Rehabilitierung der Polemik

Walter Benjamin als Literaturkritiker und Rezensent

Von Heinrich KaulenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Kaulen

Nicht zu vergessen, daß die Kritik, um etwas zu leisten, sich selber unbedingt bejahen muß. Ja, vielleicht muß sie – man denke an die Theorien der Brüder Schlegel, – sich selber den höchsten Rang geben.

Walter Benjamin

Neue Perspektiven auf ein kanonisiertes Werk

In seinen Thesen zum „Programm der literarischen Kritik“ (1929/30) zitiert Benjamin Ludwig Börne mit dem Satz, wer die Deutschen „zum Guten hinziehen“ wolle, „der thue ja nichts, sondern schreibe, und wer seines Erfolgs gewisser sein will, der recensire.“ „Wie nachhaltig“, fügt Benjamin sarkastisch hinzu, „müssen sich die Zeiten geändert haben“.

Tatsächlich haben Rezensionen als literarische Gebrauchsformen, die an der Schnittstelle von Kulturwissenschaft, Belletristik und Journalismus angesiedelt sind und sich an pragmatischen Zwecken sowie der Forderung nach Aktualität orientieren, es bis heute schwer, ihre Geltung über den Tag hinaus zu behaupten. Obwohl es seit Lessing und den Brüdern Schlegel prominente Gegenbeispiele gibt, gelten Rezensionen immer noch als bloße Epitexte und nicht als eine der Literatur ebenbürtige Form sui generis. Auch in der Benjamin-Rezeption nach 1945 haben sie anfangs allenfalls eine periphere Rolle gespielt. So lange es in erster Linie darum ging, den Autor als Zentralfigur der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu etablieren, konnte die allzu starke Betonung seines publizistischen Tagesgeschäfts nur hinderlich sein. Vor allem Theodor W. Adorno legte Wert darauf, seinen Freund vor der missverständlichen Fixierung auf „das Cliché des Essayisten“ und Feuilletonisten zu bewahren. Erst der von Hella Tiedemann-Bartels herausgegebene dritte Band der „Gesammelten Schriften“ hat Benjamins Besprechungen, die bis dato überwiegend in alten Zeitungen oder in Archiven verborgen geblieben waren, in ihrer ganzen Breite erschlossen und einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Durch die Separierung von ihren ursprünglichen Publikationskontexten und die Zusammenstellung in Buchform wurde den Rezensionen hier erstmals ein Werkcharakter zugesprochen. „Das Bild des Rezensenten Benjamin wird durch diesen Band überhaupt zum ersten Mal ins volle Licht gehoben“, konstatierte Gershom Scholem nach Erscheinen des Bandes im Jahr 1972 zu Recht. Die Edition hat in der Tat die Rezensionen und Kritiken Walter Benjamins wieder ins kulturelle Gedächtnis zurückgeholt und damit eine einzigartige postume Rezeption ausgelöst, wie sie wohl nur im Kontext des politischen Aufbruchs nach 1968 möglich gewesen ist. Dies bleibt ihr großes und unwiderrufliches Verdienst. Die Arbeit, die bei der Zusammenstellung des umfangreichen Textkorpus, der Einrichtung für den Druck und der Ermittlung von Nachweisen zu leisten war, kann angesichts des fast vollständigen Fehlens aller Vorarbeiten nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Ausgabe von 1972 legte die Grundlagen für die Kanonisierung Benjamins als Klassiker der modernen Literaturkritik, die seine Wirkungsgeschichte bis heute nachhaltig prägt.

Benjamin war zeitlebens ein unorthodoxer Kritiker zwischen den Disziplinen, der sich von der Verengung und doktrinären Erstarrung bornierter Fachdiskurse freimachte und sich, von welcher Seite auch immer, keinerlei Denkverbote, methodische Fesseln oder dogmatische Geltungsregeln aufzwingen ließ. Er schätzte die Rezension als Genre gerade deshalb, weil sie ihm im „lockere[n] Hin und Wieder“ der „Reflexionen“ die Gelegenheit zu verblüffenden Einsichten und provokant zugespitzten Thesen bot. Als offene Form eröffnete sie die Chance zu einem ungezwungenen Diskurs, der weder straff disziplinär organisiert noch thematisch limitiert oder methodisch in irgendeiner Weise reguliert war. Gerade in dieser Emanzipation von institutionalisierten Zwängen – und nicht in der Vereinnahmung als Leitfigur einzelner akademischer Disziplinen – liegen auch für die Wissenschaft die provokativen Anstöße und weiterführenden Impulse, die von seinem Denken bis heute ausgehen.

Benjamin war, so zeigt sich, zu Lebzeiten zwar niemals institutionell abgesichert, aber entgegen einer verbreiteten Ansicht keineswegs isoliert. Er war vielmehr in den meisten Lebensphasen in ein relativ dichtes und heterogenes Netzwerk von Freundschaften, Kommunikationspraktiken und Arbeitskontexten integriert, die oft bis ins Detail rekonstruiert werden können. Mit vielen von ihm rezensierten Autoren stand er in persönlichem Kontakt, mit seinen Gegenständen verband ihn in der Regel ein intrinsisches theoretisches Erkenntnisinteresse. Oft entstanden seine Besprechungen in Absprache mit den Redakteuren oder im Dialog mit Gesprächspartnern aus seinem Freundeskreis. Vielfach fanden sie auch schon zu Lebzeiten ein Echo, sowohl in diesem persönlichen Umfeld als auch bei den rezensierten Autoren, und in einigen Fällen auch eine erste publizistische Resonanz. Wie wichtig ihm diese Reaktionen gewesen sind, hat Benjamin in seinen Briefen immer wieder betont. In diesen Konstellationen bereitete sich in der meist auf einen noch kleinen Kreis von Kennern beschränkten Wertschätzung und internen Hierarchisierung jene externe Hierarchisierung vor, die einige Jahrzehnte später in seiner Kanonisierung als Klassiker der Literaturkritik, scheinbar überraschend, nach außen tritt.

Das seit Ende der 1960er-Jahre etablierte und zur Identifikation einladende Stereotyp des sozial vereinsamten, lebensunfähigen und melancholisch scheiternden Linksintellektuellen, der seinen Geldgebern angeblich ohnmächtig ausgeliefert war und an der fatalen Übermacht der Verhältnisse zerbrechen musste, ist vor dem Hintergrund dieser sozialen Vernetzung wenn nicht völlig zu revidieren, so doch zumindest in erheblichen Teilen zu relativieren. Auch hier werden die Konturen eines neuen und anderen Benjamin-Bildes sichtbar, das sich von dem bisher verbreiteten mehr als nur in Nuancen unterscheidet. Die Praxis des Rezensenten Benjamin zeigt an vielen Stellen einen sehr wohl pragmatisch und kalkuliert handelnden, ebenso professionellen wie beweglichen Intellektuellen, der über ein ganzes Spektrum von Gesprächspartnern und Anschlussstellen verfügte, Abhängigkeiten von einzelnen Personen durch Beziehungen zu anderen kompensierte, sich seines geistigen Rangs wie seines Status bewusst war und für die Redaktionen, in deren Auftrag er arbeitete, alles andere als einen bequemen Verhandlungspartner darstellte.

So lange es die politischen Zustände und seine Lebensumstände erlaubten, hat der Publizist Benjamin mit gewissem Geschick und Erfolg als „Stratege im Literaturkampf“ operiert. Er hat effiziente Strategien der Arbeitsorganisation praktiziert und seine eigenen Interessen auch bei Rückschlägen meist geradlinig weiterverfolgt, war er doch, wie es in einem Brief aus dem Juli 1933 heißt, durchaus erfahren in der „höchst durchtriebenen, klugen und raffinierten Lebenskunst, die dahin führt dem eigenen Malheur die Chancen […] abzugewinnen“. Er kannte sich in den publizistischen Kontexten und in den zeitgenössischen Medienensembles, speziell im Journalismus und im sich allmählich etablierenden Rundfunk, gut aus und beherrschte, wie etliche Beispiele zeigen, auch Strategien der effektvollen Selbstpositionierung, der Mehrfachverwertung und des Medienwechsels, insbesondere im Blick auf den Transfer zwischen den Printmedien und den im 20. Jahrhundert neu aufkommenden Massenmedien. Er besaß darüber hinaus ein scharfes Gespür für die sich anbahnenden Medienumbrüche und war ein hellwacher Beobachter der Literaturszene, nicht nur in Deutschland, sondern besonders auch in Frankreich und Russland.

