Remythisierung der Liebe als Aufbruch ins 20. Jahrhundert

Über Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“

Von Melanie HenkesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Henkes

Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ zeichnet sich nicht nur durch seine Absage an die strenge, formvollendete, rein geistige Kunst aus, indem der Protagonist der Novelle und Vertreter dieser Kunstauffassung in den Rausch des Dionysischen gerät, sondern besonders in Hinblick auf die Entwicklung der Liebeskonzeption, die die Literatur des 19. Jahrhunderts bis hin zum 20. Jahrhundert auszeichnet. In dieser Entwicklung steht Manns Novelle als Wendepunkt da, was im Folgenden erläutert wird, um die Bedeutung dieser Novelle in der Literaturgeschichte einordnen zu können.

Die Literaturgeschichte ab der Aufklärung markiert einen entscheidenden Wendepunkt mit Johann Wolfgang Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“, denn hier wird erstmals ein romantisches Liebesideal vorgeführt, das jenseits aller Tugendvorstellungen und vernünftiger Partnerwahl eine passionierte Liebe aufzeigt. Der Roman entwirft Werther als Protagonisten, der die Liebe in metaphysische Höhen hebt und damit ihre „Mythisierung“ einläutet, was sich in der Literatur der Romantik fortsetzt. Goethes Roman generiert die Liebe als „neue“ Sinnstiftung einer Moderne, die im Zuge der Aufklärung ihren ehemals metaphysischen Halt, gestiftet durch mythisch-religiöse Einheit, verloren hat. Die Gesellschaft differenziert sich nach Niklas Luhmann mehr und mehr in einzelne Teilsysteme aus, der Mensch wird ins Zentrum gesetzt, damit aber auch ebenso ohne metaphysischen Halt auf sich selbst zurück geworfen. Der Mensch „zersplittert“ in den einzelnen Systemen, und einzig die Liebe, die intime Beziehung zu einem Menschen, garantiert noch jene Einheit, die eine mythenlose und entzauberte Gesellschaft nicht mehr zu spenden vermag. Genau dies zeigt Goethes an den Defiziten der Aufklärung leidender Protagonist Werther, entscheidend ist hier allerdings, dass der Roman dieses hochromantische Konzept anhand von Werthers Selbstmord wieder in Frage stellt. Liebe scheint nicht auf Dauer in passionierter Form lebbar, Grund genug für Werther, sich zu töten zu schießen. Die Romantik nimmt Goethes Konzept kritiklos und ohne Hinterfragung der realistischen Lebbarkeit ewiger Passion auf, zahlreiche Entwürfe einer Einheitsmetaphysik der Liebe bezeugen dies. Interessant ist nun die weitere Entwicklung der literarischen Entwürfe von Liebeskonzeptionen im Hinblick auf Manns Novelle.

Der Realismus zeigt das Scheitern dieses hochromantischen Konzeptes, besonders Theodor Fontanes Romane führen nicht erfüllbare Liebessehnsüchte vor, markieren aber mit dem Scheitern der Liebenden an den Konventionen der Gesellschaft eine massive Kritik an diesen Konventionen und lassen so die Liebe als „Heils- und Einheitsversprechen“ noch hervorleuchten, man denke nur an „Irrungen, Wirrungen“ oder „Stine“. Die Demystifikation der absolut romantischen Liebe tritt hier schon leise zutage und kulminiert gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Arthur Schnitzlers Werken, die eine Absage jeglicher romantischer Liebesideale inszenieren. Ironisch oder tragisch finden sich in Schnitzlers literarischer Arbeit dystopische Modelle von Liebe, deren Glücksversprechen und einheitsstiftende Funktion als Illusion entlarvt wird.

Doch ist dies das Ende der Entwicklung? Ist diese Dystopie der Start in das 20. Jahrhundert? Nein, denn nun kommt Thomas Manns Novelle, die diese Entwicklung aufbricht und einen Wendepunkt darstellt: Hier wird die Liebe wieder in metaphysische Höhen gehoben, erhält ihre Remystifikation zurück. „Der Tod in Venedig“ steht am Anfang einer Entwicklung, die das 20. Jahrhundert mit einer neuen Remystifikation der Liebe beginnen lässt, verwebt die Novelle doch Künstlerproblematik mit einem Liebestod, der in seiner philosophischen Komplexität seinesgleichen sucht. „Der Tod in Venedig“ wird als Erlösung eines sokratischen und zuchtvollen Künstlers gelesen, der in den Sog einer homoerotischen Liebe zu dem Knaben Tadzio gerät, durch die er seine Individualität im dionysischen Rauschzustand aufzuheben vermag. Es ist eine metaphysische „Erlösungsgeschichte“, die der Liebe ihre alten Rechte als höchstes Gut auf Erden zurückgibt.

Dies wird im Folgenden dargestellt, zunächst wird der Charakter Aschenbachs vorgestellt und die ihm schicksalhafte Lockung des Dionysischen anhand von Nietzsches Kunstästhetik. Anschließend wird seine Begegnung mit Tadzio und der daraus entstehende Versuch, die sinnlich-dionysische Komponente in Kunst abzufedern, mit dem Resultat der Wendung ins Dionysische nachgezeichnet, weiter über den Genuss am Leben im Rauschzustand bis hin zum Eingehen in das wahre „Sein“ des dionysischen Urgrundes.

