flick aus dem Roman jedoch nur im Titel erscheint. Gleich geblieben sind aber das Thema und der Geist eines alten Genres: die Narrenliteratur. Stichwortgeber für das „Flickwerk“ war ein Arbeitsmarktexperte, der laut der „Narrenkleid“ überschriebenen Vorrede des Autors die staatlichen Maßnahmen für ältere Arbeitslose als „Flickwerk“ bezeichnet hat. „Da hat er die neuen Kleider hübsch beschrieben, und nicht nur die der Abgerissenen, Ausgegrenzten: die der ganzen bunten Gattung“. Doch ist es keineswegs Flickwerk, was uns Braun hier vorgelegt hat, werden doch alle Geschichten durch die Idee und das Wortfeld des Narrentums und der Narrheit zusammengehalten. Sie kreisen um Stellenknappheit und Sozialhilfe, soziale Probleme der Globalisierung oder die Finanzkrise, der Afghanistankrieg und die Abwrackprämie werden ebenso nicht ausgespart. Der Autor hat ein Gespür für die komisch-grotesken Seiten des Sozialstaates und seiner unablässigen Arbeitsmarktreformen, mit der er der Misere Herr zu werden glaubt. Paare geben sich als Alleinstehende aus, um nicht als „Bedarfsgemeinschaft“ zu gelten, umgekehrt werden Scheinehen arrangiert, wenn das staatliche Hilfe verspricht. Das Leben der sozialen Verlierer kann schließlich so weit deformiert werden, dass es buchstäblich „an die Nieren geht“ – wenn jemand seine Nieren im Internet versteigern will, um seine Familie ernähren zu können, und dadurch straffällig wird. Braun knüpft hier, wie in vielen Fällen, an Zeitungsmeldungen aus der Rubrik „Vermischte Nachrichten“ an und übernimmt damit, auch in der stilistischen Gestaltung und in der Sprachform, ein Formvorbild und eine Arbeitsweise, die schon die Anekdoten Heinrich von Kleists und die Kalendergeschichten Johann Peter Hebels ausgezeichnet haben. Die alte Erzähl- und Stilform dient aber dabei nicht der Verklärung und Verharmlosung, sondern als eine Folie der Verfremdung und Distanzierung, um damit ein neues Licht auf die Verhältnisse der Arbeits- und Lebenswelt von heute zu werfen. Braun begnügt sich nicht mit einer wohlfeilen Pointe, sondern fügt meist noch einen hintersinnigen Kommentar an, der zum Nachdenken zwingt. Das kann bis zur Allegorisierung gehen: Der Fall eines australischen Autofahrers, der 40 Kilometer im Rückwärtsgang fuhr und von der Polizei angehalten wurde, wird im Handumdrehen zur lakonischen Chiffre für „unsere Regierung, die den Sozialstaat voranbringt“ („Auf dem Highway“). Aber auch andere berühmte Vorbilder aus der Literatur sind präsent: neben den Streichen der Schildbürger, die zitiert und abgewandelt werden, und Till Eulenspiegel sind es Franz Kafka und Nikolai Gogol. Dessen „Tote Seelen“ werden pointiert auf die Gegenwart bezogen: „Der zaristische Beamte Tschitschikow kaufte die Leichnamen auf, die noch in den Steuerlisten standen, der demokratische Staat findet die Lebenden ab, und sie verschwinden aus der Statistik. Hochstapelei dort, hier ein Heruntereskamotieren“. In ähnlicher Weise werden Kurzprosastücke von Kafka, darunter die „Beschreibung eines Kampfes“, aus dem auch ein Zitat als Motto der ganzen Sammlung dient und das Leitmotiv „Narren“ einführt, für die heutige Arbeitswelt neu gedeutet und umgeschrieben. Selbst das biblische Gleichnis vom Weinberg wird travestiert – nur geht es jetzt um einen Ein-Euro-Job, für den sich die Arbeiter verdingen müssen. Wenn Braun in einem Stück noch einmal an die seinerzeit durch die Boulevardpresse gegangene Figur von „Florida-Rolf“ erinnert, ein Fall von eklatantem Sozialhilfe-Missbrauch, dann geht es ihm nicht um Parteinahme für die Benachteiligten, sondern er hinterfragt das gängige Urteil über sogenannte „Sozialschmarotzer“. Überhaupt – und das hebt die Kurzprosa Brauns über bloße Tendenzliteratur hinaus – wird der Antagonismus von Staat und Arbeitenden beziehungsweise Arbeitslosen nicht durch einfache Parteinahme aufgelöst, sondern dialektisch beleuchtet. Bei der Betrachtung durch die Brille der Narrenliteratur ist in den sozialen Konflikten keineswegs ausgemacht, wer der Narr ist. Durch diese Brille wird den Konflikten aber auch nicht ihre Schärfe genommen, indem sie zu allgemeinmenschlichen Schwächen der condition humaine umgedeutet würden oder bei den aus der Rubrik „Vermischtes“ entnommenen realen Vorfällen nur der skurrile Unterhaltungswert abgeschöpft würde. Dass Braun in der dialektischen Behandlung sozialer Antagonismen gewitzt und bewandert ist, hatte er bereits in den „Berichten von Hinze und Kunze“ von 1983 bewiesen. Dass das diesmal überdies mit viel Wortwitz geschieht – Sprachspielereien durch Wörtlichnehmen von Redewendungen durchziehen die ganze Sammlung –, macht das Buch nicht nur zu einer erkenntnisreichen, sondern auch vergnüglichen Lektüre.

