„Sehen tut weh“

Mit „Am Anfang war die Nacht Musik“ legt Alissa Walser einen Roman vor, der anhand eines historischen Falls ganz aktuelle Fragen zu Künstlerschaft und Glauben stellt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal bedauert man schon nach der Lektüre des ersten Kapitels, dass ein Buch enden wird. Irgendwann. Morgen, übermorgen, in fünf Tagen. Und möchte sich zwingen, langsamer zu lesen. Aber es zieht einen einfach mit. „Am Anfang war die Nacht Musik“, der erste Roman der Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin von 1992, Alissa Walser, ist so ein Buch.

Von Januar 1777 bis April 1784 lässt es seinen Leser episodenhaft am Leben zweier Persönlichkeiten der Zeitgeschichte teilnehmen. Die eine, Franz Anton Mesmer (1734-1815), Arzt und Begründer der nach ihm benannten Lehre vom tierischen Magnetismus, lebt, wenn Walsers Roman einsetzt, seit fast zwei Jahrzehnten in Wien und sucht nach Anerkennung für seine umstrittenen Heilmethoden durch die Medizinische Fakultät. Die andere, Maria Theresia Paradis (1759-1824), im Alter von drei Jahren erblindete, europaweit bekannte Pianistin und Sängerin – später auch Komponistin und Gründerin eines „Instituts für musikalische Erziehung“ – setzt ihre Hoffnung auf Heilung für nahezu ein Jahr ganz auf den weithin berühmten, von der zeitgenössischen universitären Medizin aber als Scharlatan angesehenen Mesmer.

Um den Konflikt zu begreifen: Wir sind im Zeitalter der Aufklärung. Das „siècle des lumières“ verstand sich als ein alle Lebensbereiche umfassendes Versprechen, der Wahrheit mit Hilfe von Verstandesgebrauch ans Licht zu verhelfen. Nichts galten mehr überkommene Abhängigkeiten, Fesselung des Glaubens und zur Doktrin erhobene Vorurteile. Was nicht beweisbar war auf rationalem Weg, fiel dem Verdikt anheim. Ominöse Autoritäten, deren Lehren einer „wissenschaftlichen“ Hinterfragung nicht standhielten, wurden als Betrüger gebrandmarkt. Gerade die Begeisterung weniger gebildeter Schichten für Charismatiker wie Mesmer galt dabei als untrügliches Zeichen, dass es nicht weit her sein konnte mit deren Reputation.

Und doch schafft es Mesmer, bei seiner Patientin Heilerfolge zu erzielen. In dem Maße freilich, in dem das genial veranlagte Mädchen aus der Dunkelheit seiner Nacht langsam wieder zum Licht erwacht, verliert sich auch ihr musikalisches Talent. So dass ihr dem Wiener Hof dienender Vater schließlich zum Äußersten greift und sie dem Einfluss Mesmers entzieht. Den darauf folgenden Rückfall in vollständige Blindheit nutzen die Feinde und Neider des Doktors, ihn als Betrüger und seine Methode als unwirksam zu denunzieren. Mesmer kehrt daraufhin Wien den Rücken und siedelt für ein Jahrzehnt nach Paris über. Auch dort scheitert freilich sein Bemühen, mit seiner Behandlungsmethodik offizielle Anerkennung zu finden. Eine letzte Begegnung des umstrittenen Arztes mit seiner berühmten Patientin anlässlich eines ihrer Konzerte in der französischen Metropole, wie Alissa Walsers Roman sie gegen Ende imaginiert, ist historisch nicht belegt.

„Am Anfang war die Nacht Musik“ nimmt den überlieferten Fall – mit dem die Autorin sich offenbar schon seit geraumer Zeit beschäftigt hat – auf, hält sich im Wesentlichen an die lebens-, zeit- und medizingeschichtlichen Details, geht aber bei der Ausdeutung seiner Hauptfiguren weit über das hinaus, was ein nur biografisch angelegter Roman sanktionieren würde. Unter Walsers Feder wird aus Mesmer fast so etwas wie der Urahn der psychoanalytischen Schule. Seine Heilmethoden sprechen die Sinne an und er versucht, innere Blockierungen seiner Patienten zu lösen, indem er sie zum Beispiel auch mit die magnetischen Exerzitien begleitender Musik in einen Zustand versetzt, der die Membran zum Unbewussten durchlässig werden lässt. Gerade bei dem musikalischen Wunderkind Paradis stößt der Arzt damit auf eine übergroße Empfangsbereitschaft, die wohl auch für die überraschend schnell eintretenden Heilerfolge verantwortlich gewesen sein dürfte.

