Schwarz, Weiß, Schwarzweiß

Zur Metaphorik der Unfarben im Gedicht

Von Felix Philipp IngoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Philipp Ingold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den meistkommentierten Bildwerken des 20. Jahrhunderts gehört das „Schwarze Quadrat auf weißem Grund“ (1913/1915) von Kasimir Malewitsch. Der radikale Minimalismus dieses suprematistischen Meisterstücks – Verzicht auf bunte Farben, auf Darstellung außerkünstlerischer Realien, auf den Bildrahmen, Verzicht sogar auf die Signatur – wurde von der Kritik wie auch vom breiteren Publikum als ungeheuerliche Provokation empfunden, war man doch erstmals mit einem Gemälde konfrontiert, das alles verweigerte, was zuvor erwartet werden durfte: Repräsentation, Bedeutung, Symbol- und Stimmungswerte, künstlerische Originalität und technisches Können. Der Betrachter hatte (und hat) es also mit einem Werk zu tun, das ihm nicht wie üblich „etwas bringt“, sei’s als Lust-, sei’s als Erkenntnisgewinn, das ihm vielmehr etwas vorenthält, ihm einen Verzicht abverlangt.

Dass Malewitschs „nackte Ikone“ – so und ähnlich wurde damals sein „Schwarzes Quadrat“ charakterisiert – nichts Wiedererkennbares abbildet, mithin auch nichts Verifizierbares zu verstehen gibt, hat wesentlich zu der Kommentarflut beigetragen, von der das schlichte Bild in der Folge gleichsam zugedeckt, wenn nicht gar verdrängt wurde. Mag sein, dass es eben deshalb zu einem epochalen Schlüsselwerk avancierte. Der „weiße Grund“, auf dem sich das „schwarze Quadrat“ in seiner Nackheit und Nullität zeigt, ist zugleich die es umgebende marginale Leerstelle, in die sich beliebig viele, wie immer geartete Kommentare einschreiben können. Dabei kommt es längst nicht mehr darauf an, ob der Kommentator das Originalwerk oder eine Kopie in beliebigem Format vor sich hat – was sich zu dem Werk interpretativ sagen lässt, ließe sich auch dann sagen, wenn es dieses Werk gar nicht gäbe, wenn es lediglich als Konzept, als Idee bekannt wäre.

In einem meiner eigenen Beiträge zur Malewitsch-Forschung hatte ich einst vorgeschlagen, das „Schwarze Quadrat auf weißem Grund“ als einen opaken Text zu begreifen, als einen undurchdringlichen schwarzen Satzspiegel, der alle möglichen beziehungsweise denkbaren Texte virtuell enthält, aber keinerlei Bedeutung mehr freigibt. Statt auf etwas anzuspielen, das hinter dem Spiegel gelegen hätte, präsentiert Malewitsch das schwarze Quadrat als solches, und als rein malerische Gegebenheit kann es nicht rational verstanden, bloß sinnlich erfahren werden; da ihm keine vorgegebene Bedeutung innewohnt, kann es ebenso gut alles wie nichts bedeuten. „Nichts“, „Null“, „minus“, „negativ“, „gegenstandslos“ gehören denn auch zu den in Malewitschs theoretischen Schriften am häufigsten wiederkehrenden Begriffen.

Dem „suprematistischen“ Künstler geht es nicht zuletzt darum, die Malerei von ihren „literarischen“, „anekdotischen“, auch idelogischen Inhalten zu befreien und somit das Bildwerk der unmittelbaren ästhetischen Erkenntnis auszusetzen. Damit erlangt die Malkunst ihre „Suprematie“ über die künstlerische Literatur, die durchweg auf sprachliche Vermittlung angewiesen bleibt und deshalb nie authentisch (das heisst „als solche“) wahrzunehmen ist, sondern immer erst von der Klang- oder Schriftebene auf die Ebene der Bedeutung übertragen werden muss.

