Playgiarism

Hegemann, die postmoderne Literaturtheorie und die Rückkehr des Autors in der Literaturwissenschaft

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Die aufgeregte Diskussion über den Roman „Axolotl Roadkill“ der siebzehnjährigen Autorin Helene Hegemann und die angemessene Einschätzung ihrer Plagiate kann auch die Literaturwissenschaft nicht unberührt lassen. Aber der von Eckhart Löhr beschworene „Skandal der Literaturkritik, die mit den analytischen Werkzeugen des 19. Jahrhunderts an Texte des 21. Jahrhunderts herangeht“, ist keiner. Zumindest nicht der, den Löhr beschreibt. Sein eigenes Begriffswerkzeug, das in der Debatte ähnlich auch von anderen verwendet wurde, nimmt sich vielmehr selbst ziemlich alt aus. Es stammt aus den „postmodernen“ 1980er-Jahren, in denen sich die Rede vom „Tod des Autors“ nachhaltiger Beliebtheit erfreute. Die beiden Aufsätze, auf die man sich damals immer wieder berief, um die seit dem 18. Jahrhundert forcierten, „modernen“ Autonomie-, Individualitäts- und Originalitätsansprüche von und an Autoren zu verabschieden, waren noch älter. Michel Foucaults „Was ist ein Autor?“ erschien 1969, der Essay „Der Tod des Autors“ von Roland Barthes etwa ein Jahr vorher. Eckhardt Löhr übernimmt daraus demonstrativ viele Sätze, um Hegemanns freundliche Übernahme fremder Texte imitatorisch zu veranschaulichen. Aber mit einem gravierenden Unterschied: Er setzt sie in Anführungszeichen und macht mit dieser Form der Aneignung das geistige Eigentum eines anderen Autors kenntlich.

Schriftsteller (und viele Journalisten) haben beim Abschreiben weit weniger Skrupel und bewegen sich damit in bester Gesellschaft – und in ehrwürdigen, vormodernen Traditionen. Die „unoriginelle Literaturgeschichte“ des Plagiats (siehe literaturkritik.de 10/2009), die der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn kürzlich veröffentlichte, liefert dazu viele wunderbare Beispiele.

Im Umfeld der Postmoderne bekam der literarische Umgang mit anderen Texten einen betont spielerischen Charakter. Der im Oktober letzten Jahres gestorbene Schriftsteller und Wissenschaftler Raymond Federman kreierte dafür in den 1970er-Jahren ein Wortspiel, eine Mischwortbildung aus „play“ und „plagiarism“: „playgiarism“. Die spielerische Anlehnung an andere Texte tangierte damals einen der zentralen Begriffe postmoderner Literaturtheorie, den der „Intertextualität“. Er meint das Phänomen, dass sich literarische Texte mehr oder weniger exzessiv auf andere, ihnen vorangegangene „Prätexte“ beziehen, sie zitieren, imitieren, plagiieren, ironisieren oder mit ihnen in einen Dialog treten. Für den Autor kann das intertextuelle Spiel eine lustvolle Befreiung sowohl von den übermächtigen Zwängen einzelner literarischer Traditionen als auch vom Innovationsdruck der Moderne sein. Wo tradierte Texte respektlos zum Spielmaterial gemacht werden, sieht sich der Autor von seiner Angst vor ihrem übermächtigen, autoritativen Einfluss befreit, und wo er auf Traditionen in Form eines ironischen Spiels mit ihnen zurückgreift, kann er sich vom Vorwurf bloßer Epigonalität oder des Plagiats entlastet sehen.

Der Fall Hegemann ist allerdings anders geartet. Von einem Spiel kann hier bei der wörtlichen und unmarkierten Übernahme anderer Texte keine Rede sein. Der existentielle Ernst ihres Romans ist unverkennbar. Er zeigt sich auch da, wo die sechzehnjährige Protagonistin in ihr Tagebuch schreibt: „Mir wurde eine Sprache einverleibt, die nicht meine eigene ist, es sind so viele Gedanken da, dass man seine eigenen gar nicht mehr von den fremden unterscheiden kann.“ Wie fragwürdig es ist, auch eigene und fremde Sätze nicht zu unterscheiden, sei hier dahin gestellt. Fragwürdig ist indes mittlerweile eine Literaturwissenschaft geworden, die sich als reine Textwissenschaft versteht und sich den Blick auf jene angestrengt versperrt, die Texte schreiben und lesen. Das hat sich inzwischen geändert. Der Rede vom „Tod des Autors“ ist in der Literaturwissenschaft längst die von der „Rückkehr des Autors“ gefolgt. Sie lässt sich mittlerweile nicht mehr ignorieren.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel wurde zuerst in unserem Kulturjournal veröffentlicht. Dort finden Sie weitere Beiträge und Hinweise zu der Debatte.