Gustav Aschenbach, oder „von“ Aschenbach, der anhand seiner literarischen Werke zum fünfzigsten Geburtstag den Adelstitel erhielt, ist der sokratische Mensch par excellence. Als Vertreter der Moderne steht er unter dem Banner der sokratisch etablierten Aufklärung, die die Mythen zugunsten wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnes vertrieben hat. Seine Werke basieren auf strenger Form, jeder Gedanke wurde genau überlegt, überhaupt herrscht die Reflexion in seiner Kunst. Doch wie noch gezeigt wird, ist dies nicht der Weg zum „wahren Sein“, gelangt die Reflexion nicht zur „Weisheit“ unserer eigentlichen Existenz. Nur die Intuition kann dies leisten. Gustav von Aschenbach hat seine Gefühle von jeher gezügelt und unter Kontrolle gehalten. Er hatte nie die Vergnügungen der Jugend gekannt, war niemals entspannt, sorglos oder müßig. Sein Leben war von Anfang an auf die „außerordentliche Leistung“ gestellt, vor dem Mensch kommt das schriftstellerische Werk. Zucht, Disziplin und Vernunft bestimmen sein Leben, das als „starrer, kalter und leidenschaftlicher Dienst“ am Werke unter dem Motto des „Durchhaltens“ bezeichnet wird. Seine Werke beruhen nicht auf „feurig spielender Laune“, entbehren jeglicher Leidenschaft, sondern sind ganz im Gegensatz zur Genieästhetik Ausgeburten eines „fleißigen Beamten“, der jedes Wort genau kalkuliert und mit Zähigkeit und Willensdauer arbeitet. Seit jeher war er auf Ruhm gestellt, und sein Leben ist permanent angespannt, was im Bild der geballten Faust zum Ausdruck kommt. Aschenbach ist der Vertreter der Moderne, der sich keinen „schönen Schein“ in apollinischen Kunstwerken erzeugt von apollinischer Kunst kann entgegen einiger Forschungsmeinungen nicht die Rede sein, müsste doch Aschenbach dann überhaupt einen Funken Intuition verspüren, die ihn den dionysischen Urgrund ahnen lässt, über den er sich dann im „schönen Schein“ der apollinisch anmutenden Epik erlösen könnte. Die permanente Anspannung seines Wesens kann nicht von apollinischer Kunst zeugen, da diese ja im Sinne einer im Scheine sich erlösenden „Verschönerung des Lebens“ einsetzbar ist. Doch Aschenbachs Gesicht spiegelt keine Entspannung, im Gegenteil, hier zeigt sich nicht nur, dass sein Leben bisher nur im Geiste stattgefunden hat, sondern ebenso, dass seine Physiognomie wie von einem schweren, bewegten Leben leidend ist, welches er aber nicht in Realität, sondern nur in der Produktion seiner Kunstwerke „durchlebt“ hat.

Aschenbach ist wie alle Individuen der Moderne Rollenträger in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen, als Schriftsteller vertritt er das System der Kunst, als Witwer und Vater war er Mitglied einer Familie, als Reisender ist er Kunde und Konsument, als geehrter Schriftsteller ist er vorbildlicher Staatsbürger, dessen Werke in die Schullektüre Einzug erhalten haben. Unter einem mythenlos gewordenen Himmel ist er ein in verschiedenen Rollen lebendes Individuum, das den Verlust der ehemals mythischen Einheit anhand der Verdrängung der Intuition durch die Reflexion im Zuge einer verbissenen schriftstellerischen Ehrgeizigkeit kompensiert, ja geradezu die sokratisch-aufklärerische Maxime der Reflexion als höchstes Gut in sich aufgesaugt hat.

Doch dieses Leben, diese auf Zucht und Willensdauer beruhende einseitige Verstandestätigkeit, erhält einen Bruch. Einen Bruch, der Aschenbach zum eigentlichen „Sein“, zum lange unterdrückten Gefühle führt, das sich dann in einen dionysischen Rausch steigert. In seinem Innern spürt Aschenbach schon lange die Erschöpfung, die Ermüdung an seinem strengen Dienst, dessen Produkte ihn nicht „froh“ machen. Wirklich glücklich war er niemals und jetzt bricht seine Triebunterdrückung in Form der dionysischen Lockung auf. Erschöpft von seiner Tätigkeit und in einer Schaffenskrise, geht Aschenbach außerplanmäßig nach dem Tee spazieren. Hier beginnt die erste „Öffnung“ seines streng nach Plan kalkulierten Lebens, der „Schein“ bricht auf, hinter dem Spaziergang steckt die Erschöpfung eines „geknechteten“ Künstlers. Die Disziplin beginnt hier schon zu „zerbröckeln“, ihre Scheinhaftigkeit dringt ans Licht. Dabei webt der Text für den Leser erkennbar, doch für Aschenbach nicht unmittelbar sichtbar, auf einer Meta-Ebene vorausdeutende Symbole seines dionysischen Rausches sowie seines Eingehens in den Tod, in das „Ureine“, ein. Das erste Todessymbol manifestiert sich anhand des Friedhofes gegenüber der Haltestelle, Aschenbach beobachtet die Kreuze und Gedächtnistafeln, und das „byzantinische Bauwerk“ verweist auf den Markusdom in Venedig, wo Aschenbachs Schicksal sich erfüllen wird. Interessanter ist vielmehr der Fremde, der durch Basthut, Rucksack, Stock und sein wildes, fremdländisches Aussehen nicht nur auf die Ferne, auf Reiselust verweist, sondern ein Bote des Dionysischen ist: der Stock als Zeichen des Dionysos, die stumpfe Nase als Verweis auf die Silene, die dem Gott folgen. Ebenso sind die gekreuzten Füße ein antikes Todes-Symbol, die magere Physiognomie, der stark hervortretende Adamsapfel und die hervorstehenden Zähne bilden die mittelalterliche Darstellung des Todes ab. Dieser Fremde blickt ihm „gerade ins Auge hinein“ und deutet damit Aschenbachs Schicksal voraus, er blickt in das Auge des Dionysischen, des Todes, symbolisiert anhand des Fremden. In dieser Reihe stehen ebenso der Fahrkartenverkäufer, der Gondoliere, der falsche Jüngling und der Straßensänger, auf die noch eingegangen wird.

Ausgelöst durch diesen Anblick entdeckt Aschenbach in sich ein neues Gefühl, ein „jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne“, eine „Ausweitung seines Inneren“, hier deutet sich schon sein „Abenteuer des Gefühls“ an. Entscheidend für Aschenbachs Entschluss, sein gewohntes Leben zu verlassen, ist seine Imagination des tropischen Sumpfgebietes. Hier zeigt sich in der triebhaften, aus „geilem Farrengewucher“, „fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk“ bestehenden Fantasie die geheime Sehnsucht nach den unterdrückten Trieben, nach Befreiung von seinem Leben, nach Abenteuer. Die Urwald-Welt steht für sexuelle Triebe, für Chaos, für das Ungeordnete, das außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung liegende, und verweist damit nicht nur auf Aschenbachs triebhafte Leidenschaft zu Tadzio, sondern auch auf den Ausnahmezustand der Seuche in Venedig, das Chaos. Ebenso verweisen der Morast und die „Schlamm führenden Wasserarme“ auf Venedig mit seinen Kanälen. Der Tiger, der unmittelbar zu Aschenbachs „pochendem Herzen“ führt, symbolisiert das Dionysische, da er im Gefolge des Dionysos steht, ebenso ist die Landschaft ein Bild des Ganges-Deltas, aus dem sowohl der dionysische Gott nach Griechenland, als auch die Seuche nach Venedig kommt.