Hinter dem zum Klischee erstarrten Leitbild des von einer Bredouille in die andere geratenden Melancholikers, das Benjamin mit einer unverkennbaren Neigung zur Selbststilisierung in finsteren Zeiten gelegentlich selbst bemüht hat, ist der versierte Journalist, der angriffslustige Publizist und der nicht selten geschickt taktierende Medienpraktiker neu zu entdecken. Zudem zeigt erst die historische Kontextualisierung, wie eng der Literaturkritiker Benjamin tatsächlich mit den geschichtlichen Auseinandersetzungen und politischen Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts verflochten gewesen ist. Seine intellektuelle Entwicklung kreuzte sich immer wieder mit Personen aus den gegensätzlichsten ideologischen Lagern, an denen wie in einer historischen Abbreviatur zentrale Kraftfelder der kulturellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurse in der ersten Jahrhunderthälfte ablesbar werden.

Das Werk als Prozess: Von den ersten bibliografischen Notizen bis zur Weiterverwendung der Rezensionen

Benjamins Arbeitsprozess an den Rezensionen beginnt lange vor der eigentlichen Niederschrift, und er ist, falls es zu einer Veröffentlichung kommt, auch mit dem Druck in einer Zeitung noch lange nicht beendet.

Am Beginn entstehen bibliografische Verzeichnisse, wie sie sich, ähnlich dem „Verzeichnis der gelesenen Schriften“ und anderen themenbezogenen oder chronologisch geordneten Titellisten, in Benjamins Nachlass in beträchtlicher Anzahl erhalten haben. Etliche der in diesen Verzeichnissen geführten Buchtitel hat Benjamin später besprochen, was darauf hinweist, dass er die Listen nicht nur bei Literaturrecherchen oder zur Sichtung von Neuerscheinungen verwendet hat, sondern auch als Orientierungshilfe bei seinen Verhandlungen mit den Zeitungsredaktionen zu Rate gezogen haben dürfte. Informationen über wichtige Neuerscheinungen bezog er aus der regelmäßigen Durchsicht der Rubrik „Büchereinlauf“ im „Literaturblatt der Frankfurter Zeitung“ sowie aus den Verlagsanzeigen und der „Bibliographie der Woche“ in der „Literarischen Welt“. In vielen Fällen besaß Benjamin bei der Auswahl der zu rezensierenden Titel nachweislich ein Vorschlags-, mindestens aber ein Mitspracherecht. Dies galt vor allem dann, wenn er mit den Herausgebern oder verantwortlichen Redakteuren persönlich bekannt war. In anderen Fällen war das Thema der in Aussicht genommenen Besprechung von vornherein auf seine wissenschaftlichen Interessens- und Arbeitsgebiete zugeschnitten. Nur selten musste er einen Auftrag übernehmen, zu dem er überhaupt keinen persönlichen oder fachlichen Zugang besaß. In einigen Fällen waren es wohl auch primär finanzielle Erwägungen oder die Aussicht auf kostspielige Rezensionsexemplare, die bei der Übernahme des redaktionellen Auftrags den Ausschlag gaben. Vor allem am Beginn des Exils war der Wunsch, die eigene „kleine Handbibliothek“ zu vermehren, nicht unwichtig für die zeitweilige Konzentration auf „die subalterne Form des Bücherreferates“. Die Regel war dies aber keineswegs. Die Vorstellung, Benjamin habe zur Sicherung seines Lebensunterhalts unter dem Diktat seiner Auftraggeber widerwillig sachfremde Aufgaben übernehmen müssen, für die er sich gar nicht interessierte, deckt sich nicht mit den Fakten. Auch die Rezensionsverzeichnisse, in denen er die von ihm geplanten Buchbesprechungen fixiert hat, belegen seine aktive Mitwirkung beim Zustandekommen der meisten Rezensionsprojekte.

Mit dem Erhalt der Rezensionsexemplare tritt der Arbeitsprozess dann in die nächste Phase. Während Benjamins Bibliothek ansonsten, abgesehen von Teilen der Kinderbuchsammlung, als verschollen gelten muss, konnten bei den Vorarbeiten zu dieser Edition zwei dieser Exemplare – das Buch von Lawrence Ecker sowie die „Sammlung deutscher Balladen von Bürger bis Münchhausen“ – in Brechts Bibliothek aufgefunden werden. Zwei weitere, die Benjamin zur Vorbereitung des „Pariser Briefs“ über Malerei und Fotografie genutzt hatte, wurden zumindest zeitweilig im Zentralen Moskauer Sonderarchiv aufbewahrt, bevor sie von dort an andere, bislang unbekannte Institutionen weitergegeben wurden. Benjamin hat diese Ansichtsexemplare getreu seiner Devise aus der „Technik des Kritikers in dreizehn Thesen“, man könne gegen ein Buch umso besser polemisieren, „je weniger man es studierte“, mitunter nur flüchtig durchgesehen, in vielen anderen Fällen aber anscheinend sehr konzentriert und intensiv studiert. Von dieser Lektüre haben sich vielfach mehr oder weniger umfangreiche Exzerpte erhalten, die von bloßen Stichwort- oder Inhaltsverzeichnissen über Notate wichtiger Zitate und Thesen bis zur kommentierten Wiedergabe von Schlüsselstellen und zu ersten tastenden Formulierungsentwürfen für die spätere Besprechung reichen. Man muss davon ausgehen, dass von diesen Exzerpten wie generell von den Aufzeichnungen und Entwürfen nur ein Bruchteil – nicht selten zufällig auf der Rückseite anderer Manuskripte – überliefert worden ist. Benjamin bewahrte sie offenbar nur dann gezielt auf, wenn ihm ein Buch besonders bedeutsam erschien, wichtige Gedanken keinen Eingang in die Endfassung gefunden hatten oder wenn er mit dem Thema noch weitergehende Arbeitsprojekte verband, für die er auf die von ihm archivierten Notizen zurückgreifen wollte.

Ursprünglich dürften die handschriftlichen Notizen und Entwürfe daher einmal in sehr viel größerer Zahl vorhanden gewesen sein als heute, und es ist nicht auszuschließen, dass künftig einige weitere Handschriften dieser Art aus gegenwärtig noch nicht bekannten Beständen auftauchen werden. Was bislang davon erschlossen ist, reicht indessen als Modell allemal aus, um eine präzise und anschauliche Vorstellung von den Arbeitsmethoden des Rezensenten zu gewinnen. Als Beispiel sei auf die Exzerpte zu Karl Hobrecker, Karl Gröber, Max Kommerell, Max Dauthendey, Josef Körner oder Georges Salles verwiesen. An ihnen lässt sich bis ins Einzelne studieren, wie Benjamin die Leseeindrücke seiner ersten Lektüre weiter verwertet und die von ihm fixierten Zitate und Gedanken in seinen Besprechungen fruchtbar gemacht hat.

Auf die Lektüre und die sie begleitenden Aufzeichnungen und Exzerpte folgten erste Formulierungsversuche und die erste Niederschrift, oft in mehreren Anläufen, sowie, falls erforderlich, die anschließende Reinschrift. Dass Benjamin, wie er 1932 schrieb, sich angewöhnt habe, „Feder und Hand mir für die paar wichtigen Gegenstände zu reservieren“, und stattdessen „das laufende Zeug für Rundfunk und Zeitung in die Maschine quatsche“, trifft, wie der Blick in die erhaltenen Manuskripte zeigt, in dieser Generalisierung für einen Großteil der Rezensionen nicht zu. Die Materialität der Handschrift und „der eingewurzelte Trieb, etwas Gutes hinstellen zu wollen“, spielten auch bei diesen Texten durchaus eine Rolle. In ihnen ist ein Kritiker am Werk, der in vielen Fällen sehr konzentriert und sorgfältig arbeitete und an seinen Formulierungen, suggestiven Bildern und Pointen so lange feilte, bis sie mit „Feder und Hand“ einen gültigen sprachlichen Ausdruck gewonnen hatten. Die gedankliche Brillanz und stilistische Gewandtheit der literaturkritischen Arbeiten Benjamins verdanken sich, wie die Entwürfe und Fassungen zeigen, keineswegs nur seiner Begabung oder der Inspiration des Augenblicks, sondern mehr noch der eindringlichen Auseinandersetzung mit der Sache und der ausdauernden Arbeit an einem ihr angemessenen sprachlichen Begriff. So haben sich von etlichen Rezensionen zumindest Teile von handschriftlichen Entwürfen erhalten, von einigen – wie zum Beispiel von der zu Theodor Haecker, Friedrich Heinrich Jacobi, Fritz von Unruh oder zum „Pariser Brief“ über „Malerei und Photographie“ – auch die vollständige Niederschrift. Besonders gut ist die Quellenlage für das Ende der 1920er-Jahre, weil im sogenannten „Pergamentheft“, das Benjamin zwischen 1928 und 1930 geführt und später Alfred Cohn vermacht hat, auch zahlreiche Entwürfe seiner Buchbesprechungen zum ersten Mal fixiert sind.

Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass der Kritiker nicht immer die gleiche Sorgfalt walten ließ. Es gibt ein kleines Korpus von – sehr kurzen und lakonischen – Besprechungen, die dem journalistischen Tagesgeschäft zugeordnet werden können. Benjamin beschränkte sich in diesen Fällen auf ein knappes Resümee des Inhalts, für das er lediglich das Inhaltsverzeichnis oder die Einleitung paraphrasierte, und illustrierte seine Inhaltswiedergabe mit dem einen oder anderen Zitat. „Durch Glossierung wie auch durch Zitate allein lassen sich sehr gute Kritiken mach[en]“ heißt es im „Programm der literarischen Kritik“. Diese Kurzbesprechungen, die eher Anzeigen als Rezensionen im engeren Sinn darstellen und gleichsam „mit der linken Hand“ skizziert worden sind, zeigen Benjamin nicht als Klassiker der Literaturkritik, wohl aber als erfahrenen Routinier, der sich mancher Pflichten effektiv und mit dem geringsten Aufwand entledigte.

In der Regel hat Benjamin nicht das Manuskript, sondern ein nach Diktat erstelltes Typoskript an die Redaktionen weitergeleitet. In den Verlagsdruckereien wurden diese Typoskripte nach Fertigstellung des Drucksatzes zumeist nicht aufbewahrt, so dass vieles auf Dauer verloren gegangen ist. Eine Ausnahme bildet die Redaktion der „Zeitschrift für Sozialforschung“, die Benjamins maschinenschriftliche Fassungen teilweise archivierte oder an ihn zurücksandte. Erhalten sind auch die Typoskripte der meisten Rezensionen, die nicht im Druck erschienen sind. Diese Fassungen weisen in unterschiedlichem Maß typische Diktat- und Abschreibfehler auf. Im Normalfall wurden sie von Benjamin nochmals durchgesehen und handschriftlich korrigiert. In welchem Korrekturstand sich die Druckvorlagen zum Zeitpunkt der Übergabe an den Verlag befunden haben, ist nach heutigem Kenntnisstand in der Regel nicht mehr mit Sicherheit auszumachen. Oft überlagern sich die Korrekturen mit solchen von fremder Hand (sofern diese sicher als solche zu identifizieren sind) oder mit Ergänzungen aus späteren Arbeitsphasen, so dass Entstehungs- und Überlieferungsvarianten nicht immer strikt unterschieden werden können. Zudem sind die Korrekturen nur selten konsequent durchgeführt und weichen je nach Typoskript teilweise erheblich voneinander ab.

Ein von den Zufällen und Verzerrungen der Überlieferung freies „Original“, das der Publikation der Rezensionen ursprünglich zugrunde gelegen haben mag, ist daher selbst aus den explizit als „Handexemplar“ deklarierten Typoskripten meist nicht mehr zuverlässig zu rekonstruieren. Jede Rekonstruktion dieser Art ist ein postumes editorisches Konstrukt, bei dem offen bleiben muss, in welchem Maß es die – selbst nur auf dem Weg hermeneutischer Konstruktion zu eruierenden – Intentionen des Autors bei der Drucklegung tatsächlich wiedergibt oder nicht. Erschwert wird eine solche Rekonstruktion auch durch den Umstand, dass die Druckfahnen bei den Rezensionen normalerweise nicht überliefert worden sind. Bei den hier edierten Texten sind sie überhaupt nur ein einziges Mal – bei der Besprechung von Karl Gröbers „Kinderspielzeug aus alter Zeit“.

Es war Benjamins Strategie, wie er 1931 an Scholem schrieb, „alles, was ich verfasse – von einigen Tagebuchnotizen abgesehen – um jeden Preis zum Druck zu befördern“. Bei seinen Rezensionen ist ihm das zwar nicht immer, aber zumindest bis zum Ende der Weimarer Republik doch zum überwiegenden Teil gelungen. Ablehnungen durch die Redaktionen hielten sich in Grenzen; erst nach der Gleichschaltung der Presse, die sich ab Mitte 1932 abzuzeichnen begann, häuften sich seine Klagen über Willkür und Machtlosigkeit. Grundsätzlich darf man sich die Publikationsgeschichte von Benjamins Œuvre nicht als einen linearen, konfliktfreien und harmonischen Prozess vorstellen. In manchen Fällen zog Benjamin von sich aus die Veröffentlichung zurück, weil es Streit um das Honorar gab oder er die inhaltlichen Einwände, Kürzungen und Änderungswünsche nicht akzeptieren konnte. Bei anderen Konflikten verhielt er sich flexibel und taktisch geschickt, ohne deshalb opportunistisch zu agieren. Plausible Hinweise der Redakteure und Korrekturvorschläge von Freunden berücksichtigte er bei seinen Überarbeitungen.

Auch wenn eine Besprechung aus inhaltlichen Gründen oder wegen ihres Umfangs auf Widerstand stieß, bestand Benjamin – zumal wenn ihm an der Publikation persönlich viel gelegen war – keineswegs immer hartnäckig auf seinem Standpunkt. Bei der Druckfassung der Rezension zu Grete de Francesco erklärte er sich gegenüber der „Zeitschrift für Sozialforschung“ mit weitreichenden Kürzungen einverstanden, bei der zu Gisèle Freund kam er der endgültigen Ablehnung derselben Redaktion durch von ihm selbst vorgenommene, einschneidende Änderungen am ursprünglichen Typoskript zuvor. Ließen sich Konflikte auf solchen Wegen nicht entschärfen, griff Benjamin zu seinem letzten Mittel und bot den Text, mitunter leicht modifiziert, einfach einer anderen Zeitschrift an.

Die veröffentlichten, aber auch die unpublizierten Beiträge wurden von Benjamin, nicht anders als seine übrigen Schriften, mit „archivalische[r] Exaktheit“ verwahrt und katalogisiert. Dazu führte er ein privates Archiv, das durch die Sammlungen seiner Freunde – vor allem die Gershom Scholems in Jerusalem, aber auch um die kleineren Sammlungen anderer Vertrauter wie Hannah Arendt oder Martin Domke – ergänzt und komplettiert wurde. Die dort nahezu vollzählig konservierten Belegexemplare und Zeitungsausschnitte, die unter anderem dem Zweck dienten, sich „zu vergewissern, daß der Abdruck wortgetreu vorgenommen worden ist“, wurden in vielen Fällen von Benjamin handschriftlich datiert und weisen vielfach weitere Korrekturen und Zusätze auf. Für diese nachträglichen Korrekturen und Ergänzungen auf den Drucken gilt dasselbe wie für die Überarbeitung der Typoskripte: Sie sind weder vollständig und konsequent noch auf dieselbe Weise durchgeführt worden und können daher nur sehr begrenzt als Grundlage der Textkonstitution dienen. Zudem ist ihre Erhaltung letztlich nur den kontingenten Umständen des Überlieferungsprozesses zu verdanken. Wurden zufällig keine nachträglichen Korrekturen vorgenommen oder sind diese, aus welchen Gründen auch immer, nicht überliefert, bleibt ohnehin nur der Rückgriff auf die veröffentlichte Fassung als einzige Basis der Textkonstitution.

Nochmals wird deutlich, dass wir es bei Benjamins Rezensionen nicht mit einem abgeschlossenen Werk, sondern mit einem ‚work in progress‘ zu tun haben, das auch mit der Veröffentlichung der Texte keineswegs zu einem Stillstand gekommen ist. Der Kritiker hat vielmehr unablässig daran weitergearbeitet – in nicht wenigen Fällen mit der Absicht, unzulässige Eingriffe der Redakteure beziehungsweise Missverständnisse, Auslassungen oder Druckfehler der Setzer zu revidieren, in anderen Fällen aber auch zwecks Selbstkorrektur und Ergänzung seiner eigenen Vorlagen, wobei beide Arbeitsabläufe nicht immer klar voneinander zu trennen sind.

Zum Prozesscharakter der Rezensionen gehört schließlich auch, dass Benjamin nach der Publikation wiederholt ganze Passagen oder einzelne Formulierungen aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und, teilweise Jahre später, als Bausteine in anderen Zusammenhängen weiterverwendet hat – sei es als Selbstzitat in anderen Publikationen, per Medientransfer in seinen Rundfunkbeiträgen oder als Keimzelle für spätere Arbeitsprojekte. Bei anderen Rezensionen hat er Umdispositionen und Überarbeitungen vorgenommen, um sie für Vorträge oder Buchveröffentlichungen verwerten zu können. Etliche in den Rezensionen nur en passant formulierte Einsichten gehen auf diese Weise transformiert und weiterentwickelt in andere Teile seines Œuvres ein, das durch ein dicht geknüpftes Netz von intertextuellen Verweisen charakterisiert ist. Auch in dieser Hinsicht kommt den Rezensionen und Kritiken kein Sonderstatus zu. Sie sind kein Nebenwerk, sondern ein integraler und konstitutiver Bestandteil von Benjamins Denken, das sich stets in der Auseinandersetzung mit konkreten Gegenständen entfaltet, aber bei diesen Anlässen nicht stehenbleibt, sondern vom Einzelnen und Besonderen aus mit dem analytischen Blick des Theoretikers zentrale theoretische Zusammenhänge erschließt.

