„Sympathisch ergriffen“

Der Zusammenhang von (queerer) Emotionalität und Intertextualität bei Thomas Mann am Beispiel seiner Rezeption von Herman Bangs Werken

Von Claudia GremlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Gremler

Der Bereich der Intertextualität ist ein Gebiet, das in der Thomas-Mann-Forschung verständlicherweise nach der Zugänglichmachung der Arbeitsmaterialien im Nachlass und der Öffnung der Tagebücher geradezu einen literaturwissenschaftlichen ‚Boom‘ erlebte und das angesichts der stark vernetzten Arbeitsweise dieses Autors bis heute immer wieder neue Einblicke in sein komplexes Werk gestattet. Wie sich die Existenz der vielen miteinander verschränkten Prätexte auf die Dimension der Emotionalität in Thomas Manns Werk auswirkt, ist bisher jedoch kaum betrachtet worden.

Sich mit Intertextualität und Emotionalität zu beschäftigen, heißt den Blick gleichermaßen auf Aspekte in der Textproduktion als auch auf rezeptionsästhetische Faktoren zu lenken, denn der Autor rückt zugleich auch als Leser in den Mittelpunkt. Die Bedeutung, die Gefühlsdarstellungen im Rahmen intertextueller Bezüge einnehmen, ist extrem variabel – dass die Emotionalität des Prätextes ein wesentliches Rezeptions- und intertextuelles ‚Verwendbarkeitskriterium‘ darstellen kann, ist jedoch einleuchtend.

Im Folgenden soll am Beispiel von Thomas Manns produktiver Rezeption der Werke Herman Bangs erläutert werden, wie die intertextuelle Auseinandersetzung in Bezug auf die emotionale Dimension von Werk und Prätext aussehen kann. Manns intertextuelle Bezugnahme auf die Werke des dänischen Dekadenzautors und literarischen Impressionisten Bang, der der deutschen literarischen Öffentlichkeit heute weitgehend unbekannt ist, in seiner Heimat aber zu Recht den Status eines modernen Klassikers besitzt, bietet sich zur Beleuchtung dieses Zusammenhanges aus verschiedenen Gründen an.

Erstens nimmt die Beschäftigung mit Bangs Werken eine vergleichsweise bedeutende Stellung in Manns literarischem Schaffen ein, was sich daran ablesen lässt, dass sich seine Bang-Rezeption über einen langen Zeitraum erstreckte und er sich sein Gesamtwerk hindurch immer wieder auf Texte von Bang bezog.

Zweitens – und in diesem Zusammenhang vielleicht noch bedeutsamer – ist erkennbar, dass Thomas Manns Bang-Lektüre sowie seine intertextuelle Verarbeitung von Werken dieses Autors eindeutig stark, wenn nicht gar primär, von Gefühlsinhalten bestimmt wurde.

Das lässt sich schon anhand von Thomas Manns spärlichen, aber aussagekräftigen Äußerungen über Bangs Werke erkennen. 1918 lobt er – an etwas unerwarteter Stelle in seinem Nachruf auf Eduard Keyserling – „das schmerzliche Werk des Dänen“ für die „tiefe Sympathie mit dem Leide“, die er bei Bang dargestellt fand. In einem privaten Brief zeigt er sich schon 1905 von Bangs Roman „Michael“ „sympathisch ergriffen wie nur ganz selten noch“ und hebt so bereits hier hervor, wie stark seine Rezeption auf die emotionale Qualität von Bangs Werken bezogen und von ihr gesteuert war.

Die Illustration der Form, die Thomas Manns Auseinandersetzung mit den in Bangs Texten dargestellten Emotionen annahm, soll im Folgenden anhand des Romans „Der Zauberberg“ erfolgen, der aus Manns insgesamt stark intertextuell geprägtem Werk als ein Text hervorragt, in dem die Intertextualität geradezu zum bestimmenden Strukturprinzip erhoben wurde, wie Untersuchungen von unter anderem Eckhard Heftrich und Michael Maar beweisen – und in dem auch zahlreiche Prätexte von Herman Bang Verwendung fanden, zu denen die Erzählung „Fratelli Bedini“ zu rechnen ist.