In dieser Fantasie Aschenbachs, die eine unterbewusste Antwort auf sein unterdrücktes Dasein ist, steckt symbolisch der Inhalt der Novelle, der Verweis auf Venedig und die Seuche, wo Aschenbach in dionysischen Rausch einer hervorbrechenden Liebesleidenschaft verfallen wird, der zuletzt in Aschenbachs Traum einer orgiastisch-dionysischen Szene gipfelt. Sein „pochendes Herz“ ist Zeuge dessen, was ihm widerfahren wird: die Lebenslust, die ersehnte Entbürdung seines ewig gleichen, strengen Daseins, die Auflösung des „Principium Individuationis“ in der dionysischen Einheit.

Zunächst prüft Aschenbach diese Empfindung mit dem Verstand, die Loslösung vom sokratischen Dienst der Reflexion erfolgt langsam. Die normale Ordnung seines Lebens ist unterbrochen, er folgt der dionysischen Lockung und reist nach einem kurzen Aufenthalt in Pola nach Venedig. Auch hier wieder die Schicksalhaftigkeit, sein Ziel „stand ihm vor Augen“, er sehnt sich nach dem „märchenhaft Abweichenden“. Die Lockung des Dionysischen, die sein falsch gestaltetes Leben bezeugt, seine Verdrängung der Gefühle, gewinnt mit dem literarischen Topos der Stadt Venedig eine weitere Ausweitung. Venedig, literarischer Topos der erotischen Verführung, des nicht Erlaubten, der Sinnlichkeit, eine außerhalb der Ordnung stehende Lagunenstadt, die innerhalb des Meeres, Symbol des dionysischen „Ureinen“, liegt. Ihr Umgeben-Sein vom Meer, des „wahren Seins“, spiegelt die Scheinhaftigkeit der Welt und des irdischen Lebens. Venedig präsentiert als „Principium Individuationis“ inmitten des „Ureinen“ die Welt als „Schein“, zerstückt von Kanälen, die Elemente des „Ureinen“, des Meeres, sind, als Zeichen dafür, dass die Stadt gänzlich vom dionysischen Element in Form der sich über sie ausbreitenden Seuche überrollt werden wird. Die Seuche spiegelt Aschenbachs Inneres, seine Hingabe in den Rausch, in die dionysische Todesverführung. Alles verwebt sich hinter der Maske von Sein und Schein, das Leben an sich ist nur Schein, gespiegelt in der scheinhaften Verbergung der Seuche, hinter der das wahre Sein, die dionysisch konnotierte Wahrheit, die Auflösung im Urstrom, steht. Das Chaos ist der Raum, der das echte Sein spiegelt, Venedigs Fassaden sind schöner Schein, hinter denen das Geheimnis lauert.

Aschenbachs Leben wird nun als Folie, als „Schleier der Maja“ entlarvt, beginnend mit dem „falschen Hochsommer“, der mit Beginn seiner Reiselust zusammenfällt. Der Dampfer, der ihn nach Venedig fährt, ist natürlich Sinnbild seiner Fahrt in den Tod, der Fahrt über den Fluss Styx mit dem Fährmann Charon. Dieser entpuppt sich als „ziegenbärtiger Mann von der Physiognomie eines altmodischen Zirkusdirektors“, der sich ebenso in seinem grimassenhaften Gebaren sowie mit „gelben und knochigen Fingern“ als Todesbote repräsentiert. Hierzu passend seine Prophezeiung: „Nach Venedig erster Klasse! Sie sind bedient, mein Herr!“ Und indem er den Fahrschein mit Tinte unterschreibt, besiegelt er mephistophelisch Aschenbachs Reise in den Tod. Diese Szene wiederholt sich im Motiv der Gondelfahrt, wobei die Gondel selbst von Aschenbach als Sarg bezeichnet wird, die ihn an „letzte, schweigsame Fahrt“ erinnert. Der Gondoliere trägt wieder die Züge des Todes und des Dionysischen, ein wildes, fremdländisches Aussehen, mit Strohhut, kurzer Nase, mager, entblößte Zähne. Er prophezeit Aschenbach: „Sie werden bezahlen“, und Aschenbach bezahlt seine orgiastische Freiheit, seinen Taumel im Liebesrausch außerhalb der Gesellschaft mit dem Tod, der hier aber als Erlösung vom „Schein“ des irdischen Lebens fungiert. Aschenbach, der die Gondelfahrt genießt, sich sanft gewiegt und träge fühlt, gibt hier seine Disziplin und Strenge mehr und mehr auf.

Venedig vertritt das genaue Gegenteil seiner Biografie, nicht die ordentliche Repräsentanz künstlerisch strenger Form, alles ist möglich in dieser Stadt, es ist eine trunkene Welt träumerischer Unordnung. Mit „trunken“ ist ebenso das Dionysische bezeichnet, da der Rausch sein Element ist. Aus diesem Grund reiht sich der falsche Greis wieder in die dionysischen Boten ein, er ist betrunken, selbst schon im Rausche verhaftet, hat einen Strohhut auf, und sein gelbes Gebiss mit dem sehnigen Hals erinnert abermals an den Tod. Er prophezeit Aschenbach nicht nur seine Liebesleidenschaft, indem er auf das „Liebchen“ verweist, er ist auch Aschenbachs alter ego, der ihm sein Spiegelbild vorhält: Aschenbach wird sich ebenso verjüngen und dem Rausch verfallen. Im Verlauf der Reise bemerkt Aschenbach mehr und mehr „eine Entstellung der Welt ins Sonderbare“ und sein „Entsetzen“ vor dem Greis ist ein Entsetzen vor dem dionysischen Rausch, dem Abenteuer, das ihm bevorsteht. Es ist ein unterbewusst sich andeutendes „entzückendes“ Entsetzen vor der „Wahrheit“ des echten Seins, des Urstroms, der Allgewalt, in die er eingehen wird.