Hinzu kommt aber auch eine erotische Komponente. Nachdem der Doktor, der mit seiner hoch eifersüchtigen Gattin in einer kinderlosen Vernunftehe, in die freilich sie, die reiche Witwe, den Großteil des Vermögens eingebracht hat, lebt, zunächst gewissermaßen die Vaterrolle auf Zeit übertragen bekommt, wird das Verhältnis zwischen ihm und der ihm Anvertrauten in den folgenden Monaten immer enger, ohne freilich je die gesellschaftlich gesetzten Grenzen zu überschreiten. Dass dies ohne Weiteres im Bereich des Möglichen läge, deutet der Roman über eine Nebenhandlung, die mit der ungewollten Schwangerschaft einer zweiten Patientin ein beliebtes Motiv der Literatur der Zeit strapaziert, an. Und auch die letzte Begegnung der beiden Protagonisten während einer Konzertpause in Paris legt mehr nahe als ein schlicht-steriles Arzt-Patientin-Verhältnis.

Nicht verschwiegen seien bei aller Ernsthaftigkeit, mit der Walser ihre zentralen Themen – Wissenschaft und Glauben, Krankheit und Gesundheit, Mann und Frau (Vater und Tochter), Theorie und Praxis, Wahrheit und Lüge – angeht, die humorigen Aspekte dieses Romans. Wenn da die achtzehnjährige junge Frau mit einer überdimensionalen Perücke und eingeschnürt „wie eine Torte auf Reisen“ zum ersten Mal in Mesmers Institut erscheint und Vater und Mutter mit dem Doktor über sie verhandeln wie über eine leblose Handelsware, dann ist das dialogisch gekonnt, die Machtverhältnisse auf den Punkt bringend und gleichzeitig entlarvend komisch. Erzähltechnisch raffiniert wird auch der Leser über die historische Figur des Franz Anton Mesmer ins Bild gesetzt – er muss einfach zuhören, wenn die Eltern ihrer blinden Tochter erklären, was da alles in dessen Haus auf sie zukommen wird. Sparsame Dialekteinschübe („Dr. Kindersäge isch ausblieba.“), kleine Verwechslungsszenen oder ein Lauschen an der Tür, was auf den Lauscher unmittelbar zurückfällt, tun ein Übriges, um das Lesevergnügen anstrengungslos hochzuhalten.

Walser legt wenige literarische Spuren – die aber mit äußerster Sorgfalt. Nach ihrem Debüt-Erzählungsband „Dies ist nicht meine ganze Geschichte“ ließ sie sechs Jahre vergehen, ehe sie mit neuen Prosastücken vor die Öffentlichkeit trat („Die kleinere Hälfte der Welt“, 2000). Nun hat sie fast zehn Jahre bis zu ihrer aktuellen Publikation verstreichen lassen. Und es hat sich gelohnt. Dass sie mit ihrem Mesmer/Paradis-Roman noch dazu gar nicht allzu weit von dem entfernt ist, was Martin Walser, ihr Vater, übrigens ebenfalls ein ausgewiesener Mesmerkenner und -liebhaber, der sich mit „Meßmers Gedanken“ (1985) und „Meßmers Reisen“ (2003) schon zweimal sehr dicht herangeschrieben hat an seinen Landsmann, gerade in seiner neuen Novelle „Mein Jenseits“ behauptet – dass nämlich jegliche Kreativität mehr in einem (nicht unbedingt religiös verankerten) Glauben denn in sicherem Wissen gründet – gibt diesem Buch noch eine weitere schöne Tiefendimension.

Titelbild

Alissa Walser: Am Anfang war die Nacht Musik. Roman.
Piper Verlag, München 2010.
252 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783492053617

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