Konzeptionelle Begründungsversuche, kritische Intentionen und publizistische Strategien

Benjamin war kein ‚typischer‘ Literaturkritiker. Genau das macht paradoxerweise seinen besonderen Rang innerhalb der Literaturkritik des 20. Jahrhunderts aus. Eine institutionelle Absicherung durch eine feste Stelle als Redakteur hat er niemals besessen und auch zu keinem Zeitpunkt angestrebt. Die Tätigkeit als Rezensent ist weder sein Beruf noch seine Hauptbeschäftigung gewesen; nur selten konnte und mochte er sich ausschließlich darauf konzentrieren. Ebenso wenig sah er seine Aufgabe darin, das ganze Spektrum der Neuerscheinungen zu erfassen oder ein repräsentatives Panorama des zeitgenössischen Kulturbetriebs zu liefern. „Unabhängig zu sein von der Neuerscheinung“ erklärte er einmal sogar ausdrücklich zur Maxime seiner Kritik. Das Engagement als freier Mitarbeiter des Feuilletons ist für Benjamin immer nur ein Zweig eines weitgespannten und vielseitigen Arbeitsprozesses gewesen, der im Kern auf die kritische Erkenntnis der Kultur und Gesellschaft der Moderne und ihrer Vorläufer seit der Frühen Neuzeit sowie auf eine radikale politische Praxis gerichtet war. Zu diesem breit gefächerten Projekt gehörten eigene literarische Versuche und Übersetzungen ebenso wie philosophische Werke, literaturhistorische Untersuchungen, Rundfunkarbeiten, Anthologien oder essayistische Studien und Feuilletonartikel zu nahezu sämtlichen Themenbereichen der Kultur. Mit all diesen sehr verschiedenen Arbeitsvorhaben stehen die Rezensionen in einem teils verdeckten, teils offen zutage liegenden Zusammenhang. Den meisten Besprechungen, selbst denen zu vermeintlich peripheren Gegenständen, merkt man es an, dass sie von einem Autor stammen, der sich nicht nur für die rezensierten Texte interessierte, sondern den spezifische philosophische und theoretische Erkenntnisinteressen antrieben und der stets darum bemüht war, Anschlussstellen zu seinen vielfältigen Forschungs- und Interessensgebieten herzustellen.

Benjamin ist, mit anderen Worten, als Rezensent immer zugleich Theoretiker und Philosoph geblieben, wie sich umgekehrt sein philosophisches Denken immer an konkreten Eindrücken, Phänomenen und Texten entzündet hat. Diese Spannung verleiht seinen literaturkritischen Arbeiten jene virtuose Synthese von erfahrungsgesättigter subjektiver Anschauung und intellektueller Pointierung, physiognomischer Konkretion und theoretischer Abstraktion, fachlicher Kompetenz und schriftstellerischem Können, die charakteristisch für seinen Habitus als Kritiker ist und ihn von anderen, zu Lebzeiten oftmals bekannteren Vertretern der Literaturkritik unterscheidet. Die Nähe zu den einzelnen Gegenständen und der konkrete phänomenologische Blick fürs Detail verbinden sich in seinen Texten mit Strategien der historischen Kontextualisierung, der Analyse mittels theoretischer Kategorien und mit grundlegenden philosophischen Reflexionen. Aufgrund dieser untrennbaren Verschränkung von Kunst, Wissenschaft und Ästhetik kann man bei der Lektüre von zahlreichen Stellen aus gedanklichen Verzweigungen folgen, die zu anderen Bereichen seines Schaffens und zu wichtigen Kristallisationskernen seines Denkens, wenn nicht in dessen theoretisches Zentrum führen.

Die Texte können jeweils für sich als Rezensionen einzelner Werke gelesen werden; insofern handelt es sich bei ihnen um Beiträge zum zeitgenössischen literaturkritischen Diskurs und zur Rezeptionsgeschichte der behandelten Autoren. Gleichzeitig fungieren sie aber auch, betrachtet man sie im philosophischen Problemhorizont des 20. Jahrhunderts, als Bausteine einer Philosophie und Ästhetik der Moderne, die der Kritiker nach dem Modell der frühromantischen Kritik selbst niemals im systematischen Zusammenhang abschließend formuliert hat. Die Theorie existiert vielmehr wie die der Frühromantiker nur in Form von Einzelstudien, Entwürfen und Bruchstücken, aus denen sie vom Leser erst wieder extrapoliert werden muss.

Aus den programmatischen Einsichten, die in den Rezensionen teils verstreut in der Form skizzenhafter Improvisationen und Sentenzen vorliegen, teils in längeren Exkursen argumentativ entwickelt werden, lässt sich der Grundriss des Benjamin’schen Philosophierens in nuce rekonstruieren. Deshalb führt es ebenso in die Irre, eine Dichotomie zwischen dem Publizisten und dem Philosophen Benjamin zu postulieren, wie in seiner Hinwendung zur Öffentlichkeit – der besorgten Perspektive mancher Wegbegleiter folgend – nur eine erzwungene „Wendung zum Journalismus, zur journalistischen Bewußtlosigkeit“ und eine „Korrumpierung seines Geistes“ zu erblicken, wie Werner Kraft in seinem Tagebuch am 13.8.1926 notierte. Benjamins Denken entfaltete sich gerade im Spannungsverhältnis zwischen seinen philosophischen Interessen und einer an die Öffentlichkeit adressierten journalistischen Praxis. Es bedurfte der Beschäftigung mit dem Alltäglichen, Profanen und Exoterischen, um zu seinen originellsten und treffendsten – mitunter esoterischen – Einsichten zu gelangen. Die von Werner Kraft unter Berufung auf die geistesaristokratische Haltung des Benjamin’schen Frühwerks postulierte Alternative, sich entweder für eine elitäre, ganz dem „Geist“ gewidmete Existenz oder für ein Wirken in der Öffentlichkeit zu entscheiden, stellte sich für Benjamin in dieser Form schon lange nicht mehr, weder im Blick auf die Maximen seiner Arbeit noch im Blick auf seine faktischen Handlungsoptionen.

Aus demselben Grund ist auch die gängige Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenwerken in seinem Fall zu problematisieren. Gerade die sogenannten ‚kleinen‘ Arbeiten eröffnen immer wieder überraschende Perspektiven auf zentrale Motive, Begriffe und Denkfiguren seines Œuvres. Die strikte hierarchische Trennung zwischen ‚peripheren‘ und ‚zentralen‘ Gegenständen wird aufgehoben. In Glücksfällen steht jede Aussage gleich nahe am Zentrum und kann zum „Torspalt“ werden, der den Zugang zu Schlüsselfragen des gesamten Werks öffnet. Wie in seinen Feuilletons und Essays ist Benjamin in vielen der vorliegenden Rezensionen als ein großer Meister „der ,kleinen‘ Form“ zu entdecken, zu der er sich, unter Berufung auf so unterschiedliche Vorbilder wie Hebel, Robert Walser, Kafka, Polgar und Brecht, an verschiedenen Stellen seines Werks programmatisch bekannt hat. Wie sorgfältig speziell auch diese kürzeren Prosatexte von ihm in der Regel erarbeitet worden sind, lässt sich nun anhand der Entwürfe aus dem Nachlass rekonstruieren.

Nichts ist weniger zutreffend als die Annahme, Benjamins Tätigkeit als Rezensent sei primär von Willkür, Planlosigkeit und von subjektiven Vorlieben oder Idiosynkrasien bestimmt gewesen. Bei all seiner Bereitschaft, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und sich immer wieder den Obsessionen einer ziellosen und unreglementierten Lektüre hinzugeben, war in seiner Praxis als Kritiker sehr wohl so etwas wie ein Grundriss zu erkennen, und dieser wurde in hohem Maß durch die Gebiete, in denen er als Experte ausgewiesen war, sowie durch seine kulturwissenschaftlichen und philosophischen Forschungsinteressen definiert. Das machte die Rezensionen indessen nicht zu bloßen Illustrationen eines vorformulierten philosophischen Programms oder gar zu Bestandteilen eines starren Systems. Auf die Subjektivität des Kritikers mochte auch Benjamin als Medium zur Erhellung des Gegenstandes nicht verzichten. In diesem Sinne heißt es 1928 anlässlich der Kritik eines Bildbandes: „Das Buch auf solche Weise aufzuschlagen, so dass es winkt wie ein gedeckter Tisch, an dem wir mit all unseren Einfällen, Fragen, Überzeugungen, Schrullen, Vorurteilen, Gedanken Platz nehmen, so dass die paar hundert Leser (sind es so viele?) in dieser Gesellschaft verschwinden und gerade darum sich’s wohl sein lassen – das ist Kritik. Zumindest die einzige, die dem Leser Appetit auf ein Buch macht“. Benjamins Literaturkritik blieb alles Lehrhafte, langweilig Doktrinäre fremd, obwohl er, wie alle Linksintellektuellen in den 1920er-Jahren, manchen Verlockungen in dieser Hinsicht ausgesetzt war. Eine simple „Klassenkampf“-Rhetorik, wie sie etwa in manchen Passagen der Hoernle-Besprechung (1929) zu finden ist, blieb die Ausnahme. Seine Texte schillerten in vielen Farben, setzten immer wieder eigenwillige persönliche Akzente und ließen zwischen den Zeilen die innere Beteiligung, aber mitunter auch die existenziellen Probleme des Schreibenden sichtbar werden. Gerade dadurch konnten sie überzeugen und weckten im Idealfall Lust auf ein Buch. Dies geschah jedoch nicht auf Kosten des intellektuellen Stachels, des argumentativen Anspruchs und der theoretischen Einsichten, die in ihnen angelegt waren.