Als letzter Bote des Todes und des Dionysos tritt der Straßensänger zutage, der durch seinen starken Karbolgeruch bereits Kunde von der noch verheimlichten Seuche gibt. Er spiegelt damit Aschenbachs Inneres, das dem dionysischen Rausch anheim gefallen ist. Da Musik das Element des Dionysischen ist, ist es nicht verwunderlich, dass der letzte Bote des Dionysos ein Sänger ist, allerdings ein Sänger vulgärer und schmachtender Melodien, die Aschenbach in seinem Liebestaumel „begierig“ aufnimmt. Seine Physiognomie ist ähnlich der der vorigen Todes- und Dionysos-Boten: starker Adamsapfel, wildes, fremdländisches Aussehen, stumpfe Nase, mager und ausgemergelt, grimassierend. Dieser Sänger gebärt sich „trunken“, er ist es, der innerhalb des Schlagerliedes mit dem Lach-Refrain in Hohngelächter verfällt, und dieses Hohngelächter ist nicht nur, wie gängige Interpretationen vorführen, Gelächter des Todes und des Schicksals der Seuche, die Aschenbach ereilen werden. Nein, hier lacht ein Diener des Dionysos über die im „Schein“ befangenen „Touristen“ dieser Welt. Er ist der Silen, der die Wahrheit kennt, die von Nietzsche in seiner „Geburt der Tragödie“ beschriebene Weisheit des Silen, das Beste sei, gar nicht erst geboren zu werden und das Zweitbeste, bald zu sterben, um endlich wieder in den Urstrom einzugehen. Und eben diese Wahrheit verbirgt sich hinter dem Hohngelächter: „[…] und platzte das unbändige Lachen aus ihm hervor, mit solcher Wahrheit, daß es ansteckend wirkte […]“. Dieser Bote ist die letzte Station vor dem endgültigen Übergang Aschenbachs in das wahre „Sein“ unserer Existenz.

Tags darauf erfährt er von der Seuche, und – wie sollte es anders sein – er flüchtet nicht aus Venedig, im Gegenteil: „Das Bild der heimgesuchten und verwahrlosten Stadt, wüst seinem Geiste vorschwebend, entzündete in ihm Hoffnungen, unfaßbar, die Vernunft überschreitend, und von ungeheuerlicher Süßigkeit“. Aschenbach besiegelt seinen Tod, hört auf den Silen, das Beste sei, bald zu sterben – da er diesen süßen Rausch nicht mehr verlassen, nicht mehr zurück ins „Principium Individuationis“ möchte. Unmittelbar darauf folgt sein Traum, in dem das Innere seiner Seele, die ein Leben lang geknechtete Empfindung, aufbricht; der Traum von Unzucht und Raserei, von der Heimsuchung durch den Gott Dionysos. Das Flötenspiel, das sich in diesen Taumel mischt, bezeugt die Kapitulation des sokratischen Menschen vor dem Urgrund des dionysischen Seins – Sokrates spielte am Ende seines Lebens Flöte, er „widerruft“ damit sein Lebenskonzept des theoretischen Menschen, durch Vernunft zum wahren „Kern“ des Lebens vorzudringen. Aschenbach ist ein zweiter Sokrates, der ebenso das Konzept seines Lebens widerruft, die formstrenge Kunst, Zucht und Ordnung seines Lebens waren nur Posse und Narrentum, nur „Schein“ des „Principium Individuationis“, hinter dem das wahre „Sein“ lauert.

Sein ganzes Leben entstellt sich im Zuge der Reise ins Sonderbare, alles wird als Scheinhaftigkeit entlarvt, die Weggefährten, das Wetter, Aschenbachs zuchtvolles Leben, ja Venedig selbst – alles enthüllt nur den Schein des irdischen Lebens, hinter dessen Schleier unser Ursprung steckt. Hier in Venedig erfüllt sich Aschenbachs Schicksal, hier angekommen, weist alles auf einen Punkt hin, alle Symbole zielen auf die Begegnung mit Tadzio, der ihn zu seinem metaphysischen Rausch hinreißen wird. Tadzio ist der Wendepunkt seines Lebens, sein Schicksal und Untergang, sein Tod, sobald er ihn erblickt hat.

Aschenbach begegnet dem Knaben zum ersten Mal in der Halle des Hotels, auf die Abendmahlzeit wartend. Tadzio erscheint ihm als Vollendung der Form, wie „griechische Bildwerke aus edelster Zeit“. Für den alternden Schriftsteller repräsentiert er das höchste Ideal der griechischen Kunst, weil seine Schönheit den Geist durch die Form sichtbar macht. Beim Anblick des Jünglings bedient sich Aschenbach Platons Konzept, anhand sinnlicher Wahrnehmung der Schönheit zum höchsten Geist in der Kunst und im Leben schreiten zu können. Für Platon ist die Schönheit die Form des Geistigen, die wir sinnlich erfahren können, sie ist der Weg zur Erkenntnis, zur intellektuellen Anschauung, zur absoluten Idee. Die schöne Kunst ist nach antiken Kriterien dann erreicht, wenn das Geistige im Sinnlichen zum Ausdruck kommt. Der Eros war den Griechen nur ein Weg zur intellektuellen Anschauung, ein Mittel, diese zu erreichen. Die homoerotische Liebe der Griechen trieb sie zu hohen Werken an, sie war das Mittel zu höherer geistiger Zeugung, zu großen Werken. Aus diesem Grunde zeugt die Homoerotik nichts, ihre Zeugung ist rein ästhetisch, ein erotischer Ästhetizismus. Doch auch diese ästhetische Kunst, diese hohe Klassizität ist nur eine Verhüllung des wahren „Seins“, des dionysischen Abgrundes. Es ist der apollinische Schein, den die Griechen in ihren Kunstwerken über die ewige Wahrheit unseres Seins legten.

