Wenn die Funken fliegen

Spannung, oder: Wie Elektrizität Literatur transformiert

Von Rupert GadererRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rupert Gaderer

Ein Mann betritt ein physikalisches Cabinet in Wittenberg. Zuvor wurde ihm die Anweisung erteilt, dass er eine „Venus“ zwar berühren dürfe, diese aber nur mit seinen Lippen. Jeglicher anderer Körperkontakt wurde ihm untersagt. Im Cabinet erblickt er eine Frau, die leicht erhoben auf einem Fußschemel steht, neben ihr einen Mann, der an einer Maschine kurbelt. Die „Venus“ bietet dem Besucher einen Kuss an. Langsam nähert er sich ihr, woraufhin die Kurbel immer schneller und schneller gedreht wird, ein leises Summen wird im Raum hörbar. Endlich scheinen sich die Lippen der „Venus“ und des Besuchers zu berühren, jedoch kurz bevor der Kuss stattfindet, passiert etwas, mit dem der elektrotechnische Laie nicht gerechnet hätte: Für einen Augenblick spannt sich ein Funke von Lippenpaar zu Lippenpaar und ein plötzlicher Schlag erschüttert beide Körper.

Was Georg Matthias Bose in seinem Lehrgedicht „Die Electricität nach ihrer Entdeckung und Fortgang mit poetischer Feder entworfen“ (1744) beschreibt, ist eine der extravagantesten Versuchsanordnungen aus dem Bereich der Elektrizitätslehre zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Für die Präsentation seiner „Venus electrificata“ positionierte Bose – Professor für Physik an der Akademie zu Wittenberg – eine junge Frau auf einem isolierten Schemel und lud ihren Körper mittels einer Elektrisiermaschine elektrostatisch auf. War die Frau solchermaßen elektrisch aufgeladen, so entlud sie Elektrizität, wenn sie berührt wurde. Nach der Elektrifikation verließ der Besucher das Cabinet, Bose ließ erneut das Schwungrad seiner Elektrisiermaschine rotieren, der weibliche Körper wurde abermals elektrostatisch aufgeladen, der nächste ahnungslose Mann betrat das Kabinett – das „Venusspiel“ begann von neuem.

Solche und ähnliche Versuchsanordnungen mittels elektrischer Spannung waren typisch für die im 18. Jahrhundert noch junge Elektrizitätslehre. Experimentatoren entwickelten neue technische Apparaturen, sie postulierten Theorien über das damals obskure physikalische Phänomen, ließen aus Menschen Funken fahren und erschütterten ganze Regimenter mit einer unsichtbaren Kraft. Bei diesen zumeist öffentlichen Experimenten in bürgerlichen und fürstlichen Salons, höfischen Sälen, Hinterzimmern oder Buden auf Jahrmärkten war der menschliche Körper das bevorzugte Darstellungsmedium, um die herkömmlich unsichtbare Elektrizität sichtbar zu machen. Stephen Gray etwa ließ einen jungen Knaben auf isolierenden Schnüren an der Decke seines Experimentierraums aufhängen, damit er waagrecht über den Boden schwebte. Mittels eines Glasstabs wurde der Knabe elektrostatisch aufgeladen, wodurch sein Körper kleine Gold- und Papierblättchen anzog. Sogar kleine elektrische Funken konnten aus seiner Nasenspitze gezogen werden.