„Der Zauberberg“ ist zudem ein Text, in dem sich das Widerspiel von Manns berühmter ironischer Erzählhaltung, die darauf ausgerichtet ist, einer emotionalen Lesart entgegenzuwirken, und den dennoch oder zugleich präsenten, häufig recht intensiven Gefühlsinhalten, besonders deutlich zeigt. Ein gutes Beispiel für diese zwiespältige Strategie, Emotionen beim Leser zu evozieren, einem Akt des movere aber durch Ironisierung entgegenzuwirken – oder diese Wirkung zumindest abzuschwächen – bietet das vielzitierte Ende des Romans, in dem der auktoriale Erzähler sich betont lässig von seiner Figur verabschiedet, die sich in Todesgefahr befindet: „Lebe wohl, Hans Castorp […]! Deine Geschichte ist aus. […] Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht; […] und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst. Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekümmert die Frage offen“.

Diese skizzierte Doppelstrategie aus Gefühlsdarstellung und Gefühlsverneinung beschränkt sich nicht auf das Verhältnis zwischen dem Erzähler und seinen Figuren, sondern eine ähnliche ‚No-Nonsense-Haltung‘ wird auch den Figuren selbst unterstellt, wie die Szene verdeutlicht, als sich Hans Castorp im „Schnee“-Kapitel dem Tode nahe wähnt: „Blindlings, umhüllt von wirbelnder, weißer Nacht, arbeitete er sich nur tiefer ins Gleichgültig-Bedrohliche hinein. ‚Na, so was!‘ sagte er zwischen den Zähnen und machte halt. Pathetischer drückte er sich nicht aus, obgleich es ihm einen Augenblick war, als griffe eine eiskalte Hand nach seinem Herzen, so daß es aufzuckte“.

Dass dieser ostentativ sachliche Umgang mit der Darstellung von Gefühlen das Leseerlebnis nicht zu einem rein kognitiven Vorgang macht, sondern beim Rezipienten durchaus eine starke Empathie für die Figuren und die präsentierten Emotionen bewirken kann, beweist diese Schilderung eines „Zauberberg“-Lesers: „Später kam es mir vor, daß ich beim Lesen allein in meinem Zimmer Tränen vergoß […]. So […] beim Sterben Joachim Ziemsens [sic] im „Zauberberg“. Da geschah es mir zweimal; einmal als ich siebzehn, einmal als ich dreiundsiebzig Jahre alt war. […] Um Tränen zu vermeiden, kam es vor, daß ich mir beim Lesen sagte: Es ist ja nicht wahr, es ist ja alles erfunden – was auch nichts half.“ Diese Aussage bestätigt deutlich das Potenzial des „Zauberbergs“, eine empathische Rezeption zu erreichen. Die Gültigkeit dieser Beobachtung wird auch durch den Umstand nicht geschmälert, dass dieser besondere Leser vielleicht gerade deshalb emotional bewegt war, weil er den für Mann so charakteristischen von Emotionsnähe und gleichzeitiger Abwehrhaltung geprägten Umgang mit Gefühlen nur zu gut aus eigener Anschauung und nächster Nähe kannte – dieser Lektüreerfahrungsbericht des „Zauberbergs“ stammt aus den „Erinnerungen und Gedanken“ von Golo Mann.

