„Die Wirklichkeit ist ein Käfig“

Der Antiheld Ivan Kalda rechnet in Edo Popovics gleichnamigen Roman „Kalda“ schonungslos mit seiner Biografie ab, um sich am Ende doch mit sich selbst zu versöhnen

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„In den medizinischen Handbüchern stand ganz eindeutig geschrieben, dass die Infestation mit Krätze üblicherweise durch direkten persönlichen Kontakt übertragen wird, und ein persönlicher Kontakt wurde bei uns zu Hause nicht gepflegt.“ Trockener, abgeklärter und aufgeräumter kann man ein zerrüttetes Familienleben kaum beschreiben, als es Ivan Kalda, der Antiheld in Edo Popovics defätistischen Roman „Kalda“ tut.

In 40 Episoden blickt Kalda auf sein Leben zurück, dass, wenn es nach ihm gegangen wäre, gar nicht erst begonnen hätte. In dem retrospektiven Durchlauf seiner Biografie springt er zwischen naher und ferner Vergangenheit hin und her und verdichtet die scheinbar zufälligen Lebensstationen zu einem nihilistischen Schicksalsgewebe. Die einzelnen Teile wirken wie Bruchstücke einer Psychoanalyse, der sich Kalda in der erzählten Gegenwart des Romans auch tatsächlich stellt. Doch sein Analytiker Dr. Galin scheint ihm weder über die einsam-selbständige Kindheit in Titos Jugoslawien, noch über die vorwiegend erfolglosen Annäherungsversuche an das weibliche Geschlecht in seiner Jugend hinweghelfen zu können. Die Gelegenheiten, die sich Kalda im Laufe seines Lebens bieten, überfallen ihn eher, als dass er sie beim Schopfe greift, oder streifen an ihm vorbei, weil er sich mit „Stalins Birne“, einem Mixgetränk aus Wodka und Optalin, in andere Welten geschossen hat.

Und auch über die schicksalhafte Wiederholung der Biografie des eigenen Vaters, der seine Familie verlassen hat und verschwunden ist, kann ihm Dr. Galin nicht hinweghelfen. Und das, obwohl der Analytiker Kalda „gelegentlich derartig auseinandernahm, derartig tranchierte, dass ich nicht ganz sicher war, ob sich diese Teile meiner selbst am Ende doch noch über so gewöhnliche Dinge wie, ob man zuerst die Kupplung tritt und dann den Gang einlegt, oder welches das Gas- und welches das Bremspedal ist, verständigen konnten.“ Bei einer Biografie, wie sie Kalda besitzt, kann ein solches Tranchieren lebensbedrohlich sein, so dass es nicht verwunderlich ist, dass Kalda mitten im Roman die Therapie abbricht. Von seinen Erlebnissen als Kriegsfotograf auf dem Balkan der 1990er-Jahre erzählt er in eindringlichen Bildern am Ende seines Romans nur dem Leser.

Letztlich wirkt Popovics Roman wie eine einzige Therapie zur Überwindung biografischer Traumata, erdacht von dem kroatischen Erfolgsautor, einem im Nihilismus versinkenden Protagonisten zugemutet. Auf Seite 108 wendet sich dieser folgerichtig gegen seinen Schöpfer. Dort heißt es: „Erinnerungen helfen auch nicht. Es gibt keinen Weg, die Wirklichkeit abzuschütteln, sie zu vergessen. […] Die Wirklichkeit ist ein Käfig, grausamer als ein Konzentrationslager. Es gibt kein Entkommen. Ihr könnt es versuchen, aber früher oder später erwischt sie euch.“

Was bleibt, ist die Verbitterung eines gealterten Jünglings, der seinen verpassten Lebenschancen lethargisch hinterherschaut. Gleich neben dem Pfad der Lethargie verläuft der Strom des Sarkasmus, in den sich der Erzähler immer mal wieder hineinfallen und von ihm treiben lässt. Dies geschieht aber nicht in plumpen und billigen Wendungen, sondern mit einer sprachlichen Souveränität, die von großem Können spricht. Popovic schafft nicht einfach irgendwelche Bilder, sondern welche von höchster Schärfe und Emphase. „Es gibt da oben einen Sadisten, der sich weidlich auf unsere Kosten amüsiert. Er schickt uns eine Hornisse ins Auto, während wir gerade einen Tankwagen überholen und uns ein lichthupender Betonmischer entgegenrast.“ Sätzen wie diesem gibt es nichts mehr hinzuzufügen.

Am Ende seines Romans öffnet der kroatische Underground-Autor Popovic das Wagenfenster, lässt die Hornisse ins Freie und steuert den Wagen vor den Tanklastwagen, bevor ihn der Betonmischer erwischt, und tut, als wäre nichts geschehen. Geradezu beiläufig, wie alles im Leben Kaldas, kommt es zur Begegnung von Vater und Sohn und das Eis im Herzen Kaldas beginnt zu schmelzen. Dabei verfällt Popovic aber nicht in einen gefühlsseligen oder sentimentalen Ton. Er bewahrt die Abgeklärtheit seines Protagonisten, fügt ihr aber eine Nuance der Zugeneigtheit hinzu. So berührt er uns als Leser und erreicht uns auf der Höhe seiner Kunst.

Wer junge und frische kroatische Literatur lese möchte, ohne sich ins Abstruse und Absurde begeben zu wollen, der sollte zu Popovic greifen. Auch wenn der Autor mit Jahrgang 1957 selbst nicht mehr der jüngste ist, gehört seine Literatur zur lebendigsten auf dem Balkan.

Titelbild

Edo Popovic: Kalda.
Buch + Audio-CD.
Übersetzt aus dem Kroatischen von Alida Bremer.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2008.
285 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783938424278

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