Aschenbach versucht nun, diesen Weg zu beschreiten, er möchte, Tadzio als Folie seines produktiven künstlerischen Schaffens, den Gedanken ganz ins Gefühl transferieren und dieses Gefühl dann wiederum in den höchsten Gedanken zum künstlerischen Werk vervollständigen. Seine anderthalb Seiten erlesener Prosa, die er zum ersten Mal in seinem Leben mit Freude und Lust produziert, da die Leidenschaft zu Tadzio ihn beflügelt, sind apollinischer Schein seines dionysischen Urgrundes. Hinter diesem Text liegt die Wahrheit, der dionysische Ursprung rauschhafter Gefühlsentgrenzung. Es sind „gefährlich köstliche Stunden“, in denen er den Text produzierte, die Entstehungsbedingungen des Werkes sollte die Welt besser nicht erfahren, „[…] denn die Kenntnis der Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floß, würde sie oftmals verwirren, abschrecken und so die Wirkungen des Vortrefflichen aufheben“. Aschenbachs Prosa basiert auf der erotischen Leidenschaft, das apollinische Werk konnte nur auf dem Fundament des Dionysischen geboren werden. Und so fühlt sich Aschenbach nach Beendigung „erschöpft“, „zerrüttet“, „[…] und ihm war, als ob sein Gewissen wie nach einer Ausschweifung Klage führe“. Die Maske wird entlarvt, der Weg Aschenbachs zum Geistigen durch die Sinnlichkeit ist höchst gefährlich, da er der Sinnlichkeit, dem Eros, verhaftet bleibt. Die Abfederung des dionysischen Rausches im apollinischen Schein gelingt dem Künstler nicht, sein Existenzfundament stellt sich als Schein heraus, was Aschenbachs Widerruf am Brunnen bezeugt: Hier zieht er Bilanz und erkennt, dass der Weg der Sinnlichkeit ein gefährlicher Irrweg ist, da sich Eros zum Führer des Künstlers aufwirft und ihn nicht mehr loslässt. Die Sehnsucht nach höherer geistiger Form „muß Liebe bleiben“. Nun bezeichnet er die Meisterhaltung des Stiles als „Lüge und Narrentum“, „Ruhm und Ehrenstand“ als eine „Posse“, „[…] Volks- und Jugenderziehung durch die Kunst [als] ein gewagtes, zu verbietendes Unternehmen“. Hier, dem Rausch rettungslos verfallen, gesteht Aschenbach, dass sich hinter dem „schönen Schein“ der Kunst das „wahre Sein“ des Abgrundes, des Dionysischen, verbirgt. Nietzsches Lehre, dass der platonische Weg zur höchsten Idee nur „schöner Schein“, Wirklichkeitsflucht vor der Wahrheit unserer Existenz ist, wird ebenso Rechnung getragen wie der These, dass der sokratisch-theoretische Verstandes-Mensch scheitert. Wissenschaft und Vernunft sind genau der umgekehrte Weg zum „Sein“, sie entfernen sich von dem, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. In zwei apollinischen Medien siegt das Dionysische über Aschenbach, in den anderthalb Seiten Prosa apollinischer Prägung, die nur vor dem Hintergrund des dionysischen Rausches entstanden sind, sowie in Aschenbachs Traum, dessen inhaltliche dionysische Raserei über die apollinische Form des Traumes siegt. Aschenbachs Widerruf am Brunnen spiegelt analog Nietzsches Darstellung des widerrufenden, Flötenspielenden Sokrates.

Die ästhetische Wahrnehmung des Knaben ist von Anfang an nur Schein, der Versuch, über der Sache zu stehen, gespielte Überlegenheit. Menschliche Schönheit kann nicht unsinnlich betrachtet werden, ohne Gefühle. Eben diesen verfällt Aschenbach gleich zu Beginn, bei genauer Betrachtung des Knaben fragt Aschenbach sich, ob er „leidend“ sei, da ihn die weiße Haut des Knaben besorgt. Ebenso wartet er so lange mit dem Betreten des Speisesaales, bis Tadzio sich dorthin begibt, und ist „in Anschauung versunken“, er fühlt sich „sonderbar ergriffen“ und bedauert, dass sein Tisch weit von der polnischen Familie entfernt ist. Deutlich zeigt sich, dass die Anschauung des Knaben sinnlich und gefühlsbetont ist. Die antiken Muster dienen Aschenbach lediglich zur würdevollen Rechtfertigung seiner Gefühle als Künstler, so bezeichnet er Tadzio als „kleinen Phäaken“ und als „Haupt des Eros“. Der Versuch, seine Leidenschaft anhand antiker Muster geistig zu begründen, die tabuisierten Gefühle in Recht und Würde zu tauchen, ist wieder einmal „Schein“ vor der Wahrheit des „Seins“, ist Aschenbach doch tatsächlich „entzückt“ und „hingerissen“ in Anbetracht des Knaben.

Aschenbach, dessen streng geplantes, von der Uhrzeit bestimmtes Leben schon auf der Fahrt nach Venedig mehr und mehr aufbricht, indem er müßig an Deck des alten Dampfers sitzt und sich in der Gondel wiegen lässt, erhält anhand des Knaben Ruhe, Entspannung und untätigen Müßiggang. Sitzt der sonst so präzise nach Tagesordnung und „Dienst an seinem Werk“ lebende Künstler doch müßig und lässig im Liegestuhl am Strand, wo er die Beobachtung des schönen Jünglings als ausfüllende und beglückende Tätigkeit sieht, der er sogar die Erledigung seiner Korrespondenzen vorzieht. Der geadelte Künstler betrachtet nun das Herausfinden seines Namens als angemessene Tätigkeit. Die Empfindungen für den Schönen steigern sich, indem Aschenbach Tadzio beim Fluchen auf eine russische Familie beobachtet, ein Ereignis, das eine tiefere Ausweitung seines Gefühles markiert, fühlt er sich doch „beglückt“ und in „tiefe Teilnahme“ verstrickt, die ihn befähigt, den Knaben „[…] über seine Jahre ernst zu nehmen“. Die geheime Verbindung zu Tadzio beginnt.