Neben einer Vielzahl von diesen Spannungsexperimenten war es zudem die Konstruktion und Weiterentwicklung von Apparaturen und Instrumenten, die ein stetig größer werdendes Interesse an der Elektrizitätslehre auslöste. Zwei Apparaturen waren dafür wesentlich: Zum einen die Weiterentwicklung der Elektrisiermaschine, mit der immer größere Mengen elektrischer Energie erzeugt werden konnten. Zum anderen war es mit der so genannten Leidener oder Kleistschen Flasche möglich, Elektrizität zu speichern, um sie später abzugeben. Eine der bekanntesten Versuchsanordnungen mit dieser Apparatur geht auf Abbé Jean Antoine Nollet zurück. Er ordnete 180 Soldaten an, einen elektrischen Entladungskreis zu bilden. Hand in Hand standen diese vor den Augen König Ludwig XV., der beobachten konnte, wie sich ihre Körper scheinbar zeitgleich verkrampften und unwillentlich bewegten, als sie der Abbé mittels einer Leidener Flasche elektrisierte; kurz danach wurde dieses Experiment mit 700 Mönchen aus einem Kartäuser-Kloster durchgeführt. Trotz dieser und anderer Weiterentwicklungen waren sich Experimentatoren über das eigentliche Wesen der elektrischen Spannung noch weitgehend uneinig. Ausfluss, Agens, Dunst oder Fluidum waren Begriffe für ein Phänomen, dessen tatsächliche physikalische Definition erst im 19. Jahrhundert gelang.

An der notorischen Epochenschwelle um 1800, die so wesentlich für die Ausdifferenzierung der „zwei Kulturen“ war, waren es gerade Schriftsteller, die sich für Möglichkeiten und Grenzen der Elektrizitätslehre interessierten. Autoren wie Friedrich von Hardenberg (Novalis), Heinrich von Kleist, Achim von Arnim, Jean Paul oder E.T.A. Hoffmann verfolgten die naturwissenschaftlichen Debatten ihrer Zeit und inszenierten elektrotechnisches Wissen in ihren Dramen, Erzählungen, Märchen und Romanen. Mit diesen Verbindungsversuchen zwischen Naturwissenschaft und Poesie betrat um 1800 eine neue Figur die fiktive Experimentalbühne Literatur: Der Mensch wird nicht mehr als Maschinen-Mechanismus – als Zusammenspiel aus Kegeln, Pumpen, Hebeln und Zahnrädern – begriffen, sondern als elektrisches System, als Homo electrificatus.

Dieses Körperkonzept lässt sich in Novalis Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) finden. Die Figuren in dem von Klingsohr erzählten Märchen formieren sich aus dem Wissen über elektrische Phänomene, Apparaturen und Verfahren. So wird Freya elektrostatisch aufgeladen, damit sie später ihre Elektrizität an den alten Helden abgeben kann. Die Übertragung ihrer Elektrizität führt zu einer Reanimation der Körperkräfte des alten Helden: „eine durchdringende Kraft beseelte seinen Körper. Seine Augen blitzten und das Herz pochte hörbar an den Panzer.“

Diese elektrische Erweckungen und Belebungen, wie sie Novalis auch mit (und an) Julie von Charpentier durchführte, partizipieren an dem zeitgenössischen medizinischen Wissen über Elektrizität. Medizinische Electrisierer – so ihre Selbstbezeichnung – glaubten um 1800 an eine neue Behandlungsmethode zur Heilung fast sämtlicher Krankheiten. Sie elektrisierten ihre Patienten an allen erdenklichen Körperteilen, um eine angenommene elektrische Disharmonie der menschlichen Körper in eine elektrische Harmonie zu verwandeln. Der einflussreiche Diskurs über Elektrizität beginnt ab der Mitte des 18. Jahrhunderts festzulegen, was der Körper sei, wie er funktioniere, was ihn am Leben erhalte und umbringe. Als élan beziehungsweise force vitale, als Lebensfunke, vermag Elektrizität Kranke zu heilen, Schwache zu stärken und Tote wiederzubeleben.