Wie eng die Aktivitäten des Rezensenten mit dessen sonstigen Arbeitsschwerpunkten zusammenhingen, zeigt sich schon daran, dass es kein größeres Projekt von ihm gab, das in seinen Buchbesprechungen nicht vorbereitet, publizistisch flankiert oder auf die eine oder andere Weise fortgeführt wurde. Bereits die frühen Baudelaire-Übersetzungen und die Dissertation zum „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ fanden hier an verschiedenen Stellen ihre Fortsetzung. Dasselbe gilt für die großen Studien zur deutschen und französischen Literatur – von den Arbeiten zum Barock und zu Goethe bis zu der über Baudelaire – oder für den „Kunstwerk“-Aufsatz und das unvollendete „Passagen“-Projekt. In seinen Rezensionen verdichtete sich nicht selten die Auseinandersetzung mit der einschlägigen fachwissenschaftlichen Forschung, die im Umfeld dieser Arbeitsvorhaben zu bewältigen war und Benjamin die für die Entfaltung der eigenen Gedanken notwendigen Anstöße aus anderen Theoriefeldern geliefert hat. Hier wurde vieles von dem erstmals skizziert, erprobt und reflektiert, was später in den ausgeführten Werken näher erläutert und begründet wurde.

Auf der anderen Seite haben die Rezensionen auch nach dem vorläufigen Abschluss dieser Arbeitsprojekte eine wichtige Funktion für den Theoretiker erfüllt. Sie dienten ihm dazu, Gedankenlinien der ‚großen‘ Abhandlungen weiterzuführen und gegen konkurrierende Forschungsansätze zu verteidigen, unbearbeitet gebliebene Desiderate einzulösen, die theoretischen Prämissen älterer Arbeiten – wie beim „Trauerspiel“-Buch – auf den Prüfstand zu stellen und, falls notwendig, auf der Basis anderer methodischer Paradigmata zu reformulieren oder die Tragfähigkeit der dort gewonnenen Einsichten an neuen Gegenständen unter Beweis zu stellen. Bisweilen benutzten sie das behandelte Buch auch nur als Anlass, um Gedanken zu präsentieren, die an keiner anderen Stelle unterzubringen waren. Die enge Vernetzung der Rezensionen mit den anderen Teilen des Werks eröffnet einen Kosmos von intertextuellen Anspielungen und Verweisen. Die Buchbesprechungen zeigen sich in diesen intertextuellen Bezügen als ein wichtiges Laboratorium von Benjamins Denken, als ein nahezu unerschöpflicher Material- und Ideenfundus des Philosophen, der in diesem gedanklichen Experimentierfeld, ähnlich wie die von ihm bewunderten Autoren Jean Paul und Georg Christoph Lichtenberg, zentrale Einsichten oft nur beiläufig, in einem Nebensatz oder kurzen Aperçu, aufblitzen ließ.

Wendet man den Blick vom Symbolsystem auf das kulturelle Handlungsfeld Literatur, kommt noch eine weitere Dimension in den Blick, die eine zentrale Antriebskraft für Benjamins Aktivitäten als Literaturkritiker in der Weimarer Republik wie im Exil gewesen ist. Diese fallen in die Zeit einer scharfen Polarisierung der deutschen Intelligenz, und ganz offensichtlich hat auch der „Stratege im Literaturkampf“, mit ihnen ein klar definiertes taktisches Kalkül verbunden. In dem „Kraftfeld“, in dem nach Benjamins Auffassung die Auseinandersetzung um die kulturelle Deutungshoheit und die angemessene Tradierung des Gewesenen stattfindet, galt es, zumal angesichts der herrschenden politischen Zustände, Geltungsräume abzustecken und Trennungslinien zu ziehen, den eigenen Standpunkt effektvoll zu positionieren und sich dabei von konkurrierenden Positionen demonstrativ abzugrenzen.

Gerade weil die Literaturkritik sich auf dem Forum der Öffentlichkeit vollzog, bot sie ein geeignetes Medium sowohl zu einer effektiven strategischen Selbstinszenierung als auch zur Delegitimation konkurrierender Schulen und Richtungen. „Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen“, heißt es apodiktisch in den „dreizehn Thesen“ zur „Technik des Kritikers“. „Immer muß ,Sachlichkeit‘ dem Parteigeist geopfert werden, wenn die Sache es wert ist, um welche der Kampf geht“. In den Notizen zum „Programm der literarischen Kritik“ (1929/1930) wurde dieser „Parteigeist“, dem das Kunstwerk primär als „blanke Waffe in dem Kampfe der Geister“ gilt, näher als eine strategische Schulkritik bestimmt, die mit der „Erschlaffung“ und „Korruption“ des Literaturbetriebs brechen sollte, indem sie das Treiben der „Sekten“ und „Zirkel“ zu ihrem bevorzugten Angriffsziel machte. In diesem Sinn hat Benjamin in seinen Rezensionen immer wieder die offensive Auseinandersetzung mit seinen Kontrahenten gesucht. Zu ihnen gehörten die Protagonisten von literarischen Strömungen, die mit seinem ästhetischen Konzept der Moderne nicht kompatibel waren, wie die des Aktivismus, der Neuen Sachlichkeit, des späten George-Kreises und bestimmter Richtungen des Expressionismus. Gleichzeitig trat er sehr engagiert für eine kleine Zahl von experimentierfreudigen Avantgardekünstlern ein, so für Brecht, Gide, Julien Green, Kafka, Karl Kraus oder Marcel Proust.

Man darf aus der in der Geschichte der Literaturkritik verbreiteten militanten Metaphorik, die an den einschlägigen Äußerungen Benjamins auffällt, freilich nicht schließen, er sei einem ästhetischen Dogmatismus verfallen oder in seinem Urteil, nach Art der linksorthodoxen Parteikritik, auf die politische Gesinnung der Verfasser fixiert geblieben. Benjamin vertrat – im Gegensatz zu so unterschiedlichen Theoretikern wie Georg Lukács, Theodor W. Adorno oder Pierre Bourdieu – ein offenes, nicht-normatives Konzept der Moderne, in dem der Ästhetizismus eines Stéphane Mallarmé oder Paul Valéry ebenso Platz hatte wie die russische Revolutionskunst nach 1917, das Brecht’sche Lehrtheater oder der amerikanische Stummfilm. Selbst die Dichotomie von Hochkultur und Popularkultur, hermetischer Avantgarde und audiovisuellen Medien wurde bei ihm konzeptionell überwunden. Benjamin erkannte Pluralität und Heterogenität als konstitutive Elemente der Moderne grundsätzlich an; jede Verengung auf eine bestimmte Doktrin war ihm fremd.

Ebenso fremd blieb ihm, jenseits der Polemik, eine heteronome Qualifizierung der Werke nach vorgefassten ideologischen Wertungskriterien. „Es wird nicht behauptet, daß es der Kritik wesentlich oder auch nur dienlich sei, in jedem Falle unmittelbar an politischen Ideen sich auszurichten“, heißt es 1930/31 in der Aufzeichnung „Falsche Kritik“. So eindeutig Benjamin die Trennungslinie zog, wenn aus seiner Sicht die Grenze zu einer Apologie von Krieg, Terror und Unterdrückung überschritten war – sein literarisches Urteilsvermögen ließ er sich von der inquisitorischen Frage, aus welchem ‚politischen Lager‘ ein Autor stammte, niemals beeinträchtigen. Er hatte keine Probleme damit, gleichzeitig mit Hofmannsthal wie mit Brecht befreundet zu sein, und war zeitlebens fasziniert von politischen Denkern vom Schlage eines Florens Christian Rang. An dem reaktionären französischen Literaten Léon Daudet, dessen fanatischer Antisemitismus bei ihm nur Abscheu hervorrufen konnte, rühmte er nichtsdestoweniger den „Glanz, die Frische, in dem bei ihm die Bücher dastehen“, und beharrte auf der „Klärung der literarischen durch Abspaltung der sektiererischen [?] Aktivität“. Auch führende Anhänger des George-Kreises wie Hellingrath oder Kommerell fanden in ihm einen bei aller Distanz subtilen und zur Differenzierung fähigen Kritiker. Auf der anderen Seite mussten prominente Linksintellektuelle wie Kurt Hiller, Fritz von Unruh, Erich Kästner oder Kurt Tucholsky, die seinen politischen Positionen um einiges näher standen als die genannten Autoren, ungeachtet dieser Tatsache und ihres Prestiges in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik gelegentlich mit scharfem und polemischem Widerspruch rechnen, sofern er sich von diesen Kontroversen eine Klärung wichtiger politischer und theoretischer Grundsätze versprach.