Dass Tadzio gleich zu Beginn vor dem Hintergrund des Meeres erscheint, mit diesem Element verbunden ist, konnotiert ihn als Träger, geradezu als Stifter des dionysischen Rausches, in den Aschenbach durch den Knaben verfällt. Ist doch das Meer das Symbol des „Maßlosen, Ewigen“, also im Sinne Nietzsches das Urelement unseres Seins, der Urstrom, in den wir uns nach dem Tod wieder verschmelzen werden. Im Anblick dieses ungeheuren Elementes fühlt sich der Künstler erfreut, sorglos und geborgen. Hier verrät sich schon das eigentliche Streben des Schriftstellers ins „Ureine“, die Inszenierung der Novelle, die diesen von unterdrückten Gefühlen geknechteten Menschen anhand der Liebe im unendlichen Elemente erlösen wird. Sein Blick entgleitet in die Weiten des Meeres, verschwimmt darin. Das Rauschen des Meeres wird ebenso wie Tadzios Stimme zum „Gesang“, in den er sich träumend verliert, und wie schon dargelegt, ist Musik ein Element des Dionysischen. Das Meer als Symbol unseres eigentlichen „Seins“, hinter dem die Welt als reine Erscheinung, als Maske, Verschleierung des wahren Wesens liegt, wird pointiert in folgendem Satz dargelegt: Aschenbach als Künstler, der sich „[…] vor der anspruchsvollen Vielgestalt der Erscheinungen an der Brust des Einfachen, Ungeheueren […] zu bergen begehrt.“ Hierin lässt sich die Novelle auf den Punkt bringen, Aschenbach wünscht eine Erlösung, ein Geborgensein vor der „Vielgestalt der Erscheinungen“, also vor dem „Schein“ der Welt, der Individualität, dem „Principium Individuationis“, in die unendliche Tiefe unseres wahrhaften Seins. Eben dies wird ihm durch seine Liebesleidenschaft gewährt.

Mehr und mehr gerät Aschenbach außer sich, tritt aus dem „Principium Individuationis“ in den Rausch, der ihn von der Bürde des Lebens, der Individualität, aber auch seiner ewig geknechteten Empfindung, erlöst. Die Gegenwart Tadzios veranlasst ihn, sich im Liegestuhl am Strand glücklich zu fühlen, was er mit seinen Gedanken „Wo wäre es besser?“ quittiert.

Aschenbachs erotische Neigung verrät sich gleich am ersten Tag, er prüft sein Äußeres im Spiegel, betrachtet sein graues Haar, sein „müdes und scharfes Gesicht“, ruft sich zur Kompensation seines Alters die literarischen und gesellschaftlichen Errungenschaften hervor. In Analogie zu dem verjüngten Greis lässt er sich ebenso kosmetisch Verjüngen, dies in einer Phase, wo der dionysische Rausch in vollends überwältigt hat. Im Zuge dieses Eingriffs trägt er einen Strohhut, ist Anhänger des Dionysos geworden, den bald der erlösende Tod ereilen wird. Diese Verjüngung – das Schmücken seines Anzugs, die Benutzung von Parfum – dient oberflächlich Aschenbachs Bedürfnis, dem Objekt seiner Begierde zu gefallen, zeigt aber auf der Metaebene in umgekehrter Form die Vorstufe zu seinem Tod, zu seiner Erlösung. Es ist eine kosmetische Verjüngung, die wieder einmal die Scheinhaftigkeit alles menschlichen Daseins bezeugt, die Maske unserer Existenz spiegelt, ebenso aber die Vorstufe zur tatsächlichen „Verjüngung“, zum Eingehen in das wahre Leben, zur „neuen Geburt“ im Strome des „Ureinen“ vorausdeutet.

Geschickt inszeniert die Novelle Aschenbachs Gefühle, die dem Leser, im Gegensatz zu den Personen in Aschenbachs Umfeld, verraten werden. Auch hier zeigt sich wieder der Mahlstrom zwischen Sein und Schein, die Gefühle als wahres „Sein“, deren Verheimlichung als „Schein“. Trotz seiner aufkeimenden erotischen Neigung beschließt Aschenbach aufgrund der ihm nicht bekommenden Witterung, abzureisen. Im Zuge dieser Abreise werden die wahren Gefühle aufgedeckt: Der sonst so rationale, gezügelte, sich selbst beherrschende Mann erlebt eine wahre „Leidensfahrt“. Unbändige Reue überkommt ihn, Tränen steigen in seine Augen, ja, eine echte „Seelennot“ peinigt den Abreisenden. Er atmet die Luft, die ihm noch einen Tag zuvor gesundheitliche Missgunst verschaffte, „tief“ und „schmerzlich“ ein. Nachdem er erfährt, dass seine Koffer an die falsche Stelle beordert wurden und er in Venedig bleiben kann, überfällt ihn eine unbändige Heiterkeit und Freude. Er ist „erschüttert“ und in „ängstlich-übermütiger Erregung“ bei seiner Rückkehr. Das wahre „Sein“, das Geheimnis seines Herzens, steht dem Leser, wie auch Aschenbach, jetzt vollständig vor Augen: Wegen Tadzio wollte er nicht abreisen, er ist voller Freude, sitzt träumend in seinem Lehnstuhl, blickt aufs Meer, vor dessen Folie der Jüngling erscheint, und sein Schicksal ist besiegelt. Eine Rückkehr in sein altes, normales Leben wurde abgewendet, der Weg in den Rausch, in das Chaos, der Weg zu Dionysos ist frei. Mit der Rückkehr nach Venedig ist der Wendepunkt seines Lebens vollends erreicht, was seine Gebärde, das Ausbreiten der Arme vor dem Bild des Meeres und dem Objekt der Begierde, bezeugt. Entspannt und schlaff hängen seine Arme über der Lehne des Sessels, die Distanz zu Tadzio ist aufgebrochen, die „Faust“ öffnet sich. Hinter diesem eindringlichen Bild verbirgt sich eine tiefere Ebene, das Ausbreiten der Arme vor dem Meer bezeichnet auch Aschenbachs Willkommensgruß an das Dionyische, dem er die Tore zu seiner Seele öffnet.

Es folgt eine „elysische“ Phase des Glücks, auch symbolisiert im anhaltenden Sonnenschein. Aschenbach geht auf im Müßiggang, seine Sinne schärfen sich, er nimmt die Welt in sich auf, genießt den „balsamischen“ Duft der Pflanzen, das lässige Nichtstun am Strand, laue Gondelfahrten unter dem Sternenhimmel, das Rauschen des Meeres, das nachts in seine Seele klingt. Alles natürlich in Gegenwart des Knaben, der dieses Einssein mit der Welt auslöst. Er packt seine Kleider vollständig aus, Indiz dafür, dass er in sein altes Leben nicht mehr zurückkehren wird. Alles lässt er Aufgehen in Rausch und Empfindung, die unterdrückten „Drangsale seines Herzens“ kehren zurück und befreien ihn vom Druck seines früheren Lebens.

