Die heimliche Rebellion des Alleszermalmers – Reinhard Brandt beantwortet die Frage, was von der Philosophie Immanuel Kants Bestand hat

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Seit dem ersten Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft“ zählt Kant zu den Geistesgrößen, deren Beitrag zur Philosophiegeschichte als unhintergehbar gilt. Was aber bleibt wirklich von der Philosophie des Königsberger Weltweisen? Was hat noch heute Bestand und was hat sich als unhaltbar erwiesen? Fragen, die Reinhard Brandt nun in dem Band „Immanuel Kant – was bleibt?“ beantwortet. Dass er dabei so manche verblüffende Erkenntnis parat hat, versteht sich bei einem Kantforscher seines Ranges von selbst.

Eine der überraschendsten Entdeckungen macht Brandt bereits im ersten, der transzendentalen Ästhetik gewidmeten Abschnitt, in dem er nachweist, dass der ‚Alleszermalmer‘ seine Argumentation „nach dem Muster von Gottesbeweisen konzipiert“ hat und ihre „formale Anlage“ den „Beweisschritten der rationalen Theologie“ folgt. Von dieser Erkenntnis angeleitet, fragt Brandt nach der Haltbarkeit der transzendentalen Raum-Zeit-Lehre und gelangt unter anderem zu dem „simplen Befund“, „dass der Punkt der reinen Anschauung eine ins Unendliche teilbare Kugel sein müsste, d. h., dass es ihn nicht gibt.“ Ausgehend von der Annahme, dass sich Kant „vom Anfang bis zum Ende nur entwicklungsgeschichtlich interpretieren“ lässt, legt Brandt in den folgenden Abschnitten dar, wie das „Aufklärungsgebot in heutige Zeit zu übersetzen“ ist, erklärt, warum Kants Rechtslehre „höchst tiefsinnig und zugleich problematisch“ ist, und vertritt die These, dass sich Kants „Maximen- und Gesetzesbegriff auf eine Zweistufigkeit von Regeln bezieht, deren Herkunft und Systematik bisher nicht durchschaut wurde.“ Des Weiteren zeigt Brandt die „Aporien der Rechtslehre“ auf, geht Kants Begriff des „Naturzweck[s]“ nach, fragt, inwiefern sich die „Würde des Menschen“ damit begründen lässt, dass er als „Zweck an sich“ zu gelten habe, und erörtert, ob Kant vergeblich versucht, das Böse in der Welt zu retten. Im Kapitel „Kritik und Aufklärung“ vertritt er zudem die weniger Kant als vielmehr Max Horkheimer und Theodor W. Adorno betreffende These, dass deren „‚Dialektik der Aufklärung‘“ „wohl nicht“ bleiben wird.

Abschließend lässt Brandt „Kant als Rebell gegen die Gesellschaftsordnung“ antreten und zeigt, dass sich dieser zwar „zeitlebens loyal zu den Institutionen, in denen er lebte“, verhielt und die gesellschaftliche Ordnung auch nicht in seinen publizierten Schriften kritisierte; sehr wohl aber in seinen persönlichen Notizen. Dort „lodert eine Empörung“, die weder in Kants Publikationen noch in seinen Briefen zu finden ist. Nur privat, nur im stillen Kämmerchen, stellt Kant „zwei Fundamente der Gesellschaftsordnung“ infrage: „einmal die Feudalherrschaft, zum anderen, weiter reichend, die Appropriation der Arbeitsprodukte durch die Besitzer der Produktionsmittel.“ So hat er etwa die leeren Seiten seines durchschossenen Handexemplars der „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ mit „privaten Bemerkungen“ gefüllt, die ihm Brandt zufolge ein „Labor der Zukunft“ waren. In und mit ihnen „probiert[e]“ der Aufklärer „in welche Richtung eine menschengerechte Gesellschaft gehen müsste“, und fand einen „besseren Weg“ als der später „ohne Fortüne“ ag(it)ierende Karl Marx.

R. L.

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Reinhard Brandt: Immanuel Kant - was bleibt?
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2010.
269 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783787319565

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