Archäologen-Krimi mit Tiefgang und Schlagseite

Über Ahmet Ümits Roman „Patasana“

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ahmet Ümit ist der profilierteste türkische Krimi-Autor. International bekannt wurde er mit seinem – eindrucksvoll verfilmten – Geheimdienst-Politkrimi „Nacht und Nebel“. Auch „Patasana“ ist ein gelungener und literarisch anspruchsvoller Kriminalroman. Er hat nicht nur politischen, sondern auch historischen und philosophischen Tiefgang. In der Türkei schon vor zehn Jahren erschienen, ist er erst 2009 auch auf Deutsch herausgekommen, in einer – von ein paar kleinen Sprachfehlern abgesehen – ansprechenden Übersetzung von Recai Hallac.

Zunächst bietet er eine anschauliche und interessante Archäologen-Geschichte. Ein internationales Team arbeitet im Jahre 1999 an einer Ausgrabungsstätte in Südostanatolien am oberen Euphrat. Die Erzählung konzentriert sich auf eine dramatische Phase von wenigen Tagen: Ein sensationeller Fund auf 28 hethitischen Schrifttafeln wird sichergestellt und entziffert. Deren Inhalt wird den 28 Romankapiteln Tafel für Tafel montageartig angehängt. Diesen Fund, Bekenntnisse eines hethitischen Hofschreibers namens Patasana aus dem 8. Jahrhundert vor Christus, möchte man auf einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit präsentieren: als „das erste Dokument der inoffiziellen Geschichtsschreibung der Menschheit“. Da bricht eine Serie von ebenso mysteriösen wie grauenvollen Morden in der unmittelbaren Umgebung bedrohlich mitten in die Arbeit hinein. Darum bemüht sich außer dem Gendarmerie-Hauptmann Esref auch Esra, die Leiterin des Archäologen-Teams, um Aufklärung der Morde. Esra, die Hauptfigur der Gegenwartsebene, ist eine emanzipierte, junge türkische Wissenschaftlerin – eine beachtliche Einfühlungsleistung des Autors, zugleich ein nützliches Lehrstück für deutsche Leser, was Frauen in der Türkei betrifft.

An der Mordserie und den unterschiedlichen persönlichen Sichtweisen der Figuren werden geschickt verschiedene Themen festgemacht. Es geht um politische Brennpunkte der heutigen Türkei: den mörderischen Kampf von Militär, ‚Dorfschützern‘ und Spitzeln gegen Kurden und PKK, um reaktionäre, fanatische Islamisten, um das bis heute hochbrisante Tabu-Thema des Völkermordes an den Armeniern. Diese spezifisch türkischen Themen werden von noch weiteren überlagert. Beide Erzählebenen, die moderne wie die antike, durchläuft ein Diskurs über politische Gewalt und die Verstrickung des Individuums in sie. Damit verbinden sich die Themen der Religion(en) und ihrer Mitspielerrolle in der Geschichte der Gewalt, des Intellektuellen zwischen Korruption und Integrität, der Literatur selbst zwischen Unterhaltung und Aufklärung, Spannung und Nachdenklichkeit. Darüber vergisst der Erzähler jedoch keineswegs die kleinen Dinge des Alltags, wie das Essen mit seinen gemeinschaftsstiftenden, auch interkulturellen Aspekten, und die großen Geschichten des Lebens, vor allem die Liebe. In den Roman sind drei Liebesgeschichten eingeflochten: eine unreife, eine reife und eine tragische. Letztere zwischen Patasana und einer der Frauen des Königs, das Hauptthema der 28 Tafeln.

Der ganze Roman ist sehr sorgfältig gestaltet. Die harten Schnitte der Montageform werden ausgeglichen durch wörtliche Wiederaufnahmen über die Schnittstellen hinweg. Beides schafft Distanz zur bloßen Krimihandlung und Freiraum für die Entfaltung der anderen Themen, für Tiefgang. Der Stil der Bekenntnisse lehnt sich, ohne lästig zu archaisieren, hier und da dezent an das Gilgamesch-Epos an, das der gelehrte Schreiber natürlich kennt, denn es befindet sich ja in der von ihm betreuten Hofbibliothek. Die beiden Erzählebenen kommen am Schluss ebenso stimmig wie unheimlich zusammen. Zwei Botschaften prallen hart aufeinander: Die eine ist die eines Mörders, der ein „realistischer Intellektueller“ zu sein glaubt: Er mordet aus ethischen Gründen, um den Menschen einen drastischen, grausamen Spiegel vorzuhalten (Wer das ist, wird hier, um die Lesespannung nicht zu zerstören, verschwiegen). Die andere Botschaft ist die von Patasana. Jener Mörder lehnt sie zwar ausdrücklich als unwirksam und in „rosaroten Träumen“ befangen ab, dennoch behält sie das letzte Wort. Es ist eine Botschaft der Selbsterkenntnis und Machtkritik, verbunden mit einem Appell zu Solidarität statt Destruktivität und mit der Utopie eines anderen menschlichen Miteinanders in Liebe und Lebensfreude.