Ein geheimes Band entwickelt sich zwischen ihm und dem angebeteten Jüngling, der ihn anblickt, dicht an seinem Lagerplatz am Strand vorbei geht, sich in seiner Nähe aufhält. Merkmal ihrer Verbindung ist auch die gemeinsame Lebensweise, da Tadzio, ebenso wie sein Verehrer, dem reinen Müßiggang folgt, schwimmt, spielt, schlendert und entspannt ist. Unter Einfluss des Knaben verschmilzt Aschenbach mit der Welt, gelingt es ihm, das „Principium Individuationis“ zu durchbrechen, die Individualität in ein Einssein mit der Welt zu wandeln. Er lebt im „Jetzt“, nicht mehr, wie vormals unter dem Druck der Zukunft, um sein Werk zu vollenden. Im Medium der emotionalen Erschütterung saugt er die Welt in sich auf, wird er „ganz“, nicht mehr Rollenträger des Künstlers, des ordentlichen Staatsbürgers, des Jugenderziehers. Seine Gefühle heben die Trennung zwischen Ich und Welt auf, Zeugnis dafür, dass nur die anhand von Liebe ausgelöste Entgrenzung vom Ich dem Individuum wieder zu einem einheitlichen Sein mit der Welt verhelfen kann. Damit wird Peter Brooks These Rechnung getragen, dass dem mythenlosen, zersplitterten und metaphysisch haltlosen Subjekt der Moderne fortan Gefühle als „neue“ Sinnstiftung, als Einheitserfahrung in einer dezentrierten Welt, dienen. Dem entspricht Richard Wagners in „Oper und Drama“ beschriebene ästhetische Theorie der „Gefühlswerdung des Verstandes“: Anhand von Musik wird die reale Welt der Szene, die der Verstand erfasst, ins Gefühl übersetzt; diesem Prinzip folgend wird Aschenbachs Verstand, unter Einfluss der „Musik“ des Meeres und Tadzios Stimme, zur rein gefühlsmäßigen Aufnahme der Welt befähigt. Die Novelle geht noch einen Schritt weiter, indem sie nicht bloß die Einheit mit der Welt reetabliert, sondern einen philosophischen Hintergrund hinzunimmt: Liebe wird hier Katalysator zur Erlösung der Individualität auf einer höheren Stufe des Seins. Aschenbachs Liebesrausch, der Ich und Welt zu vereinen vermag, ist lediglich Vorstufe dieser Erlösung. Liebe ist Sehnsucht, eine Erfüllung würde die Sehnsucht töten, sie ist Katalysator zu der eigentlichen Sehnsucht ins „Ureine“.

Aus diesem Grunde verweigert Aschenbach ein wirkliches Kennenlernen Tadzios, würde dies doch zur Ernüchterung und zum Ende des Rausches führen. Nur in der Unnahrbarkeit, im geheimen Verständnis der Blicke, lassen sich Aschenbachs Gefühle leben, eine Erfüllung des Begehrens wäre eine Aufhebung des Rausches und Rückkehr ins „Principium Individuationis“. Im letzten Moment schreckt Aschenbach vor der Berührung und verbalen Kontaktaufnahme zurück, weil ihm deutlich wird, dass dies das Ende seiner Liebesleidenschaft bedeuten würde. Nur anhand der Unkenntnis des Anderen kann Sehnsucht auf Dauer existieren. Aschenbachs tabuisierte, homoerotische Verliebtheit ist genau das „Richtige“, die Novelle inszeniert einen Protagonisten, der gerade in der Nichterfüllbarkeit seinen eigenen Anspruch auf Nichtaufhebung der Gefühle bedingt. Damit arbeitet sich die Novelle an einem literarischen Topos ab, der seit Goethes „Werther“ Einzug erhalten hat, das Dilemma, ewige Passion nicht auf Dauer aufrechterhalten zu können. Um dieses Dilemma weiß auch Goethes Protagonist Werther, der sich ebenso in eine unerreichbare Frau verliebt, ein literarischer Kunstgriff, um den faden Ehe-Alltag auszuschließen. Werther gibt diese Misere mit seinem freiwilligen Liebestod an eine jenseitige Erfüllung ab. Damit schließt sich auch hier der Kreis, die Liebe wird in Goethes berühmten Briefroman mythisiert und Thomas Manns Novelle verschiebt diese Mythisierung auf eine weitere, philosophischere Ebene.