Während also in der Bildkunst die Farbe Schwarz als reines Wahrnehmungsdatum fungieren kann, ist sie in Sprachtexten lediglich ein Wort, das jene Farbe benennt und bedeutet, mit der einen Ausnahme allerdings, dass das gedruckte Wort selbst – und zwar jedes beliebige gedruckte Wort – als ein schwarzes beziehungsweise in seiner Schwärze wahrgenommen wird. Das Wort tritt dann, von seiner Bedeutung unabhängig, bloss als das in Erscheinung, „was Schwarz auf Weiss dasteht“ und demnach visuell gegeben ist. Doch üblicherweise sind Wort und Sprache nicht darauf angelegt, als rein optisches oder akustische Phänomene wahrgenommen zu werden, sondern darauf, als Bedeutungsträger dem Verständnis des jeweils Gemeinten zu dienen.

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Tinte und Druckerschwärze, welche gemeinhin die Materialität der Schrift ausmachen, haben der Textproduktion den ambivalenten Ruf einer „Schwarzkunst“ eingebracht, und als „Schwarzkünstler“ galten dementsprechend die Schriftgießer, Setzer, Kompositeure und Drucker. Auch bei elektronischer Textverarbeitung erscheinen die immateriellen Schriftzeichen in aller Regel schwarz auf weißem Grund. Literatur in weitestem Verständnis bleibt somit als Textgestalt aufs Engste mit der Farbe Schwarz verbunden.

Dies gilt freilich genauso auf der Bedeutungsebene. Denn das Wort „schwarz“ steht keineswegs nur für die gleichnamige Farbe, es bezeichnet konventionellerweise auch so unterschiedliche Phänomene wie Trauer, Vergessen, Schatten, Abgrund, Nacht, Anarchie und Angst. Metaphorisch kann demnach das Wort „schwarz“ zur „Schwarzmalerei“ werden, wenngleich im Unterschied zur tatsächlichen Schwarzmalerei eines Frans Hals oder Edouard Manet, bei der die schwarzen Farbflecken und -flächen einen zwar dominanten, aber doch integralen Anteil an der bildlichen Darstellung (etwa eines Wamses, Zylinders oder eines Lederschuhs) haben, ohne darüber hinaus etwas Metaphysisches bedeuten zu sollen.

Die Schwärze der Schrift wird konterkariert durch die Weiße des leeren Blatts, die – gleichsam als tabula rasa oder als degré zéro – seit jeher den Horror in so manchem Schreibenden hervorgerufen hat. Doch auch das Wort „weiß“ wird automatisch mit Bedeutungen aufgeladen, die der Farbe Weiß äußerlich sind – Reinheit, Unschuld, Leichtigkeit, Grenzenlosigkeit, Höhe. Als realisierte Dingsymbole dafür gelten unter anderm der Schnee, die Milch, die Wolke, die Blüte oder auch der Schwan. Ungewöhnlich ist indes (zum Beispiel bei Rose Ausländer oder bei Georg Trakl) die Evokation des „weißen Schlafs“.

Im Deutschen werden die Assoziationsmöglichkeiten zusätzlich durch die Klangähnlichkeit von „weiß“ und „weis(e)“ sowie durch die Homophonie von „weiß“ (Farbe) und „weiß“ (zu „wissen“) erweitert; man lese etwa bei Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau („Auff ihre schultern“, 1697):

Ist dieses schnee? nein / nein / schnee kan nicht flammen führen.
Ist dieses helffenbein? bein weiss nicht weis zu seyn.

In einem Preisgedicht von Catharina Regina von Greiffenberg „Auf die blühenden Bäume“ (1693) heißt es entsprechend:

Weis’ und weiße Kunst-gespunst
klares Stern-Geweb’ und Kunst!

Der weiße „Frühlings-Flor“ wird hier einerseits mit einer „Schwanen-Schar“ verglichen, anderseits mit „Kreide-weißem Blüh-Papier, auf dem schon bald die „schwarzen Kirschen“ sich einschreiben werden.Fromme Naturbetrachtung und „Frühlings-Lust“ werden damit auf eine metapoetische Lesart hin geöffnet. Durch Barthold Hinrich Brockes erfährt diese bemerkenswerte Vorgabe um 1724 ihre Entfaltung zu einem Meisterwerk deutscher Dichtung, „Kirsch-Blühte bey der Nacht“, worin Weiß und Schwarz als Gegensatzpaar herausgestellt, gleichzeitig aber auch ineins gesetzt werden mit Verweis auf „des Mondes sanftes Licht“, das „so gar den Schatten weiß“ erscheinen lässt und die Erde jeglicher Schwärze enthebt:

Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden
Was weißers angetroffen werden.