Mit dem Bericht über seine Reaktion auf diejenige Passage des Romans, die ihn zweimal zu Tränen rührte, verweist Golo Mann auf das emotionale Zentrum des „Zauberbergs“. In der Tat handelt es sich bei der Beschreibung von Joachims Tod um die gefühlsintensivste Episode des gesamten Werkes. Auch hier lässt sich wieder die charakteristische Ironisierung der dargestellten Emotionen beobachten, wie die Beschreibung von Hans Castorps Reaktion auf den Tod des Vetters illustriert: „Dann stand auch er und weinte, ließ über seine Wangen die Tränen laufen […] – dies klare Naß, so reichlich-bitterlich fließend überall in der Welt und zu jeder Stunde, daß man das Tal der Erden poetisch nach ihm benannt hat; dies alkalisch-salzige Drüsenprodukt, das die Nervenerschütterung durchdringenden Schmerzes […] unserem Körper entpreßt. Er wußte, es sei auch etwas Muzin und Eiweiß darin.“ Die Kontrastwirkung der Verbindung von pathetischem Gefühlsdiskurs über das Tal der Tränen und medizinischen Hinweisen auf die chemische Zusammensetzung dieses Sekrets bewirkt eine Relativierung und humoristische Abschwächung der dargestellten Gefühle. Dennoch bleibt erkennbar, dass es sich hier um das zentrale Gefühlserlebnis des Protagonisten handelt, und wenn der Erzähler „unseres Joachims verstummtes Antlitz“ beschreibt, signalisiert die Verwendung des Possessivpronomens die vorübergehende Aufgabe der auktorialen Distanz, während sie zugleich durch die bewusst altmodisch-gestelzte Wortwahl wieder hergestellt wird.

Die große Bedeutung und zentrale Stellung, die Joachims Tod im Roman eingeräumt werden, verweisen ihrerseits darauf, dass Joachim, wenngleich er zeitweise scheinbar auf die Position einer Nebenfigur reduziert wird, die Hauptbezugsperson für den Protagonisten darstellt und dass die Beziehung von Hans Castorp zu seinem Vetter die größten Gemütsbewegungen in ihm hervorruft. Dass es sich so verhält, lässt sich in paradoxer Logik schon daran ablesen, dass die bereits beschriebene Gefühlsabwehr, die sowohl im Verhältnis des Erzählers zu den Figuren als auch im Erleben der Personen selbst erkennbar wird, im Verhältnis von Joachim und Hans Castorp extreme Ausmaße annimmt. Trotz ihrer Vertrautheit und ihres engen Verwandtschaftsgrades vermeiden sie es bekanntlich, sich mit Vornamen anzureden, eine befremdliche Vorgehensweise, die mit norddeutscher Zurückhaltung und „Sittensprödigkeit“ begründet wird, sich aber offenbar auf andere Familienmitglieder nicht auswirkt, wie Hans Castorps zwangloser Umgang mit seinem Onkel James Tienappel beweist.

So häufig wird die von Hans Castorp und Joachim geteilte „Scheu vor zu großer Herzenswärme“ thematisiert, dass dadurch die Macht der kaum verdrängten Gefühle, die die beiden jungen Männer für einander empfinden, eindeutig hervorgehoben wird. Dieses homosexuelle Begehren steht nur scheinbar im Widerspruch zu Hans Castorps ansonsten normgerechter Heterosexualität, denn dass die heterosexuellen Gefühle, die er für Madame Chauchat hegt, in Wahrheit nur eine Projektion seines alten homosexuellen Begehrens für Pribislav Hippe sind, wird einerseits im Text vergleichsweise offen gesagt und andererseits, wie Untersuchungen von Claus Sommerhage, Karl Werner Böhm und anderen ergeben haben, auch auf verdecktere Weise wiederholt zum Ausdruck gebracht.

Insgesamt ist der, wie Böhm zutreffend formuliert hat, „verhüllend-enthüllenden“ Thematisierung von Homosexualität in Manns Werk seit den 1980er-Jahren in der Forschung zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet worden und auch die sich in den letzten Jahren entwickelnden queer studies sind für die Analyse seiner Werke fruchtbar gemacht worden (unter anderen von Andreas Blödorn).

Der Begriff queer bezeichnet in den Kultur- und Sozialwissenschaften übergreifend Formen von Geschlechtlichkeit und ihre Repräsentation, die sich der Einordnung in die als Konstrukt begriffene Zweigeschlechtlichkeit und die daraus abgeleitete Norm der Heterosexualität widersetzen, und findet in Form von queer readings, die Brüche der heterosexuellen Matrix in Texten aufspüren, auch in der Literaturwissenschaft Anwendung.

