Die andere Seite der ,Golden Twenties‘

Der italienische Antikonformist Paolo Monelli nimmt das Berlin der 1920er-Jahre kritisch unter die Lupe

Von Liselotte GrevelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liselotte Grevel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist ein Jammer, Männer und Frauen“, so konstatiert Vicco von Bülow alias Loriot, „passen nun einmal nicht zueinander“; „Italiener und Deutsche ziehen sich an und passen ebenfalls nicht zueinander.“ Das ist noch der Weisheit letzter Schluss, den der vielseitige FAZ Feuilletonist Dirk Schümer nach zehnjährigem Leben in Venedig aus seinen Italienerfahrungen zieht. Das Motto seines Artikels mit der Überschrift „Ohne mio“ lautet „Italiener sein, verflucht! Ich hab es oft und oft versucht – es geht nicht” (FAZ vom 9. Oktober 2009).

Die in mehr als einer Hinsicht durchaus erotische Anziehung zwischen beiden Ländern hat weitreichende historische Wurzeln. Ist doch schon in der Kultur des Mittelalters Dantes „Divina Comedia“ ein beredtes Zeugnis für die Wertschätzung des deutschen Kaisers in Italien, und die Begeisterung des florentiner Dichters findet umgekehrt noch ihr deutsches Pendant in dem erstaunlichen Versuch Rudolf Borchardts zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das Opus Dantes in ein der Sprache des Florentiners nachempfundenes mittelalterliches Fantasiedeutsch zu übertragen, um darüber hinaus eine politisch-soziale Erneuerung Europas im Zeichen der italienischen (oder besser: toskanischen) „Villa“-Kultur zur Dantezeit zu empfehlen).

Aus Faszination und Befremden besteht der rote Faden feuilletonistischer Wahrnehmung zwischen Deutschland und Italien. Nicht selten wirkt auch Deutschland fremd und befremdend auf den italienischen Betrachter. Doch gerade die ,verfremdete‘ Perspektive bietet die Möglichkeit adäquater Einblicke in eine Realität, in der sich von Nahem leicht die Konturen verwischen.

Ein äußerst lesenswertes Beispiel liefert in dieser Hinsicht immer noch das „Tagebuch“ von Paolo Monelli über das Berlin und Deutschland der 1920er-Jahre, das unter dem Titel „Io e i tedeschi“ 1926 im Verlag Fratelli Treves in Mailand erschien. Im italienischen Buchhandel (sogar in den Bibliotheken) heutzutage nahezu unauffindbar, ist es dankenswerterweise kürzlich in deutscher Übersetzung von Willi Hirdt veröffentlicht worden (Paolo Monelli, „Ich und die Deutschen“, 2009).

Der Text basiert auf Artikeln, die Monelli in den 1920er-Jahren für die grossen italienischen Zeitungen „La Stampa“ und „Il Corriere della Sera“ geschrieben hatte. Er ist bei aller subjektiven Aufmachung („Dieses eigentümliche Tagebuch liegt ein wenig außerhalb von Zeit und Raum“) und dem durchweg ironisch-spielerischen Ton im Stil des Heine’schen Feuilletons, wie ihn bereits der Titel signalisiert, zweifellos ein bedeutender Beitrag auf dem Weg einer wirklichkeitsadäquaten Wahrnehmung der Weimarer Republik aus „fremder“ Perspektive. Gelingt es doch dem unmittelbaren Augenzeugen häufig, „sich ein umfassendes Bild zu machen und Urteile zu formulieren, die vom späteren Standpunkt des Historikers aus Bestand haben“ (so Willi Hirdt in seinem informativen Vorwort).

Trotz des eindringlich beschworenen Gefühls der Fremdheit des „melanchonischen Chronisten“ („Schon zuckt die Morgendämmerung auf, feucht, wenn die armen Menschen noch in den engen Zimmern schlafen, zusammengeknäuelt unter jenen Decken, welche der Stolz der deutschen Betten und die Verzweiflung der Ausländer sind, die darunter im Kampf mit drückender Hitze und Schlaflosigkeit liegen“) liefern Monellis Zeit-Bilder ein facettenreiches, schillerndes und zugleich realistisches Bild des Alltags in der Weimarer Republik. Aus der Sicht des Italieners werden aktuelle Probleme und Themen fokussiert, die auch im deutschen Feuilleton um 1925 zirkulieren. In manchem nähert sich Monellis Darstellung der Berichterstattung von Feuilletonisten wie Alfred Döblin. Auffällig ist z.B. die gemeinsame Aufmerksamkeit für die sich in der Verfärbung der Landesfahne verratende nationalistische Überfremdung der unter sozialdemokratischem Zeichen angetretenen Weimarer Republik: Beide Autoren bemerken beklemmt, wie sich die „verräterische, weiße [also nationalistische] Farbe“ in die Landesfarben der Weimarer Republik: Schwarz-Rot-Gold einschleicht, wie zuweilen gleichzeitig und am selben Gebäude beide Fahnen gehisst sind.