Wie bereits angedeutet, ist in die Gegenwartshandlung um die Gruppe der Archäologen und ihr soziales Umfeld, und in ihre vielstimmigen Gespräche eines der größten Tabus in der Türkei, die ‚Armenierfrage‘, einbezogen. Denn durch die Mordserie kommt ein verdrängtes historisches Ereignis zu Tage und zur Sprache. Das ist jedoch nicht der inzwischen relativ viel diskutierte Genozid von 1915, es sind vielmehr weitere Massaker an Armeniern sechs Jahre später. Da sie im Rahmen von Befreiungskrieg und Republikgründung erfolgten, werden sie in der Türkei bis heute völlig tabuisiert. Gewiss aus diesem Grund schneidet der Autor dieses Thema, ebenso wie das des Kurdenproblems, überaus vorsichtig, ja fast ängstlich an.

Dadurch bekommt sein Roman jedoch eine problematische ‚Schlagseite‘. Einerseits zeigen sich die türkischen Figuren, namentlich die beiden überwiegend positiv und sympathisch wirkenden Hauptfiguren Esra und Esref, von nationaler Ideologie geprägt, wie vermutlich auch viele türkische Leser des Buches. Andererseits sind gerade die beiden Figuren, welche die historische Wahrheit am treffendsten ansprechen, die negativsten: jener ‚ethische Mörder‘ und der extrem unsympathische, fanatisch armenophile Deutsche Bernd mit eiskaltem Blick und „Nazivisage“. Er allein redet ausdrücklich und anklagend vom „Völkermord“ an den Armeniern, von Auschwitz dagegen wie von einer erfolgreich gelernten Lektion.

Zu dieser Schlagseite trägt jedoch am meisten die hethitische Parallelgeschichte bei, die scheinbar nur in weitester geschichtlicher Ferne spielt. Man muss sie aber erst entschlüsseln, und dazu ist einiges an historischem Wissen nötig. Denn bei oberflächlicher Lektüre, wie sie von der bisherigen Kritik zu „Patasana“ repräsentiert wird, gibt es nur ‚allgemein-menschliche‘ Parallelen. Das ändert sich jedoch, wenn man nicht die private Dimension der Bekenntnisse Patasanas, seine tragische Liebensgeschichte, sondern ihre politische Dimension, seine verhängnisvolle Verstrickung in die Geschichte der Hethiter gegen Ende des 8. Jahrhundert vor Christus genauer betrachtet. Dann sieht man nämlich: Der Autor hat seine Patasana-Geschichte zwar exakt entlang der Historiografie, aber zugleich gezielt so modelliert, dass daraus eine Parabel der Geschichte der Armenier wird. Seine unausgesprochene Leseanweisung lautet: Lies für Hethiter Armenier!

Das erfordert allerdings, für einen Krimi nicht unpassend, ein gewissermaßen detektivisches Lesen an einer Indizienkette entlang. Ein erstes Indiz könnte schon der Romantitel, der Name ‚Patasana‘ sein, der historisch nicht belegt ist, jedoch eine große Lautähnlichkeit mit armenischen Familiennamen hat wie Patazyan, Tapazyan oder Papazyan (beziehungsweise -ian). Dies ist der Name mehrerer armenischer Politiker sowie – einer Hauptfigur des Romans. Der Autor hat die Geschichte Patasanas in die späthethitische Zeit hinein erfunden. Diese ist von einem Zerfall des Hethiter-Großreichs gekennzeichnet, der noch Jahrhunderte lang Kleinstaaten hervorbrachte, darunter auch Hatti/Karkamış am Euphrat, in einer der ‚armenischen‘ Provinzen des osmanischen Reichs, wo die Ausgrabung stattfindet. Diese Kleinstaaten gerieten im 8. Jahrhundert zunehmend in Abhängigkeit vom militärisch überlegenen, in ständigen Eroberungskämpfen befindlichen Assyrer-Reich.

Den historischen Ereigniskern der Patasana-Bekenntnisse bildet die Schlusskatastrophe, die Eroberung Hattis durch die Assyrer. Im Roman wird wiederholt sehr stark hervorgehoben, diese sei mit besonders grausamen und umfangreichen Massakern und Vertreibungen verbunden gewesen, mit dem Ziel, „alle Hethiter zu vernichten und diese Stadt in eine assyrische zu verwandeln“. Wenn man jedoch die Historiografie befragt, ist das, ebenso wie die brutale Tötung des letzten Königs Pisiris, der in Wahrheit mit seiner Familie und weiterem Anhang nur verschleppt wurde, Akzentsetzung, Ausmalung, Hinzuerfindung des Autors. Also muss ihm gerade dieses Motiv besonders wichtig gewesen sein. Aus welchem Grund? Die Antwort ist nicht schwer zu finden: Dieses Massaker-Motiv ergibt die Möglichkeit, in der Hethiter- die Armeniergeschichte ebenso scharf wie unauffällig zu spiegeln. Entsprechend sind die weiteren Akzente auf der politischen Ebene der Patasana-Bekenntnisse gesetzt.