Aschenbachs Liebesrausch steht im Banne des Dionysischen auf dem Weg in ein höheres Sein. Der sokratische Leistungsethiker „löst“ sich auf, der Leser erfährt, dass Aschenbach zur Selbstkritik nicht mehr fähig ist. Seine Verstandestätigkeit weicht dem rauschhaften Einsaugen der Welt unter einer soghaften Leidenschaft. Die Stufen zum Dionysischen werden immer begieriger genommen, der totale Rausch beginnt vollends mit dem Lächeln, das Tadzio Aschenbach schenkt.Ein Geschenk, das seinen Empfänger „erschüttert“, „betört“ und mit „Schauern“ überwältigt. Auch der Strohhut, den Aschenbach in dieser Szene trägt, bestätigt das völlige Eintauchen in den Rausch. Mit der Formel „Ich liebe dich!“ wird das sokratisch vernünftige Bewusstsein, das Wissen um ein Tabu, aufgegeben, wird die Welt des sokratischen Bewusstseins, das die Intuition verbannte und die Aufklärung über die Menschheit brachte, wieder seinem rechtmäßigen Sein, der Intuition, zugesprochen. Die Tags darauf folgende Entdeckung der Seuche besiegelt das völlige Aufgehen in Rausch und Chaos. Aschenbach befindet sich in einem unaufhaltsamen, „trunkenen“ Sog des Dionysischen, verfolgt Tadzio durch die Straßen und Gassen, über das Wasser. Seine Würde ist ihm egal, ist doch seine Individualität, das „Principium Individuationis“, längst aufgehoben. Die Seuche ist nun Chance zur Lockerung der bürgerlichen Ordnung, gibt seinem Innern unsagbare Hoffnungen, er will schweigen, würde sich der Rausch doch sonst auflösen und ihn wieder dem qualvollen „Principium Individuationis“ zuführen: Der Schritt zur Warnung vor der Seuche „[…] würde ihn zurückführen, würde ihn sich selber wiedergeben; aber wer außer sich ist, verabscheut nichts mehr, als wieder in sich zu gehen“. Das Einssein mit der Welt, in das ihn der Zustand des dionysischen Rausches versetzt, darf nicht aufgehoben werden, da dann der Ekel des Lebens, die Erkenntnis aller Belanglosigkeit des menschlichen Daseins, die Maskerade unserer Welt, die reiner „Schein“ ist, über Aschenbach kommen würde. Er ist an Tadzio gebunden, der als Lebenselixier fungiert, kann ohne ihn nicht mehr Leben, da dies Aufhebung des Dionysischen bedeuten würde. Doch der bevorstehende Lebensekel, den er mit Verlust Tadzios und des Rausches erfahren würde, ereilt ihn nicht, da die Novelle es geschickt und wie erwartet so inszeniert, dass Aschenbachs Tod mit Tadzios Abreise zusammenfällt, und den Schriftsteller somit, vor Verlust des Rausches, in den eigentlichen Zustand unseres „Seins“ erlöst. Zuvor markiert noch der orgiastisch-dionysische Traum das endgültige Zerbrechen seines „geistigen“ und damit sokratischen Widerstands, und lässt ihn im Zuge der Orgie mit dem Urgrund verschmelzen. Bevor Aschenbach seinen psychischen Rausch, der ihm seine Einheit mit der Welt durch die Gegenwart Tadzios garantiert, verliert, geht er in den physischen Tod über, der ihn quasi vom „Liebesrausch“ in den „Rausch“ des Ureinen lenkt.

Noch einmal beobachtet Aschenbach, sterbend, Tadzio vor der Folie des Meeres, imaginiert ihn im Vorangehen in das Element des Unendlichen, den Ozean. Von dort winkt er Aschenbach, deutet hinaus auf das „Verheißungsvoll-Ungeheure“ und schwebt voran. Liebe wird zum Führer ins Ureine, ihre Erfüllung kann nur im Metaphysischen stattfinden, denn hier, im Urstrom, findet die wirkliche Einheit aller Wesen und Liebenden statt, hier verbindet sich alles zusammen, löst sich die Individualität auf, werden zwei Tropfen vereint in einem Ozean – eine höhere Liebeseinheit kann es nicht geben. Der Liebestod, der Aschenbach ereilt, verhindert zudem ein Abflauen der Passion im Alltag, stellt sie auf Dauer im unendlichen Ureinen. Eine geschickte Lösung der Novelle, dem Leser die Illusion ewig webender Liebe zu erhalten, parallel zu Goethes Protagonisten Werther, der die Liebe vor einer Verflachung ihres Glühens im Jenseits auf Dauer stellen möchte.

Natürlich ist die Analogie zu Richard Wagners „Tristan und Isolde“ unübersehbar, auch hier eine im Sinne Nietzsches positive Umdeutung Schopenhauers, dass sich die Individualität im Ureinen, im Weltwillen, befreit und erlöst und damit das Leben in seiner gewaltigen Urkraft bejaht. In der Selbstauflösung ist ewige Vereinigung möglich, so streben Tristan und Isolde zum Tod, der beide Individualitäten im Ureinen auflöst und sie vereint. Isoldes Worte bezeugen dies: „In des Wonnemeeres wogendem Schwall, in der Duft-Wellen tönendem Schall, in des Weltatems wehendem All – ertrinken – versinken – unbewußt – höchste Lust!“ Tadzio ist Hermes, der Aschenbachs Seele in die Unterwelt leitet, ihn in des „Wonnemeeres wogendem Schwall“ führt, so wird er auch anhand seiner gekreuzten Füße, seiner schlechten Zähne, seiner Zartheit und Kränklichkeit als Todessymbol gekennzeichnet, er ist Spender des Todes, also des eigentlichen Lebens. Er befreit Aschenbach aus dem „Schein“ der Welt, seiner ihn quälenden „Scheinexistenz“ als ehrwürdiger Künstler, seiner ihn ermüdenden und nicht dem Kern seines Wesens entsprechenden Zucht und Strenge. Seine Werke, die ihm keine wahre Freude bereiten konnten, konnte er niemals „fassen“, sie waren Produkte des reinen, geistigen und sokratischen Verstandes, doch die Liebe zu Tadzio ist „fassbar“, „fühlbar“, greift sein Herz unmittelbar an, ganz im Gegensatz zum abstrakten Verstand.

So stellt Aschenbachs Tod eine doppelte Erlösung dar, er erlöst sich aus der ausdifferenzierten Moderne und vom „Principium Individuationis“, Liebe ist der Katalysator seiner Erlösung, sie wird als Rausch der Einheit inszeniert, als Medium, in dem das „wahre Sein“ hinter dem „Schleier der Maja“ hervortritt. Thomas Manns Novelle grenzt sich mit diesem metaphysischen Einheitsreigen deutlich von den dystopischen Liebeskonzepten seiner Zeit ab und gibt der Liebe ihre metaphysische Tiefe wieder. Dieser philosophische Liebestod läutet eine Remystifikation der Liebe als Aufbruch ins 20. Jahrhundert ein. Der Kreis schließt sich von Goethes „Werther“ zu Manns „Tod in Venedig“. Liebe und Tod liegen so nahe beisammen, weil das durch Liebe ausgelöste Einssein mit der Welt in ewiger Passion, in Rausch und Aufhebung der Individuation, nicht auf Dauer gestellt werden kann, nur im Tod erfüllbar ist. In beiden Werken bleibt die Liebe mystifiziert, ein Kennenlernen des geliebten Jünglings oder ein fader Alltag mit Lotte würden das romantische Ideal zerstören und bleiben dem Leser erspart. Goethes Figur des Werther imaginiert die Vereinigung mit Lotte im Angesicht des göttlichen Vaters, Thomas Manns Aschenbach geht fiebernd mit Tadzio ins Ureine ein, um sich in entgrenzender Selbstauflösung mit ihm und dem Urstrom zu vereinen.