Vergleichbar ebenfalls die liberale Einstellung in der Diskussion um die Problematik der Homosexualität. In diesem Zusammenhang geht Monelli auf den Giftmordprozess Klein-Nebbe (1923) ein, der das Problem weiblicher Homosexualität ans Licht brachte und dem Alfred Döblin 1924 den Text „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord“ widmete – nach Monelli ein Prozess „gegen die Ehefrau, die ihren Mann umbrachte“ und eine derzeit fast einem Freispruch gleichkommende milde Haftstrafe bekommen hatte, weil bewiesen war, „daß sie es tat, weil sie sich in eine Frau verliebt hatte, sie, nicht er.“

Monelli thematisiert darüber hinaus andere Aspekte, die dem italienischen Betrachter befremdend, wenn nicht suspekt wirken, wie die deutschen Lebensreformbewegungen und Körperkulturinitiativen der 1920er-Jahre. So äußert er sich folgendermaßen über die ästhetisch „unendlich abstoßende“ FKK-Gemeinschaft Neusonnland am Motzener See: Für sie sei „Nacktheitskultur“ die Basis für die Entstehung eines „neuen Individuums“, dessen Wesen in der Freiheit liege – „frei, weil sie unbehost einherziehen.“

Das Spektrum von Monellis Berichterstattung reicht von scheinbar unbedeutenden individuellen Erlebnissen und Eindrücken – wie nicht seltenen Versuchen, der Reputation des Latin Lover bei jungen Berlinerinnen gerecht zu werden – bis zur präzisen, anekdotenreichen Schilderung der politisch labilen Lage zwischen linken und rechten Formationen in der Weimarer Republik, seit der im Sande verlaufenen Revolution 1918, mit detailgetreuen Ausblicken auf den Kapp- Lüttwitz-Putsch 1920 und den Münchner Hitlerputschversuch 1923 sowie mit (Charakter-)Portraits repräsentativer Politiker der Zeit: vom 1923 aus dem Exil zurückgehrten Kaiser, Hindenburg und Ludendorff bis zu Hitler.

Der Aufstieg Hitlers wird scharfsichtig unter die Lupe genommen und als „Phänomen Hitler“ in einzelnen nuancierten Facetten beleuchtet, die einen deutlichen Eindruck von der Gefährlichkeit und Bedeutung seiner Bewegung geben – angefangen bei den kriminellen Übergriffen des Kapp-Putsches über die antisemitischen Agitationen in der Öffentlichkeit bis hin zu der schnellen Ausbreitung des Nationalsozialismus in der breiten Bevölkerung, die Monelli auf die „prophetische“ Redebegabung Hitlers zurückführt. Bezeichnend die strikte Unterscheidung der deutschen Bewegung vom Faschismus Mussolinis, der den von Monelli zwar ironisch, aber umso effektiver gebranntmarkten menschenverachtenden Antisemitismus des deutschen Nationalsozialismus nicht kennt. Aufschlussreich in dieser Hinsicht auch die Warnung vor den antisemitischen Ausschreitungen und die Erörterung der Rassentheorien, wobei Monelli die Situation der Juden in Deutschland sowohl im Vergleich zu Polen als auch in Absetzung von der Lage in Italien analysiert.

Die Position Monellis hat bisweilen konservative Züge, so etwa wenn er beim Besuch der „deutschen Provinz“ spürbar aufatmet, und namentlich Städte wie Dresden, Salzburg, München Bonn, Köln gegen das ,Babylon‘ Berlin ausspielt, angesichts des „gute[n] Duft[es] der Vergangenheit […], lebendig an das gutmütige Deutschland erinnernd, das unseren klugen und ironischen Alten gefiel”. Oder wenn er sich über die Ausdehnung der Wahlberechtigung auf „die Unreifen […], die Frauen und die Jugendlichen [von 20 Jahren!]“ erregt, die aufgrund der „langsameren intellektuellen Entwicklung der nordischen Rassen“ den italienischen 17-Jährigen entsprächen.

Konservativ nimmt sich nicht zuletzt die satirische Schilderung „deutscher“ Gebräuche aus, aus denen sich mühelos Stereotypen deutscher Charaktereigenschaften herausfiltern lassen, wie den „Ordnungssinn“, die „Gründlichkeit“ und „Engstirnigkeit“: Umso eindrucksvoller wirkt sein Interesse für die literarische Szene der Avantgarde, in der er – mit treffenden Gedichtzitaten – die künstlerische Qualität einer Else Lasker-Schüler in einem eigenen „Intermezzo“-Kapitel würdigt, in dem er nebenbei seine persönliche Beziehung zur Dichterin preisgibt, oder auch den „perversen“ oder „homosexuellen“ Komödien eines Arthur Schnitzler oder Arnolt Bronnen zwar distanziert, aber nachdrücklich Achtung zollt.

Dass die Wahrnehmung der deutschen Realität durch den italienischen Betrachter keineswegs nur auf Distanz beruht, sondern dass der „Fremde“ in Berlin durchaus heimische Wurzeln geschlagen hat während seines rund fünfjährigen Aufenthaltes, verrät nicht zuletzt die Ahnung, die ihn bei seiner Rückfahrt in die „Heimat“ Italien erfasst: „Ich weiß [wenn ich mich wieder an das schönere Italien gewöhnt habe], daß ich […] anfangen [werde], für das deutsche Land etwas zu verspüren, was, sieh einmal an, sehr, ja sehr der Sehnsucht ähnelt.“

Titelbild

Paolo Monelli: Ich und die Deutschen.
Mit einer Einleitung von Willi Hirdt.
Übersetzt aus dem Italienischen von Willi Hirdt.
Romanistischer Verlag Dr. Hillen, Bonn 2009.
182 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783861431893

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