Novalis vereinigte aber auch Elektrizität und Dichtung im Sinne einer transzendentalen Poetik. Die Erforschung der Elektrizität sollte sich nach ihm nicht durch Detailuntersuchungen spezialisierter Wissenschaftsfelder aufhalten, sondern umfasse alle Wissensbereiche, wobei dies auch jene berühre, die außerhalb der Naturwissenschaften angesiedelt waren. Novalis bringt dies auf einen Punkt, wenn er schreibt, dass „Poèten […] Isolatoren und Leiter des poëtischen Stroms zugleich“ seien. Es handelt sich um eine neue Physik der Poesie, wie Michael Gamper hinsichtlich Novalis in seiner unlängst erschienen Studie „Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740-1870“ treffend bemerkt. Poesie nimmt dabei an der Formulierung von elektrischem Wissen teil und lässt darüber hinaus eine neue Interaktion des Sprach- und Bedeutungsmaterials nach elektrischen Gesetzen hervorgehen. Elektrizität wird hier nicht alleine auf ihre Auswirkungen auf Literatur hin gedacht. Novalis Projekt einer „Electrologie“ lässt deutliche Spuren spezifischer Inhalte und Verfahren der Poesie erkennen. Dies bedeutet, dass Literatur selbst an der Ausgestaltung des zeitgenössischen Wissens über Elektrizität entscheidend Anteil hat. Elektrizität verändert nicht alleine Literatur, sondern Literatur verändert ihrerseits das Wissen über Elektrizität.

Im Jahr 1799 immatrikulierte sich ein junger Mann in Frankfurt an der Oder für die Fächer Naturrecht, Mathematik, Kulturgeschichte, Latein und Physik: Heinrich von Kleist. Er besuchte die Kollegien von Professor Christian Ernst Wünsch, in denen die populäre Experimentalphysik, gelehrt wurde und unterrichtete sich selbst über die Elektrizität in dessen Werk „Kosmologische Unterhaltungen für junge Freunde der Naturerkenntniß“ (1791-1794). Darüber hinaus waren für Kleist ebenso Konzepte der elektrischen Spannung von Interesse, wie er sie aus Abhandlungen über den animalischen Magnetismus kannte. Auch seine Besuche von Gotthilf Heinrich Schuberts Vorlesungen in Dresden über die „Nachtseite der Naturwissenschaften“ und dessen naturphilosophische Schriften waren für seine Auseinandersetzung mit der Elektrizitätslehre wesentlich. Die bereits erwähnte Leidener Flasche sowie elektrische Phänomene waren für seine Konzeptualisierung des Sprechens und seine literarische Inszenierung affekttheoretischer Umbrüche in „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (1805 / posthum 1878) und in „Allerneuester Erziehungsplan“ (1810) von zentraler Bedeutung. Auch in den Dramen „Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe“ (1807–08) und „Penthesilea“ (1808) sowie in den Erzählungen „Der Findling“ (1811), „Das Erdbeben in Chili“ (1810) und „Michael Kohlhaas“ (1810) rief er für die Interaktion seiner Protagonisten Diskurse über die Polarität elektrischer Größen auf. Zudem lässt in seinem literarischen Œuvre eine Auseinandersetzung mit der Gewitterelektrizität feststellen. Blitze ziehen sich nicht lediglich als Motive durch seine Dramen und Erzählungen, sondern ebenso basierten seine poetologischen Formulierungen – wie etwa in der Kurzprosa „Der Griffel Gottes“ (1810) – auf atmosphärische Auf- und Entladungen.

Als elektrische Dichter erweisen sich auch Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. In seinem literarischen Werk verwendete Jean Paul Vergleiche, Bilder und Metaphern, die sich an den (großteils) humoristischen Spannungsvorführungen, wie jener „Venus electrificata“ durch Bose, orientierten. Er nutzte die Möglichkeit, psychologische Vorgänge, soziale Darstellungen sowie erotische und sexuelle Chiffren mittels elektrischer Diskurse zu inszenieren. Vor allem in seiner „Vorschule der Ästhetik“ (1804) lässt sich dies hinsichtlich elektrostatischer und galvanischer Erkenntnisse beobachten.