Diese Akzente erlauben Gleichungen, mit deren Hilfe man die parabelartige Spiegelung entschlüsseln kann. Das sind die beiden Grundgleichungen: Hethiter = Armenier; assyrisches Reich = osmanisches Reich, und die beiden weiteren: Urartu-Reich im Nordosten = russisches Reich; phrygisches Reich im Nordwesten = Großbritannien oder die westlichen Großmächte (eine fünfte Gleichung ist nur wenig ausgeprägt: Aramäer = Juden). In diesem Rahmen ergeben sich auch suggestive Parallelen zwischen den assyrischen und osmanischen Herrschern: Tiglatpilesar, der „blutrünstige“, „grausame“, „unbarmherzige“ assyrische König, steht dann für Abdülhamid II., den ‚blutigen Sultan‘, unter dessen Verantwortung die umfangreichsten und brutalsten Armenier-Massaker des 19. Jh.s fallen. Und der assyrische Putschist Sargon, der „ein von Aufruhr geplagtes Imperium“ übernimmt und „seine Macht durch Blutvergießen“ festigt, steht für die Jungtürken-Diktatur (1913-1918), die den Genozid von 1915 verübt hat.

Diese Parallelen fallen dem Leser bei hinreichendem Wissen ins Auge. Durch sie wird klar: Die politische Ebene der Patasana-Bekenntnisse soll insgeheim die ins türkische Tabu einbezogene Vorgeschichte des Armenier-Genozids von 1915 spiegeln, so wie die Mordserie der Gegenwartshandlung zaghaft auf dessen noch mehr tabuisierte Nachgeschichte, die Massaker von 1921, verweist. Zaghaft, denn deren Ausmaß verschweigt der Autor. Die unvorstellbare Barbarei des Genozids und seiner Vorstufen jedoch spielt er in keiner Weise herunter. Vielmehr stellt er sie wiederholt durch sein Sprachrohr Patasana eindringlich vor Augen: „Häuser wurden in Brand gesteckt, ihre Bewohner erwürgt, Frauen und Mädchen vergewaltigt, Tempel geplündert. Wer sich zur Wehr setzte, wurde ins Feuer geworfen, dem wurde die Haut abgezogen, die Augen ausgestochen.“

Dennoch beschleicht den Leser, der sich um Geschichtskenntnis bemüht hat, Unbehagen. Schon auf der Gegenwartsebene, der Archäologen- und Serienmord-Geschichte, hat das Armenier-Thema ja, wie nur angedeutet werden konnte, eine ‚armenophobe Schlagseite‘. Die macht auch die Konzepte schief, die Ümits Modellierung der Hethiter-Geschichte als Kommentar zur Geschichte der osmanischen Armenier leiten: Die Hauptschuld liegt zwar eindeutig bei den assyrischen/osmanischen Tätern, aber eine nicht geringe Nebenschuld wird auch auf hethitischer/armenischer Seite, also auf der Seite der Opfer, aufgebaut, sogar dramatisch ins Zentrum gestellt: Wenn König Pisiris und sein Schreiber und Berater Patasana lokale armenische Amts- und Würdenträger, Politiker, Aktivisten im späten osmanischen Reich repräsentieren, dann stehen sie in Hinblick auf das Schicksal ihrer Landsleute in einem sehr schlechten Licht da. Sie sind „voller Niedertracht, Verrat und Feigheit“. Die Katastrophe haben sie selbst heraufbeschworen, lies: die führenden Armenier im osmanischen Reich haben, mit dem Ziel, dieses zu zerstören und ein selbständiges Groß-Armenien zu erneuern, Intrigen gesponnen, hochverräterische Bündnisse geschmiedet, „angestachelt“ vom feindlichen Ausland, den Großmächten, vor allem Russland und England.

Diese Sicht, die im Roman trotz aller Dialogizität fast gar nicht relativiert wird, kommt der in der Türkei leider immer noch vorherrschenden Geschichtslüge näher, als der Einsicht in die historische Wahrheit, wie sie die kompetentesten Fachhistoriker (unter anderem Donald Bloxham, Raymond Kevorkian, Hans-Lukas Kieser), einige mutige türkische eingeschlossen (unter anderem Taner Akcam, Fikret Adanir, Halil Berktay, Caglar Keyder), erarbeitet haben. (Eine gut lesbare Gesamtdarstellung hat der Journalist Hans Hosfeld 2005 unter dem Titel „Operation Nemesis“ veröffentlicht.) Wie soll man diese bedauerliche Schlagseite des Romans bewerten, die mit dem in der Türkei noch vorherrschenden, von Rechts- und Linksnationalisten wie auch von Islamisten vertretenen Geschichtsbild allzu konform geht? Vielleicht hat der Erzähler ja nur vergessen, uns mitzuteilen, dass sich die Bekenntnisse Patasanas als Fälschung eines assyrischen Hofschreibers erwiesen haben.

Titelbild

Ahmet Ümit: Patasana.
Aus dem Türkischen von Recai Hallac.
Edition Galata, Berlin 2009.
416 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783935597746

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