Kunst am Ende der Kunst

Botho Strauß’ Roman „Vom Aufenthalt“ erinnert manchmal an die Misanthropie Arno Schmidts

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In kurzen Prosabildern resümiert Botho Strauß das Leben und die Wirklichkeit. Er denkt über die Zeit nach, über die Tage, über das Verrinnen der Zeit und über die Vergänglichkeit. Er deutet kleine Geschichten an und schafft eine Vielzahl von mehr als nur bemerkenswerten Prosaminiaturen. Fast jede dieser Miniaturen hat es in sich. Man ist immer wieder versucht, zurückzugehen im chronologischen Lauf der Lektüre und vorhergehende Sentenzen mit anderen Textteilen in Verbindung zu bringen. Dabei sind es vor allem auch die schwierigen Thesen, die Strauß erst später im Text erklärt – wenn auch nur indirekt: „Die unsinnigen Utopien des Aufklärungszeitalters haben verhindert, daß wir unsere Jenseitsvorstellungen pflegen und verbessern“.

Strauß Kritik’ der Aufklärung verweist indirekt auf Max Horkheimers und Theodor W. Adornos „Dialektik der Aufklärung“. Gleichzeitig scheint Botho Strauß einem humanistischen Bildungsideal verpflichtet zu sein, wenn er in den laufenden Text dem Leser sogar Zitate aus dem Griechischen zumutet, ohne diese in Anmerkungen und Erklärungen zu erläutern. Dies ist ein hoher Anspruch an die Bildung des Lesers. Dieser wird mit einer Art „Vademecum der letzten Tage“ beglückt, das ihn mit einer in Auflösung und im Zerfallen befindlichen Welt konfrontiert, die auch die Auflösung des Selbst, den Tod, thematisiert. Aber selbst diesem gewinnt Strauß eine ironische, gebrochene Sicht ab, die er in Poesie auflöst. Er beschreibt eine Welt, in der „die Krankenschwester zur Einzigen der letzten Tage wird.“ Und selbst in solchen Bildern sind die ihnen innewohnenden Denkfiguren brillant: „Eine Frau, der man niemals vergeben kann, ist vielleicht die, deren pornografisches Foto man als Lesezeichen in einem Gedichtband entdeckt, den man aus dem Bücherschrank seines besten Freundes entlieh.“

Aus seinem zurückgezogenen Schreibrefugium aus der Uckermark, in der Nähe zur polnischen Grenze, ganz im Osten Deutschlands, ertönt dieser Metakommentar der Zivilisation. Dabei sind Strauß nicht die Menschen zuviel geworden. Nur die Akteure in einem sinnentleerten alltäglichen Leben versieht er mit einem tödlich treffenden Etikett. Sie sind für ihn nur noch die „traurigen Ritter sozialer Vorteilsbeschaffung“. Mit dieser Kritik trifft er den Leser, uns, die bundesrepublikanische Gesellschaft – berechtigterweise. Botho Strauß’ Kommunikationskonzept scheint dem eines Arno Schmidt in Bargfeld recht ähnlich zu sein: „Dennoch bietet so ein kleines Buch, richtig abgefaßt, heute vielleicht die letzte Chance, mit dem ein oder anderen Menschen in Verbindung zu treten, ohne mit ihm kommunizieren zu müssen.“

Den „Roman seiner Generation“, hat Strauß mit dem vorliegenden Buch nicht geschrieben, aber er liefert ein Werk ab, das in seiner Komplexität schon fast beängstigend ist. Auf über dreihundert Seiten wird in einer Aneinanderreihung von Bruch- und Sammelstücken aus scheinbar heterogenem Textmaterial ein Netz gewoben, das mehr Lücken hat, als das es zusammenhält. Es trägt den Leser zwar durch Seiten, aber es vermittelt auch den Eindruck unendlicher Zerrissenheit, von Verlorenheit und von der Auflösung der Wirklichkeit in viele einzelne Bestandteile. Gibt der Autor vielleicht sogar einen Lesehinweis, ist er sich der Problematik seines Werkes durchaus bewusst? „Jedes Buch, das nicht zu Ende gelesen wird, kann daran zugrunde gehen“, schreibt er. Mit dieser strengen Anweisung traut man sich erst recht nicht, das Buch beiseite zu legen, obwohl diese Neigung den Leser sicherlich das eine oder andere Mal überkommen wird. Der Autor reflektiert daher auch das Problem der eigenen Unverständlichkeit, den Verlust der Lese- und Sprachkompetenz beim Publikum: „Das Sprachliche – einst wohnten darin auch der Bauer, der Pfarrer, der Offizier – gehört heute einer isolierten Minderheit, einem Bergstamm in den Anden vergleichbar, von dessen Kultur nichts mehr nach außen dringt oder auf die eigenen Nachkommen wirkt.“

Botho Strauß hat ein poetisches, sprachlich anspruchsvolles und kulturkritisches Werk geschrieben, das fasst ein Abgesang ist: Kunst am Ende der Kunst. Auf den letzten beiden Seiten finden sich noch einmal Metakommentare zum eigenen Text, zum vorliegenden Buchprojekt: „Alles Fertige macht dumm.“ Nur in diesem Sinn kann sein Text weiter gedacht werden. Denn das Bild, das er am Ende dem Leser mit auf dem Weg gibt, ist düster: „Langsam verdunkelt unsere Rede wie ein Zimmer nach Sonnenuntergang. Ein unruhiger Hund verläßt seinen Korb, stößt die Tür auf und rennt einen ausweglosen Korridor entlang.“ Die Perspektive bleibt düster, so das man fast an Untergangsszenarien à la Roland Emmerich erinnert wird: „Was wir sehen, ist verschwunden. Was wir singen, längst verklungen. Was fließt, verflossen. Was anhält, in sich zusammengestürzt.“ Der Unterschied ist eben nur, dass eine – der Kinofilm „2010“ – ist längst bekannt, wir haben ihn schon in beliebigen Variationen gesehen, das andere ist Literatur und bereichert unser Leben. So einfach ist das.

Titelbild

Botho Strauß: Vom Aufenthalt.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
295 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446234413

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