Weil Benjamin opportunistische Rücksichtnahme ablehnte und ihm nichts dubioser erschien als „mangelnde Gegnerschaft, mangelnde Deutlichkeit im Verkehr der Schreibenden miteinander“, wurde neben dem Kommentar und der Kritik die oft diskreditierte Polemik bei ihm zu einem zentralen Genre der Literaturkritik. „Nur wer vernichten kann, kann kritisieren“, heißt es bereits in der „Technik des Kritikers in dreizehn Thesen“. Dies genau sei die Aufgabe der Polemik, die „ein Buch in wenigen seiner Sätze vernichten“ wolle und es sich zu diesem Zweck so „liebevoll“ vornehme, „wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet“. Mit der Rehabilitierung der Polemik stellte sich der Kritiker in eine große Tradition, die über Karl Kraus und Heinrich Heine bis zur ‚Annihilierung des Schlechten‘ bei den Frühromantikern Schlegel, Fichte und Schleiermacher und zu deren großem Vorbild Lessing zurückreicht.

Dass Benjamin ein begnadeter Polemiker war, der öffentlich ausgetragenen Kontroversen durchaus auch ein hedonistisches Moment abzugewinnen vermochte, konnte man bereits seiner „Bemerkung über Gundolf: Goethe“ aus dem Jahr 1917 und den darauf basierenden Invektiven in der Abhandlung über „Goethes Wahlverwandtschaften“ entnehmen. Zum Programm wurde der polemische Habitus dann Ende der 1920er-Jahre in den fragmentarischen Reflexionen zur Literaturkritik erhoben. Gegen die vorherrschende „Korruption“ und den allenthalben zu beobachtenden Gesinnungskonformismus, der auf der Verabredung beruhe, „daß keiner dem andern sein Spiel verderbe“, heißt es da, müsse sich die „vernichtende Kritik […] ihr gutes Gewissen wieder erobern“. Die „Rettung der Polemik“ sei das Zentrum einer jeden Theorie der Kritik, denn die Polemik fungiere als das notwendige Korrelat zur exegetischen Kritik. Dabei wird auch die seit den Anfängen des Rezensionswesens im 18. Jahrhundert gängige „Unterscheidung der persönlichen und sachlichen Kritik“, also die Differenzierung zwischen dem Urteil über Autor und Werk, nach dem Vorbild von Karl Kraus als „ein Hauptinstrument der objektiven Korruption“ suspendiert, das lediglich der Absicht diene, die Polemik als Gattung zu diskreditieren.

Der Polemiker arbeitet sich nicht nur am Werk, sondern an der gesamten Person seines Gegners ab. Sein Ziel ist die Polarisierung und Klärung der Fronten im „Literaturkampf“ durch das Anfachen von Debatten, die gegen die Erstarrung in einem unverbindlichen Nebeneinander konkurrierender Richtungen „Parteinahme und Auseinandersetzung“ provozieren. Zu diesem Zweck sind ihm, falls sein Ziel anders nicht zu erreichen ist, so gut wie alle Waffen erlaubt, auch persönliche Attacken, Tabuverletzungen und andere gezielte Regelverstöße. Argumentative Standards wie die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Person, Höflichkeitsregeln oder die Einhaltung bestimmter Stilnormen werden bewusst unterlaufen, um die Durchschlagskraft des Angriffs zu erhöhen. Selbst enge Freunde wollten Benjamin auf diesem Weg nicht immer folgen, ganz zu schweigen von den betroffenen Autoren, die gelegentlich gegen Inhalt und Ton der Vorwürfe protestierten.

Wie die polemische Strategie in die Praxis umgesetzt wurde, kann man an zahlreichen Beispielen verfolgen. Schon die erste Rezension, die Benjamin 1925 für die „Literarische Welt“ geschrieben hat, die Besprechung von Fritz von Unruhs „Flügel der Nike“, stellt das Musterbeispiel einer solchen Polemik dar. Weitere Beispiele bieten die Besprechungen zu Bürgisser, Lichey, Mehring, Schaeffer oder Sternberger; die Rezension zu Bin Gorion liefert in nuce eine kurze Theorie des Genres. Dabei sprechen die Entwürfe, wie etwa an den Skizzen zu Bürgisser, Mehring und Sternberger erkennbar ist, mitunter eine noch viel deutlichere Sprache als die schließlich publizierten Fassungen, in denen der Kritiker bereits einige Schärfen gemildert und abgeschwächt hat. Umso deutlicher lassen diese handschriftlichen Aufzeichnungen die ursprüngliche Stoßrichtung und Angriffsstrategie der Polemik erkennen.

Dies gilt auch für die Manuskripte zu Kommerells Klassik-Buch, die insofern eine Ausnahme bilden, als wir in dieser Polemik gegen einen Autor, der zu dieser Zeit selbst in keiner Weise akademisch abgesichert war, auf die bei Benjamin nur gelegentlich anzutreffende Konstellation eines ‚Geisterkampfs‘ zwischen zwei – freilich sehr unterschiedlichen – Außenseitern treffen. Sehr viel häufiger begegnet man bei ihm einer anderen, aus der Geschichte der Literaturkritik seit Lessing und Heine vertrauten Konstellation, bei der der Kritiker als Außenseiter des Literatur- und Wissenschaftsbetriebs dessen führende Repräsentanten respektlos in die Schranken wies. Die Legitimation dieser Polemik konnte sich dabei selbst nicht auf die Autorität einer etablierten wissenschaftlichen Institution berufen. Sie beruhte einzig und allein auf der Sachkompetenz, der Urteilsfähigkeit und dem rhetorischen Talent des Kritikers. Dessen fehlende institutionelle Absicherung, so problematisch sie in ihren ökonomischen Konsequenzen für ihn sein mochte, gestattete ihm die größte Unabhängigkeit und Offenheit des Urteils. Durch keine andere Instanz gedeckt als durch die Autorität der eigenen Person, war er von jeder falschen diplomatischen Rücksichtnahme befreit und musste kein Blatt vor den Mund nehmen.

In den Rezensionen galt Benjamins Respekt und Sympathie in erster Linie unverkennbar den intellektuellen Außenseitern, Grenzgängern und Flaneuren – Autoren, die sich nicht pedantisch auf den „Gebietscharakter“ ihrer Disziplinen versteiften, sondern genau wie er selbst an der Schnittstelle verschiedener Wissenskulturen situiert waren und ein eigensinniges und befreiendes Denken praktizierten. Ob Alois Riegl, Carl Linfert oder Georges Salles in der Kunstgeschichte, Bachofen und Adorno in der Philosophie, Kracauer in der Soziologie, Hegemann in der Geschichtsschreibung oder Rosenzweig in der Theologie – stets ließ Benjamin sich von unorthodoxen Denkern inspirieren, die den Mut hatten, aus dem starren Fächerkanon auszubrechen, und gegenüber neuen Gegenständen und Methoden aufgeschlossen waren. Darüber hinaus galt sein Interesse den Sammlern und Privatgelehrten außerhalb jeder disziplinären Ordnung, die sich durch ihr „Zuhausesein in Grenzgebieten“ von ihren Fachkollegen auf die gewinnendste Weise unterschieden und ihre Neugier vom Kinderspielzeug und Kinderbuch über die Architekturzeichnung und Graphologie bis zur Kräuterkunde Bereichen zuwenden konnten, die aus dem offiziellen Forschungsbetrieb im Zuge seiner Institutionalisierung ausgegrenzt worden waren. Die gleiche Vorliebe am Unbekannten und Peripheren spiegelte sich in seinen literarischen Präferenzen wider. Benjamin rezensierte hochkulturelle Texte und ‚triviale‘ Gebrauchsliteratur, kanonische wie nicht-kanonisierte Bücher aus den verschiedensten Kulturen, belletristische Werke ebenso wie Forschungsbeiträge. Der Anteil der oft pejorativ als ‚Sekundärliteratur‘ bezeichneten wissenschaftlichen Sachliteratur war relativ hoch. Dies entsprach den fachspezifischen Erkenntnisinteressen des Rezensenten, seiner Absage an die Illusion einer unmittelbaren Erkenntnis des Gewesenen und seinem Anspruch, ein bereits diskursiviertes, zu stabilen Deutungsmustern geronnenes Wissen neuerlich auf den Prüfstand zu stellen, indem entscheidende Umwertungen und Korrekturen an seinem scheinbar naturwüchsigen Überlieferungsprozess vorgenommen wurden.