Ebenso wie Manns Werke gehören auch Bangs Romane und Erzählungen in die Gruppe von Texten, bei denen eine Analyse in Form von queer readings ergebnisreich ist, wie insbesondere Dag Heedes Untersuchung beweist, in der er beleuchtet, wie Bang in allen seinen Werken in der Figurengestaltung und den Gefühlsdarstellungen tradierte Geschlechterzuschreibungen aufbricht und in Frage stellt. Es ist davon auszugehen, dass Mann, als er von seiner positiven Lesereaktion auf die bei Bang dargestellten Gefühle berichtete, implizit auch seine Rezeption von queerer Emotionalität in Bangs Werken einschloss. Bezeichnenderweise bezieht sich die Schilderung seiner bereits zitierten „sympathischen [E]rgriffen[heit]“ bei der Lektüre von Bangs Roman „Michael“ auf einen Text, der aufgrund seiner sich anbietenden homosexuellen Lesart bei seinem Erscheinen in Dänemark heftig für seine die Grenzen gesellschaftlicher Akzeptanz verletzenden Darstellungen emotionaler und erotischer Bindungen kritisiert wurde und in Deutschland schnell zu einem bevorzugten Identifikationstext der entstehenden Schwulenbewegung avancierte.

Aufbauend auf Ergebnissen der soziologischen Emotionsforschung betont Simone Winko die Bedeutung der kulturellen „Kodierung“ von Emotionen, die das Verständnis von textuellen Gefühlsdarstellungen innerhalb kulturell homogener Gruppen gewährleistet. Es lässt sich vermuten, dass Angehörige von Subkulturen besonders sensibel auf die Kodierung bestimmter gesellschaftlich marginalisierter oder tabuisierter Gefühle reagieren, die sich beispielsweise auf ein traditionell inakzeptables Objekt beziehen. Da die Aufmerksamkeit dieser besonderen Lesergruppe vorausgesetzt werden kann und zugleich das Auslösen eines gesellschaftlichen Skandals durch unangenehm berührte andere Leser vermieden werden soll, lässt sich in queeren Texten häufig eine reduzierte Intensität der dargestellten Gefühle verzeichnen. Die eingangs skizzierte Form der Gefühlsdarstellung, in der Mann typischerweise Emotionalisierung und Ironisierung mischt, lässt sich also vermutlich auch auf die Scheu vor einem allzu deutlichen Ausdruck von gesellschaftlich inakzeptablen Gefühlen zurückführen – wenngleich die Monokausalität von Böhms Behauptung, Mann habe sich maßgeblich unter dem Eindruck der Kritik seines Bruders Heinrich an seiner gefühlvollen, deutlich homosexuell geprägten Jugendlyrik vom „hemmungslose[n] Pathetiker“ zum Ironiker und Zyniker gewandelt, schwer zu verteidigen ist.

Die Rolle, die die Intertextualität in diesem Zusammenhang einnimmt, erschließt sich, wenn man die Erzählung „Fratelli Bedini“ als Folie für die Darstellung der Beziehung zwischen Hans Castorp und Joachim betrachtet.

Ähnlich wie Mann selbst bediente sich auch Bang in Bezug auf die versteckte Homosexualitätsthematik in seinen Werken auf paradoxe Weise einer, wie Heede betont, „demonstrativen Form der Geheimhaltung“, und seine Texte weisen immer wieder auf mögliche queere Lesarten hin. Seine expliziteste Darstellung einer Beziehung zwischen Männern steht im Mittelpunkt der Erzählung „Fratelli Bedini“, die auf Deutsch 1905 in dem Band „Exzentrische Novellen“ veröffentlicht wurde, einem Buch, das sich Mann gleich bei Erscheinen anschaffte.

Die Erzählung berichtet von den Artisten Giovanni und Mr. Batty, die, ohne miteinander verwandt zu sein, unter dem Namen „Fratelli Bedini“ (Gebrüder Bedini) als Löwenbändiger auftreten. Wie Heinrich Detering in seiner Untersuchung zur homerotischen Camouflage bei Bang betont, „[soll] die ‚unaussprechliche‘ Beziehung zwischen diesen beiden Männern durch unterschiedliche erzählerische Strategien als homoerotische kenntlich gemacht werden – und als eigentliches Thema und Zielpunkt der Erzählung“. Bang selbst schrieb in seinen posthum veröffentlichten „Gedanken zum Sexualitätsproblem“, dass von der bürgerlichen Gesellschaft kriminalisierte homosexuelle Partnerschaften in der hermetischen Zirkuswelt der Artisten unter Beachtung gewisser Regeln der Tarnung möglich seien, zumal die Männer „auf dem Programm noch dazu immer Brüder“ seien, und wies so indirekt aber deutlich auf die intendierte homosexuelle Lesart seiner Erzählung hin.