Ganz anders Bruno Schrep in seiner Geschichtensammlung „Nebenan. Wahre Geschichten“, die von der sozialen Thematik und dem authentischen Hintergrund durchaus mit der Volker Brauns vergleichbar ist. Es handelt sich um zwanzig Reportagen für den „Spiegel“, die der Autor nach einer Überarbeitung nun als Buch vorlegt hat. Sie handeln von eklatanten Fällen sozialen Abstiegs, Integrationsproblemen von Randgruppen wie Migranten, Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen sowie Sträflingen und bewegenden Einzelschicksalen, die ihren Höhepunkt oft in einer Bluttat finden. (Wie Thomas Bernhard, der in seiner Kurzprosa auch drastische existenzielle Wendungen liebt, begann Schrep seine Laufbahn als Gerichtsreporter.) Da ist die Mutter, die ihre schwer behinderte erwachsene Tochter erstickt und dafür verurteilt wird, eine Medizinstudentin, die ihr Examen nicht besteht und jahrelang erfolgreich als anerkannte Kinderärztin arbeitet, ein ehemaliger Mörder, der nach einem Theologiestudium als Pastor arbeitet und von seiner Umgebung angefeindet wird oder der Polizeikommissar, der betrunken einen tödlichen Autounfall verursacht, vorzeitig in den Ruhestand versetzt wird und darauf in die soziale Isolation gerät. Ein prominenter Fall ist die Geschichte der RAF-Terroristin Susanne Albrecht, der nun als Familiengeschichte daherkommt. Schrep verzichtet auf eine literarische Stilisierung und eine Bewertung, verfällt auch nicht in den Gestus sozialer Anklage, sondern schreibt in einem nüchternen Reportageton; die Fallgeschichten leben vor allem vom stofflichen Interesse. Anders als etwa bei den Reportagen von Gabriele Goettle dominiert ein gewisses boulevardhaftes Interesse am plakativen Sensationsreiz. Hier besteht die Gefahr, wie auch bei Zeitungsglossen und Aphorismen, dass das, was im ursprünglichen publizistischen Kontext einzeln gelesen seinen Reiz haben mag, als Sammlung leicht ermüdend wirken kann. Doch gerade bei den tragischen Einzelschicksalen stellt sich ein eigentümlicher Lektüreeffekt ein: Man liest die Texte wie ein Stück fiktionaler Literatur, als seien sie doch erfunden, zumal manche durchaus den Rohstoff für eine tragische Novelle abgeben könnten. Begünstigt wird diese „literarische“ Lektüre vor allem durch die Loslösung der „Spiegel“-Reportagen vom tagesaktuellen Kontext. Die Wirklichkeit, auch wenn sie mit faktualem Anspruch wiedergegeben wird, hat schon immer die Kunst nachgeahmt, um mit Oscar Wilde zu reden. Diese Leseerfahrung, über die Eigenarten und das Verhältnis von faktualem, dokumentarischem und fiktional-literarischem Erzählen nachzudenken, geht über das stoffliche Interesse an den Fallgeschichten hinaus und entschädigt für den leichten Überdruss an der gehäuften Schilderung sozialen und individuellen Elends.

Titelbild

Volker Braun: Flickwerk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
77 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421093

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Bruno Schrep: Nebenan. Wahre Geschichten.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
204 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305182

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