Im Gegensatz zu den Randfiguren mussten die etablierten Vertreter des Wissenschaftssystems, mochten sie wie Gundolf, Walzel oder Ermatinger auch über das größte Ansehen in der Öffentlichkeit verfügen, bei Benjamin mit einem sehr distanzierten Beobachter rechnen, sofern sie sich aus seiner Sicht an eine obsolete Ästhetik und Methodik klammerten, die genuinen Forschungsmethoden ihrer Fächer aus dem Auge verloren hatten und die sich in Gesellschaft und Kultur anbahnenden Umbrüche entschlossen ignorierten. Die Parteinahme für die Außenseiter und die Distanzierung von den Berühmtheiten des akademischen Establishments bedingten sich dabei wechselseitig. Aus der Spannung zwischen Peripherie und Zentrum, Licht und Schatten, oben und unten bezog die Kritik einen nicht geringen Teil ihrer polemischen Energie. So wie die Außenseiter nur im Kontrast zur Galerie der prominenten Leitfiguren ihr Profil gewinnen konnten, wurde umgekehrt erst im Vergleich mit den viel freieren Außenseitern die Borniertheit, mangelnde Originalität und Fantasielosigkeit mancher führenden Fachvertreter deutlich. Die Literaturkritik wurde auf diese Weise zu einem Organ aktueller Gelehrten- und Wissenschaftskritik und zum Forum einer praktisch gewendeten Erkenntniskritik, welche die epistemologischen Intentionen der theoretischen Schriften an konkreten Fällen aus dem zeitgenössischen Wissenschaftssystem erprobte und weiterführte. In dieser Hinsicht sah sich Benjamin, wie der mehrfache Verweis auf die einschlägigen Arbeiten eines Franz Mehring beweist, als Erneuerer von Impulsen aus der marxistischen Ideologiekritik. Auch Benjamin richtete seine Aufmerksamkeit auf die Logik einer interessengeleiteten Wissensproduktion und Kanonisierung und die daran beteiligten Institutionen. Dass der Marxismus im übrigen über Mehring, Engels und Plechanow kaum hinausgekommen war und speziell auf dem Gebiet der Ästhetik viele Defizite und Desiderate hinterlassen hatte, die noch einer Lösung bedurften, war ihm bewusst und prägte sein Selbstverständnis als Pionier in Fragen einer avancierten Kunsttheorie.

Benjamins verstreute Bemerkungen zu einer Theorie der Polemik sind Teil seines Versuchs, die eigene Arbeit als Literaturkritiker auf eine solide theoretische Grundlage zu stellen. Dass ein solches tragfähiges Fundament notwendig war, sofern die Kritik sich nicht in der Beliebigkeit subjektiver Meinungsäußerungen und der Affirmation des jeweils Modisch-Aktuellen erschöpfen sollte, hat er mehrfach hervorgehoben, auch wenn er beim Stand der Dinge keine Möglichkeit sah, eine solche Theorie in ihrem vollständigen systematischen Zusammenhang zu explizieren. Der Literaturkritik, heißt es im „Programm der literarischen Kritik“, müsse „ein sachlicher Aufriß (strategischer Plan)“ mit immanenter „Logik“, „ein Programm“ zugrunde liegen, das gegenüber dem Publikum transparent zu machen sei. „Man soll“, fügte Benjamin wenig später in „Die Aufgabe des Kritikers“ hinzu, „vom Kritiker wissen: wofür steht der Mann. Er soll es zu erkennen geben“. Erforderlich sei dazu nicht zuletzt ein „grundsätzliches Nachdenken über die Fragen der Kunst“.

Überlegungen zur Theorie der Kritik begleiteten die Entwicklung von Benjamins Werk seit seinen Anfängen. Schon die frühe Hölderlin-Studie von 1914/15 enthielt grundlegende Bemerkungen zur Aufgabe und Methodologie der Kritik. In allen größeren Abhandlungen – vom „Trauerspiel“-Buch über den Essay zu „Goethes Wahlverwandtschaften“ bis zu den methodischen Reflexionen im Kontext des Baudelaire-Buches – hat Benjamin immer auch Rechenschaft über die konzeptionellen Grundlagen seiner Arbeit abgelegt. Am Beginn der 1930er-Jahre fand dieser Versuch der Selbstreflexion in den diversen Fragmenten „Zur Literaturkritik“ sowie in den Materialien zum Zeitschriftenprojekt „Krisis und Kritik“ eine zumindest skizzenhafte Fortsetzung.

Von zentraler Bedeutung für Benjamins Verständnis von literarischer Kritik ist zudem seine 1919 abgeschlossene Dissertation über den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“. Zwar stellte er in dieser philosophischen Rekonstruktion des romantischen Kritikbegriffs keineswegs, wie bisweilen vermutet wurde, die Grundlagen seines eigenen Verständnisses von Kritik dar. Für dieses waren neben der deutsch-romantischen Tradition am Ende des 18. Jahrhunderts noch ganz andere Einflüsse bestimmend, insbesondere die in der Forschung viel zu wenig beachtete Literaturkritik aus dem französischen Sprachraum, die mit Persönlichkeiten wie Benjamin Crémieux, Léon Daudet, Paul Léautaud, Léon Pierre-Quint oder Paul Souday von prägender Bedeutung für seine Praxis als Kritiker gewesen ist. Die Tatsache, dass er sich mit den Frühromantikern beschäftigt hat, machte aus Benjamin also noch keinen Vertreter einer ‚romantischen‘ Literaturkritik. Wohl aber galt ihm der Diskussionsstand zur Theorie der Kritik in der deutschen Kulturgeschichte um 1800 mit ihren Zentren in Jena und Weimar insofern als Vorbild, als er sich „von der heutigen depravierten und richtungslosen Praxis der Kunstkritik nicht nur durch ein hohes Niveau, sondern zugleich durch methodische Besinnung“ unterschied. Dieser Theoriestandard erlaubte es Benjamin, im Rekurs auf die historische Konstellation zur Zeit der Frühromantik den Problemhorizont zu entfalten, in dem die Literaturkritik unter den Bedingungen der ästhetischen Moderne prinzipiell stand und der insofern auch den Rahmen für seine eigenen Aktivitäten auf diesem Gebiet absteckte.

Mit der Autonomisierung der Kunst wurde um 1800 das hergebrachte, noch von der frühen Aufklärung tradierte Verständnis des Kritikers als Kunstrichter, der die Maßstäbe einer normativen Ästhetik und Poetik umstandslos auf die Werke applizierte, um ein vermeintlich definitives Urteil über deren Wert oder Unwert fällen zu können, unwiderruflich obsolet. An der Einsicht, dass die Literaturkritik sich nicht darauf beschränken dürfe, scheinbar zeitlose und absolut gültige Normen der Kunsttheorie auf ihre Gegenstände anzuwenden, weil die Zeiten für eine solche deduktive Ästhetik „in jedem Sinne […] vorüber sind“, hat Benjamin in Übereinstimmung mit frühromantischen Positionen zeitlebens festgehalten. Seine Distanz galt dabei jeder Form eines dogmatischen Kunstrichtertums, unabhängig davon, ob dieses in Gestalt von ästhetischen oder politischen Unfehlbarkeitsansprüchen – oder gar als Koppelung von beiden – auftrat. Damit war die Trennungslinie zu restaurativen Positionen, die hinter dem um 1800 erreichten Bewusstseinsstand zurückblieben, indem sie im Zeichen eines ästhetischen Traditionalismus die Axiome einer vormodernen Ästhetik zu zeitlosen Normen erklärten, ebenso eindeutig markiert wie der Abstand zum linksliberalen politischen Feuilletonismus der Weimarer Republik und zur dogmatischen Gesinnungskritik der orthodoxen Linken.

Aber auch die Verkürzung der Kritik auf ein rein subjektivistisches Geschmacksurteil, welche die Kritik letztlich auf eine Folge von beliebigen, einander wechselseitig relativierenden Impressionen, Stimmungen und Werturteilen reduzierte, wurde bereits von den Frühromantikern, in Abgrenzung vom Geniekult der Stürmer und Dränger, als falscher Ausweg aus den Aporien der Kunstkritik in der Zeit der autonomen Kunstproduktion zurückgewiesen. Auch hierin ist Benjamin den bahnbrechenden Einsichten der Frühromantiker gefolgt, die das Kunstwerk von dem Missverständnis befreiten, es sei als Resultat „bloßer Ausdruckskraft des Schöpfers“ ein bloßes „Nebenprodukt der Subjektivität“, und damit zugleich die „Kritik, welche für die heutige Auffassung das Subjektivste ist“, umgekehrt gerade zum „Regulativ aller Subjektivität, Zufälligkeit und Willkür im Entstehen des Werkes“ erklärten.