Für die deutschen Rezipienten stellte sich die Beziehung der beiden Männer noch eindeutiger dar, weil die Übersetzung den im dänischen Originaltext eher zurückhaltenden Erzählerkommentar, mit dem die Gefühle zwischen Giovanni und Batty beschrieben werden, intensiviert, indem sie die Formulierung „de holdt af hinanden“ („sie mochten einander“ oder „sie hatten sich gern“) durch den emotionaleren Ausdruck „sie hatten sich lieb“ wiedergibt.

Mann bezog sich wiederholt intertextuell auf diese Erzählung und setzte sich auch bei der Gestaltung der Beziehung zwischen Hans Castorp und Joachim wieder mit „Fratelli Bedini“ auseinander. Die Parallelen zwischen beiden Texten fallen gleich ins Auge: auch die beiden Berghof-Bewohner, von Behrens scherzhaft „Castorp und Pollux“ genannt, verbindet ein pseudogeschwisterliches Verhältnis (zusätzlich untermalt durch die Anspielungen auf Goethes „Faust“), tatsächlich sind sie jedoch gar nicht blutsverwandt, sondern nur „Stiefvetter[n]“. Zu den wenigen in „Fratelli Bedini“ genannten Gegenständen gehört eine Decke, die Batty Giovanni mehrfach fürsorglich umlegt, im „Zauberberg“ wird Hans Castorp von Joachim in die Kunst des Deckenwickelns eingeweiht und dem Deckenkauf sogar eine eigene Kapitelüberschrift gewidmet. Schließlich wird Hans Castorp gegen Ende des Romans von Settembrini als „Giovanni“ angesprochen, so dass an dieser Stelle sogar eine Namensgleichheit von Bangs und Manns Protagonisten erreicht ist. Bedeutsam sind auch Übereinstimmungen in den Stationen der Beziehung von beiden Paaren. Jeweils in der Mitte der Handlung kommt es zu einer Trennung, die in beiden Fällen auf verhaltene aber dennoch deutliche Weise stark emotional geprägt ist. Zwischen Joachim und Hans Castorp kommt es zur für Letzteren unendlich „peinlichen“ Nennung des Vornamens, während in „Fratelli Bedini“ in der Abschiedsszene zum ersten Mal das „Du“ fällt. Insgesamt ähneln sich die beiden Passagen sowohl inhaltlich als auch formal in ihrer zugleich expliziten und impliziten Emotionsdarstellung in auffälliger Weise. Im „Zauberberg“ heißt es bekanntlich: „Sie gaben einander die Hand. Hans Castorp lächelte unbestimmt; des andren Augen waren ernst und traurig dringlich. „Hans!“ sagte er [Joachim] – allmächtiger Gott! Hatte sich etwas so Peinliches schon je in der Welt ereignet? Er redete Hans Castorp mit Vornamen an! […] aller Sittensprödigkeit zum Trotz und peinlichst überschwenglicher Weise mit Vornamen! „Hans“, sagte er und drückte mit dringlicher Angst dem Vetter die Hand […], „komm bald nach!“ […] Zerwühlten Herzens stand er [Hans Castorp] noch lange, allein. Dann ging er langsam den Weg zurück […].“

Bei Bang wird die parallele Szene wie folgt beschrieben: „Er [Giovanni] war zum letzten Mal aufgetreten und er und Batty gingen nach Hause. Sie waren beide traurig […]. Batty erhob den Kopf und leise sagte er […] „Ja, – ob wir uns wiedersehen werden?“ Giovanni hatte dasselbe gedacht. Er ergriff hastig Battys Hand: „Batty!“ sagte er. […] Keiner von beiden sprach mehr […]. „So leb’ den [sic] wohl!“ sagte Batty. „Leb’ auch du wohl,“ sagte Giovanni. Sie sahen sich betrübt an und fanden keine Worte. Dann schritt Batty die Straße hinab.“