Doch erweist sich dann die weiße Pracht der Kirschblüten als noch weißer, ja, als das Weißeste überhaupt – „ein weißes Licht Das mir recht in die Seele strahlte“:

Sah’ ich von ungefähr
Durch alle Blumen in die Höhe,
Und ward noch einen weißern Schein,
Der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar,
Fast halb darob erstaunt, gewahr.
Der Blühte Schnee schien schwarz zu seyn
Bey diesem weißen Glanz…

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Dass Schwarz und Weiß auf metaphorischer Ebene keineswegs prinzipiell als Gegensätze gelten müssen, ist durch das Wort «schwarzweiß» bestätigt, das gleichermaßen den Unterschied und die Zusammengehörigkeit von Schwarz und Weiß festhält, dies etwa in Bezug auf schwarzweiße Foto- oder Filmbilder, auf das Nebeneinander von Schwarz und Weiß beim Zebra, bei der Elster (naturgemäß) oder beim Schachbrett (konzeptuell). Die Relativität des Gegensatzes zeigt sich im Übrigen beispielhaft darin, dass Leere, Nichts und Tod je nach kulturellem Kontext bald mit der Farbe Schwarz, bald mit Weiß assoziiert werden. In Gottfried Kellers sentimentalen Strophen auf eine „Winternacht“(1851), die den Gang über einen zugefrorenen See und die unmögliche Begegnung mit einer vom Eis eingeschlossenen Nixe zum Thema haben, sind Schwarz und Weiß ebenfalls ineinander vermengt und bleiben gleichwohl voneinander geschieden:

Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied;
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit Glied für Glied.

Vor einem „dünnen Glase“ steht auch das lyrische Ich bei Ingeborg Bachmann, wenn es sich in der Früh „vor einem Spiegel aus Eis“ das Haar kämmt; das Gedicht „Tage in Weiß“ (1956) gerät ihr zu einer kleinen Enzyklopädie der „Weißheit“, die vom Eis bis zur Weißglut und von der Unschuld bis zum Totenhemd so manches bereithält, was konventionellerweise der Farbe Weiß zugeordnet wird. Auch das „unbeschriebene Land“ der weißen Seite, die auf die Prägung durch den Schreibstift wartet, kommt in diesem Gedicht – einem Liebeslied – zur Sprache.

In diesen Tagen steh ich auf mit den Birken
und kämm mir das Weizenhaar aus der Stirn
vor einem Spiegel aus Eis.

Mit meinem Atem vermengt,
flockt die Milch.
So früh schäumt sie leicht.
Und wo ich die Scheibe behauch, erscheint,
von einem kindlichen Finger gemalt,
wieder dein Name: Unschuld!
Nach so langer Zeit.

In diesen Tagen schmerzt mich nicht,
dass ich vergessen kann
und mich erinnern muss.

Ich liebe. Bis zur Weißglut
lieb ich und danke mit englischen Grüßen.
Ich hab sie im Fluge erlernt.

In diesen Tagen denke ich des Albatros’,
mit dem ich mich auf-
und herüberschwang
in ein unbeschriebenes Land.

Am Horizont ahne ich,
glanzvoll im Untergang,
meinen fabelhaften Kontinent
dort drüben, der mich entließ
im Totenhemd.

Ich lebe und höre von fern seinen Schwanengesang!

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Das Bedeutungsregister der Farbe Schwarz ist wohl ebenso breit aufgefächert, weist aber eine größere Affinität zur Begriffs- und Gefühlswelt auf als zu konkreten Dingen. Konkret verbindet sich die Vorstellung von Schwarz am ehesten mit Kohle, mit Blei, mit Ebenholz, mit dem Raben, mit Kirschen und mit besonders dunklen oder – merkwürdig! – mit besonders „heißen“, also begehrlichen oder sehnsüchtigen Augen; dazu kommen, schon weniger konkret, der Schatten, die Nacht und die Ohnmacht. Einen alltäglichen Praxisbezug haben „das Schwarze unterm Nagel“ und „das Schwarze“, in das man (ursprünglich auf der Zielscheibe) trifft, wenn man Recht hat beziehungsweise wenn man richtig gezielt und getroffen hat.