Für Benjamin wie für die Frühromantiker fand die Kritik ihr Zentrum nicht im subjektiven Werturteil des einzelnen Rezensenten. Schon gar nicht erschöpfte sie sich in der „,temperamentvolle[n]‘ Reaktion eines kritischen Originals“. „Beim wahren Kritiker“, so seine Maxime, „ist das eigentliche Urteil ein letztes, das er sich abringt, niemals die Basis seines Unternehmens. Im Idealfalle vergißt er zu urteilen“. Damit war der unüberbrückbare Abstand zu der seit dem 19. Jahrhundert dominanten Form der ‚feuilletonistischen‘ Literaturkritik markiert, für die sich das Tun des Kritikers wesentlich als Verbindung von effektvoller ästhetischer Darstellung und persönlicher Beurteilung materialisierte. Auch hier wusste Benjamin indessen durchaus zu differenzieren, wie er überhaupt in praxi viel beweglicher und undogmatischer verfuhr, als seine mitunter strengen und apodiktischen Formulierungen vermuten lassen würden. Von den radikalen jungdeutschen Kritikern und dem Schriftsteller Fontane sprach er zwar mit Distanz, aber immer mit Respekt. Den großen Wiener Feuilletonisten Alfred Polgar, den er aus dem Kreis um Franz Hessel persönlich kannte, rühmte er sogar mit den Worten: „Er ist der wahre Verschwörer unter den Schriftstellern; sein Wort ist das Alibi meines Gedankens“. Umso härter ging er dafür mit den Leitfiguren des Feuilletons in der Weimarer Republik ins Gericht. Als dessen fragwürdigster Exponent figurierte für ihn – in Übereinstimmung mit Karl Kraus, Bertolt Brecht und Willy Haas – der Kritiker Alfred Kerr. Das scheinbar „unbefangene, vorurteilslose Wesen“ solcher Kritik verdecke, so Benjamin, „in Wahrheit nur die servile Beflissenheit, mit der der Feuilletonist dem Bedarf nach Charakterköpfen, Temperamenten, Originalen, Persönlichkeiten entgegenkommt. Die Ehrlichkeit des Feuilletonrezensenten ist Effekthascherei; und je tiefer der Brustton der Überzeugung desto stinkender ist ihr Atem.“

Was Benjamin dem Feuilletonismus nach dem Muster von Alfred Kerr vorhielt, war zum einen die hypertrophe Selbstinszenierung der eigenen Persönlichkeit. Dieser setzte er die Haltung einer „produktiven Bescheidenheit“ entgegen, die darauf verzichtete, der Sache „gegenüber selbstgefällig sich in Positur zu setzen“. Der Kritiker sollte, indem er jenseits individueller Geschmackspräferenzen seine strategischen Grundpositionen offenlegte, mehr geben als eine pure Meinungsäußerung und etwas anderes repräsentieren als das Markenzeichen seines unverwechselbaren Temperaments. Zum anderen irritierte ihn die Vorstellung, dass als Basis der Kritik eine letztlich irrationale Empfindung, das individuelle Erlebnis des Kunstliebhabers, gelten sollte, das weder rational noch argumentativ näher auszuweisen war, sowie die Tatsache, dass das lediglich im Gefühl des Kritikers begründete Kunsturteil von jeder Beziehung auf die Ästhetik und Geschichtsphilosophie der Kunstformen systematisch abgekoppelt wurde. Diese Spielart feuilletonistischer Kritik präsentierte sich aus seiner Sicht nicht nur als de facto theorielos, sondern proklamierte geradezu programmatisch den Verzicht auf eine kohärente Kunsttheorie zugunsten der Partikularität des individuellen Kunstgeschmacks. „Kunstbegeisterung“, hieß es im bewussten Affront gegen diese Einstellung bereits in der „Einbahnstraße“, „ist dem Kritiker fremd“. Aus dieser Perspektive vertrat der Feuilletonismus, wie er von Kerr und anderen praktiziert wurde, mit seiner Berufung auf die Intuition des Einzelnen, ebenso wie eine sich auf das seelische Erlebnis berufende Geistesgeschichte in der Tradition Wilhelm Diltheys, subjektivistische Positionen, die in Kenntnis des um 1800 gewonnenen Problembewusstseins nur als Rückfall hinter die Errungenschaften der frühromantischen Hermeneutik und Kritik gedeutet werden konnten.

Deren Grundsätze basierten auf der Einsicht, dass es unter den Bedingungen der autonomen Kunstproduktion der Moderne ein übergeordnetes Set von Regeln, das der Kritiker nur noch zu exekutieren und von außen auf das Werk anzuwenden hatte, nicht mehr geben kann. Genauso unzureichend erschien indessen die Reduktion des Werkgehalts auf die subjektiven Impressionen des Aufnehmenden. Um einen Ausweg aus dem Dilemma eines dogmatischen Objektivismus beziehungsweise eines zum Relativismus tendierenden Subjektivismus zu finden, waren die Werke analytisch in ihrer je spezifischen Eigenlogik, Gattungseigenart und Individualität zu erschließen. Die Intersubjektivität der dabei gewonnenen Ergebnisse wurde durch das romantische Konzept der in jedem einzelnen Kunstwerk implizit angelegten Poetologie und Selbstreflexion garantiert, die von der Kritik rekonstruktiv nachzuvollziehen und auf den Begriff zu bringen war. Weil angesichts der Heterogenität und historischen Dynamik der Kunstentwicklung im Zeichen des jeweils Neuen eine universell gültige Ästhetik nicht mehr vorausgesetzt werden konnte, musste die Kritik beweglich werden und ihre Maßstäbe, je nach Sachlage, ihrerseits neu bestimmen, erweitern und variieren.

Damit wurde die Darlegung der vom Kritiker im konkreten Fall zugrunde gelegten Prämissen, Methoden und Wertungskriterien und die Frage nach dem inneren Zusammenhang von Werk und Geschichte, Geschichtsphilosophie und Ästhetik, zum integralen Bestandteil jeder Kritik. In diesem Sinne hatte Benjamin schon in seiner Dissertation zustimmend an das Diktum Friedrich Schlegels erinnert, „jede philosophische Rezension sollte zugleich Philosophie der Rezensionen sein“. Als Beispiele für die programmatische Selbstreflexivität von Benjamins Rezensionen seien hier, stellvertretend für viele andere, nur die Besprechungen zu Ermatinger und die zu Künzles Kräuterbüchlein genannt, die in grundsätzlicher Weise zu konzeptionellen Fragen der Literaturkritik Stellung bezogen.

Benjamin leitete aus der Forderung nach einer radikalen Neuorientierung der Kritik am Ende der 1920er-Jahre das Postulat ab, der Kritiker habe „die Maske der ,reinen Kunst‘ zu lüften“. Stattdessen habe er „die Bücher in den Zusammenhang der Zeit“, das heißt in ihre konkreten historischen Entstehungs- und Wirkungskontexte, einzustellen und nach den Instanzen zu fragen, die − von den Produzenten über die professionellen Vermittler bis zu den Rezipienten – über ihre Tradierung im kulturellen Gedächtnis und die dabei vorgenommene Bedeutungszuweisung entscheiden. „Eine solch[e] Kritik wird dann zu einer neuen, bewegten, dialektischen Aesthetik führen“. Mit diesem bis heute allenfalls in Ansätzen realisierten Programm schließt sich der Bogen zu der am Anfang dieses Abschnitts formulierten These, dass die Praxis des Rezensenten, die Theorie der Kritik und die philosophische Ästhetik bei Benjamin untrennbar zusammen gehören und dass seine Tätigkeit als Literaturkritiker von seinem übrigen philosophischen Werk nicht künstlich zu separieren ist. Die große Zahl der unwiderruflich verlorenen Handschriften und Typoskripte, der nicht publizierten Rezensionen sowie der Fragment gebliebenen oder gar nicht erst ausgeführten Projekte, von denen in den Briefen immer wieder die Rede ist – all das verweist allerdings auch auf das Offene und Unvollendete in Benjamins Œuvre. Benjamins Rezensionen fügen sich weder zu einem geschlossenen Ganzen noch zu einer harmonischen Werkeinheit. Aber es ist zugleich diese Unabgeschlossenheit und Fragmentarizität, die sie vor dem Klassikerschicksal musealer Erstarrung bewahrt und den Lesern auch künftig die Chance bietet, in ihnen auf Spuren zu stoßen, die noch unentziffert geblieben und in ihrem Bedeutungspotential stets aufs Neue lesbar zu machen sind.

Anmerkung der Redaktion: Heinrich Kaulen ist der Herausgeber des in Vorbereitung befindlichen Band 13 der Historisch-Kritischen Benjamin-Ausgabe (Werke und Nachlass Band XIII: Kritiken und Rezensionen) im Suhrkamp Verlag.