Beide Texte erscheinen in der Gefühlsdarstellung an dieser Stelle relativ zurückhaltend, ein Eindruck, der entsteht, obwohl ein Gefühl, nämlich „Traurigkeit“ explizit benannt und präsentiert wird. Dieser Eindruck von Zurückhaltung ergibt sich dadurch, dass neben der offen benannten Trauer über den Abschied das Gefühl, das die Trauer motiviert – nämlich die Liebe zwischen den beiden Männern – ausgespart bleibt. Diese emotionale Leerstelle, die die Unmöglichkeit der offenen Präsentation queerer Gefühle markiert, entspricht interessanterweise zugleich Bangs formalen Prinzipien von ausdrucksstarker Literatur. Wenn er in seinem poetologischen Aufsatz „Impressionismus“ betont, dass das „Gewebe der Gefühle“ am Wirkungsvollsten auf indirekte Weise in dem dargestellt werden solle, das „nicht gesagt wird“, schafft er sich also in dieser programmatischen Äußerung zugleich einen Freiraum für die Artikulation eigentlich ‚unaussprechlicher‘, tabuisierter Gefühle.

Für sensibilisierte Leser kann das Erkennen dieser Leerstelle, die Beobachtung, dass die dargestellten Emotionen zugleich in ‚Platzhalterfunktion‘ auf von der offenen Repräsentation ausgeschlossene queere Gefühle verweisen, das Gefühlserlebnis beim Lesen eher noch steigern – und es ist davon auszugehen, dass Thomas Mann zu dieser Lesergruppe gehörte – so wie Golo Mann als Leser des „Zauberbergs“ in diese Gruppe einzuordnen ist.

Die Konzentration auf die Präsentation von Trauer im Umgang der männlichen Partner, deren Liebe zueinander sich der Thematisierung entzieht, setzt sich in beiden Texten fort und kann geradezu als emotionale Darstellungsstrategie betrachtet werden. Auf die reservierten und doch gefühlvollen Abschiedsszenen unter Männern, die sich im Übrigen im Gesamtwerk beider Autoren in ähnlicher Form wiederholen – Beispiele dafür sind im „Doktor Faustus“ und in Bangs „Die Vaterlandslosen“ zu finden – folgt in beiden Fällen der endgültige Abschied, den der Überlebende vom sterbenden Geliebten nimmt. Hans Castorps Reaktion auf Joachims Tod und die zentrale emotionale Stellung, die diese Episode im Roman einnimmt, wurde bereits beschrieben. Auch in „Fratelli Bedini“ stirbt einer der beiden Männer: mit Battys Tod im Löwenkäfig und Giovannis Aufbruch in eine einsame, hoffnungslose Zukunft endet die Erzählung.

Der Schluss legt die Einsicht nahe, dass die Beziehung der beiden Männer zueinander trotz der bewusst von ihnen gewählten sozialen Ausnahmeexistenz der Artisten sich letztlich als normwidrig und nicht lebbar erwiesen hat. Detering sieht in der Löwin, die Batty tötet, die Verkörperung der sich rächenden heterosexuellen Norm und Heede weitet diese Beobachtung gar auf Bangs Gesamtwerk aus, wenn er schreibt „Männliche Homosexualität hat bei Herman Bang den Tod als Voraussetzung, Existenzbedingung und Ergebnis“.

Mann scheint dieser Einschätzung von Homosexualität als unmöglichem Lebensentwurf, der den Tod nach sich zieht, zunächst in doppelter Form zu folgen. Erstens lässt auch er das homosexuelle Liebesobjekt seines Protagonisten sterben. Zweitens hebt der Text die Verbindung zwischen Liebe und Tod, zwischen Eros und Thanatos, in vielfacher Form hervor und präsentiert unter anderem in Madame Chauchat ein maskulinisiertes und todesverhaftetes Objekt der Begierde. Darüber hinaus betont Mann auch in seinem zeitnah entstandenen Essay „Über die Ehe“ den Kontrast zwischen Heterosexualität, die dem „Lebensbefehl“ folge und der Homoerotik, die nur über einen „Todessegen“ verfüge.