Das eschatologische Bild der „schwarzen Sonne“, das in der europäischen Dichtung zwischen Gérard de Nerval und Ossip Mandelstam zahlreiche Varianten kennt, scheint in der deutschsprachigen Dichtung kaum Spuren hinterlassen zu haben – es sei denn, man lese Adalbert Stifters grandiose Beschreibung der Sonnenfinsternis von 1842 als Prosapoem. Ins Kosmische scheint die Schwärze allerdings dennoch auszugreifen, wenn Wolfdietrich Schnurre (in „Gospel“, 1964) über Trauer, Nacht, Vergessen und Schatten sich dem Göttlichen anzunähern versucht und dabei zur Erkenntnis gelangt:

Nichts ist schwärzer als Gott;
alles, was schwarz ist,
hat seine Schwärze
von ihm.

Genau so gut könnte man mit Ernst Jandl sagen, Gott sei „rot“ oder, mit Johannes Poethen, er sei „weiß“; denn welche Farbe dem Unendlichen und Allgegenwärtigen zukommt, ist nicht auszumachen und außerdem auch ohne Belang, da ein allgegenwärtiger und unendlicher Gott nicht auch noch irdische Eigenschaften haben kann. Doch für uns hat das gesamte emotionale Spektrum, zu welchem außer Schwarz und Weiß natürlich auch Rot, Blau und Gelb gehören, vielfältige Geltung. Davon zeugt allein schon der doch eigentlich farblose Kontrast Schwarzweiß, der zumindest im Gedicht die unwahrscheinlichsten symbolischen, religiösen, psychologischen und auch politischen Beziehungen eingehen kann, was durch einige Teilzitate abschließend belegt sei:

Und Blut zu sprühn aufs schwarze Blatt der Zeit. (Henckell) – Auf weißem hellwachem Papier / in die Irre gehen. (Günter Grass) –.im Reichtum der Naturen / Nur schwarz und weiße Schachfiguren. (Emanuel Geibel) – Schwarzer Himmel, weiße Wolken, / Zebra-Nacht – (Georg von der Vring) – Weiße schwalben sah ich fliegen / Schwalben schnee- und silberweiß / Sah sie sich im winde wiegen / In dem winde hell und heiß… Große raben sah ich flattern / Dohlen schwarz und dunkelgrau / nah am grunde über nattern / Im verzauberten gehau. (Stefan George) – Weiss sind Gelehrter Degenscheiden, / Denn Unschuld pflegt sich weiß zu kleiden. (Erich Kästner) – Solch große schwarze Augen, / Solche hat die Tugend nicht. /…/ Lass dein weißes Herz mich küssen – Weißes Herz, verstehst du mich? (Heinrich Heine) – Und so fort.

Anmerkung der Redaktion:

Die zitierten Gedichte sind einer jüngst erschienenen Anthologie entnommen, die Gabriele Sander u.d.T. „Schwarz-Weiß-Gedichte“ für den Reclam Verlag (Stuttgart 2009) zusammengestellt hat; die Sammlung enthält ausschließlich deutschsprachige Lyrik – darunter manch ein zu Unrecht vergessenes Stück − aus der Zeit zwischen Barock und Gegenwart.

Felix Philipp Ingold lebt als Schriftsteller, Publizist und Übersetzer in Romainôtier/Vaud; jüngste Veröffentlichungen: „Gegengabe“ (Poesie und Prosa, 2009); „Faszination des Fremden“ (Essay, 2009); als Herausgeber: „Fehler im System“ (Sammelwerk, 2008); als Übersetzer: Guillaume Apollinaire, „Watte in den Ohren“ (Gedichte, 2010).

Titelbild

Gabriele Sander (Hg.): Schwarz-Weiß-Gedichte.
Reclam Verlag, Stuttgart 2009.
119 Seiten, 6,90 EUR.
ISBN-13: 9783150107232

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