Auch in E.T.A. Hoffmanns literarischem Werk sind eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Protagonisten durch elektrische Ent- und Aufladungen zeitweilig der Kontrolle ihrer Sinne beraubt. Darüber hinaus sollen elektrische Schläge, in der Imagination des Autors, seine Leser und Leserinnen erfassen. Während der Lektüre seiner Werke sollen sie elektrifiziert werden. Konkret wird dieser Entladungsprozess während des Lesens in einer ausführlichen Apostrophe in „Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit“ (1814) angesprochen. Hier wird intendiert, dass die geschilderten Geschehnisse wie ein „elektrische[r] Schlag […]“ in die Lesenden einfahren sollen, damit alle ihre „[…] Fibern und Nerven“ erzittern. Und auch in „Der Sandmann“ (1815) wird dies formuliert, wenn die Beschreibungen „alles Wunderbare[n], Herrliche[n], Entsetzliche[n], Lustige[n], Grauenhafte[n]“ wie „ein elektrischer Schlag“ die Lesenden treffen soll. Als temporär willenlos und gebannt, wie ein organischer Körper, an dem Elektrizität entladen wird, als Homines electrificati figuriert der Autor seine Leser und Leserinnen. Gleichermaßen wird die Narration selbst zur aufgeladenen Quelle, die sich während des Lesens entlädt und die Lesenden schockartig elektrifizieren soll.

Boses „Venus electrificata“ steht am Anfang einer diskursiven Verbindung von Liebe, Erotik, Sexualität und Elektrizität. Zumindest in der Literatur um 1800 wird unter dem Deckmantel einer technischen Sprache, die von Sexualität gesäubert scheint, mit jedem elektrischen Schlag indirekt über Sexualität und sexuelles Begehren gesprochen. Dies lässt sich aber nicht alleine auf das frühe 19. Jahrhundert beschränken. Weit über es hinaus bleibt dieses Verhältnis erhalten, da sich die Sprache der Liebe und des erotischen Begehrens an Phänomenen der Elektrizitätslehre orientieren. Erinnert sei hier lediglich an einen jungen Arzt aus Wien, der noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Jean-Martin Charcots Hôpital Salpêtrière in Paris sah, wie Frauen, die mit der Bezeichnung „Hysterikerinnen“ etikettiert wurden, elektrisch behandelt wurden. Er studierte auch selbst Wilhelms Erbs „Handbuch der Elektrotherapie“ (Leipzig 1822, 12. Auflage 1886) und elektrifiziert bis 1888 seine Patientinnen. Auch wenn Sigmund Freud schließlich sämtliche elektrische Apparaturen der Medicina electrica aus dem Behandlungszimmer des Psychoanalytikers verbannt hat, elektrische Auf- und Entladungen bleiben in der Rhetorik und im Vokabular der Psychoanalyse zurück. Ausgehend von Freuds Begriffen „Energiemenge“, „Energiespannung“ und „–entladung“, die von ihm mentalen Kräften zugeordnet wurden, ließe sich auch das 20. Jahrhundert als ein Jahrhundert des Homo electrificatus beschreiben; dies bleibt aber einstweilen ein Desiderat der Literatur- und Kulturwissenschaften.

Bibliographie

Thomas Anz: Spannung durch Trennung. Über die literarische Stimulation von Unlust und Lust. In: Trennungen. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Bd. 13. Hg. v. J. Cremerius. Würzburg 1994, 17-33.

Georg Matthias Bose: Die Electricität nach ihrer Entdeckung und Fortgang mit poetischer Feder entworfen. Wittenberg 1744.

Jürgen Daiber: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen 2001.

Hans Esselborn: Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls. Tübingen 1989.

Rupert Gaderer: Poetik der Technik. Elektrizität und Optik bei E.T.A. Hoffmann. Freiburg/Br. 2009.

Michael Gamper: Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740-1870. Göttingen 2009.

Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Hamburg 1968.

Oliver Hochadel: Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung. Göttingen 2003.

Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München 2004.