Mann löst sich jedoch von seinem Prätext, wenn er die Beziehung zwischen Joachim und Hans Castorp nicht mit Joachims Tod enden lässt, sondern im Kapitel „Fragwürdigstes“ ein Nachspiel inszeniert, das in Bangs Erzählung nicht angelegt ist. Das entspricht Manns allgemein zu beobachtender Auseinandersetzung mit Bangs Werken in Form von Gegenentwürfen. In diesem Kapitel, das sich so – neben anderen Funktionen im Kosmos dieses vielschichtigen Romans – auch als „Kontrafaktur“ (Hans Rudolf Vaget) zu „Fratelli Bedini“ begreifen lässt, werden noch stärker als bisher die klassischen Geschlechterzuordnungen hinterfragt.

In der kurz vor Ende des Romans stattfindenden Séance entwirft Mann, wie Astrid Lange-Kirchheim in einer ausführlichen auf psychoanalytische Ansätze bezogenen Analyse nachgewiesen hat, eine geradezu postmodern anmutende Usurpation heteronormativer Geschlechterstrukturen. Sie führt aus, wie Mann hier die auf Fortpflanzungsfähigkeit beruhende Hegemonie der Heterosexualität in Frage stellt, die herrschende Geschlechterordnung – wie auch schon im Kapitel „Walpurgisnacht“ – als karnevaleske Maskerade enthüllt und so Einsichten vorausnimmt, die Judith Butler in ihrem Konzept von der Performativität von Geschlecht formuliert hat. Nachdem bereits zuvor Madame Chauchat durch ihre Assoziation mit dem als Phallussymbol fungierenden Bleistift maskulinisiert wurde und sowohl Hans Castorp als auch Joachim in der Durchleuchtungsszene in Behrens’ Behandlungszimmer zum Objekt des traditionell männlichen voyeuristischen Blicks gemacht und somit femininisiert wurden, setzt sich in „Fragwürdigstes“ diese Aufbrechung von Geschlechterzuordnungen fort und es wird erneut Geschlechtlichkeit als „ein Effekt von Erfindungen, Fiktion und Konstruktion“ (Lange-Kirchheim) charakterisiert.

Zentral ist bei diesem Prozess die ‚Geburtsszene‘, in der das weibliche Medium Elly Brandt mit Hilfe des männlichen spirits Holger den Geist des verstorbenen Joachim gebiert. Im Verlauf dieses Vorgangs wird Hans Castorp, der quasi als ‚Geburtshelfer‘ fungiert, angehalten, das männliche Pronomen für Elly zu verwenden, weil sie nunmehr die Verkörperung von Holger darstellt. Auf diese Weise wird die weibliche Gebärfähigkeit negiert und männlich usurpiert. Es lässt sich zudem, wie Lange-Kirchheim ausführt, ein Akt des gender crossing beobachten, in dem parallel zu Ellys Maskulinisierung Hans Castorp femininisiert wird, wenn die im Hintergrund abgespielte Arie aus der „Faust“-Oper, die den mit Valentin assoziierten Joachim hervorlocken soll, ihn in die Rolle von Gretchen versetzt.

Was nun die Darstellung von Gefühlen in dieser Szene betrifft, so ist Hans Castorp sichtlich überwältigt, als ihm Joachim tatsächlich erscheint. Er bringt es nicht fertig, mit ihm zu reden, wie von den anderen Anwesenden erwartet wird, und entschuldigt sich nur für die ihm jetzt falsch und anmaßend erscheinende Herbeizitierung des schmerzlich vermissten Begleiters. Die Gefühle, die Hans Castorp für Joachim empfindet, bleiben also erneut unausgesprochen – und doch hat man nicht zu Unrecht in diesem Kapitel die Konsolidierung von Hans Castorps homosexueller Geschlechtsidentität gesehen.

Das Spiel mit den Geschlechterzuordnungen, das Mann in dieser Szene betreibt, signalisiert auch ein in den Kapiteln zuvor im Verhältnis von Hans Castorp zu Mynheer Peeperkorn bereits angedeutetes revidiertes Verständnis von Homosexualität, das, an Blüher und Whitman geschult, das Postulat der Polarität im sexuellen Begehren negiert und den Weg für ein maskulines Konzept von Homosexualität bahnt. Homosexuelles Begehren ist so nicht mehr an die Vorstellung einer notwendigen ‚Verweiblichung‘ gebunden, sondern vielmehr mit als klassisch männlich begriffenen Eigenschaften kompatibel, wie der soldatische Joachim beweist. Auch hier nimmt Mann eine Gegenposition zu Bang ein, der eher dem Zwischenstufenmodell von Magnus Hirschfeld zuneigte und den männlichen Homosexuellen als einen Menschen begriff, der „Mann [bleibt] und doch mit der Seele einer Frau [fühlt]“. Zu diesem „feminine[n] Empfinden“, das auch die deutsche Literaturkritik (Felix Poppenberg) in Bangs Werken meinte erkennen zu können – und dem Mann keineswegs vollständig und auf Dauer ablehnend gegenüber stand – geht er hier auf deutliche Distanz.

Der auferstandene Joachim wird deshalb sehr deutlich mit den maskulinen Attributen seines soldatischen Berufsstandes präsentiert. Allerdings stellt er, für die Figuren des Romans unverständlich, zugleich eine Zukunftsvision dar. Er tritt in der Uniform des Ersten Weltkriegs auf und stellt so als von Hans Castorp begehrter, todesgeweihter Geliebter erneut die altbekannte Verbindung von Homosexualität und Tod her. Noch ist für Manns Figuren kein Ausweg aus dieser Verknüpfung möglich, dennoch hat die, auch für Bangs Werke typische, tradierte Variante, bei der die Hegemonie der heterosexuellen Matrix bewirkt, dass die homosexuellen Figuren durch den Tod von ihrem Geliebten getrennt werden, weil ihre Lebensgemeinschaft gegen die gesellschaftlichen Normen verstößt, offenbar zunächst ausgedient. Die letzten Seiten des Romans zeigen Hans Castorp auf dem Schlachtfeld und erwähnen auch ein gefallenes Freundespaar, das „vermengt und verschwunden“ ist, der einsamen Existenz von Bangs homosexuellen Figuren also zumindest den gemeinsamen Tod, wenn schon keine gemeinsame Zukunft, voraus hat.

Indem Mann in dieser kurzen Beschreibung das nicht unerhebliche Korpus homoerotischer Kriegslyrik evoziert, das der Erste Weltkrieg hervorbrachte, lässt er eine Vision aufblitzen, in der homosexuelle Partnerschaften möglich erscheinen – und sei es begrenzt auf die gesellschaftliche Ausnahmesituation des Krieges. Das Ende des „Zauberbergs“ scheint so eine Haltung gegenüber der Homosexualität als Lebensentwurf zu markieren, die Thomas Manns gleichzeitigen essayistischen Ausführungen zuwiderläuft. Allerdings ist es fraglich, ob die Verurteilung der Homoerotik, die Mann in „Über die Ehe“ vornimmt und die sie als lockend, aber zugleich todesverhaftet und daher unlebbar beschreibt, nicht zu einem gewissen Teil eine Pose ist, wie ein Brief an seine Tochter Erika vom 16.8.1925 nahelegt, in dem er den Aufsatz in ironischem Kontext als „hochmoralisch“ bezeichnet.

Der Roman endet mit der Hoffnung auf Liebe, die – wie der Erzähler nach einigen charakteristisch ironischen Einschüben mit abschließendem Pathos beschwört – aus dem „Weltfest des Todes“, das der Krieg darstellt, emporsteigen soll. Nicht eindeutig thematisiert, aber implizit in diesem Wunsch enthalten ist die Hoffnung, dass der den Konventionen zuwiderlaufende „Traum von Liebe“, dem Hans Castorp auf dem Berghof begegnete, in der Zukunft realisierbar und die mit ihm verbundenen Emotionen offen benennbar sein mögen. Wie Manns nach dem „Zauberberg“ entstandene Werke zeigen, blieb dies jedoch nur eine Hoffnung.