Klopstocks totaler Krieg

Zur Neuedition von Klopstocks Hermann-Dramen

Von Mark-Georg DehrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mark-Georg Dehrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ist Hermann tot?“ So fragt die ihrerseits sterbende Thusnelda ganz am Ende von Friedrich Gottlieb Klopstocks Dramentrilogie über Arminius-Hermann. Was sie tatsächlich als Frage nach dem Schicksal des Gatten meint, wird für den zeitgenössischen Leser zur Aufforderung: Der Hermann des Stückes ist tot – aber gerade deshalb gelte es, ihn in der Gegenwart neu zu beleben, seine Nachfolge zu sichern.

Der Wille zur Hermann-Nachfolge durchzieht die gesamte deutsche Neuzeit. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts interessierten sich die Humanisten und Reformatoren für die germanische Vergangenheit: Die Erforschung der eigenen Ursprünge sollte nicht zuletzt Argumente liefern gegen Ansprüche des Papstes jenseits der Alpen. Seitdem boten sich Hermann und seine Schlacht als Zentralelemente eines nationalen Mythos an. Das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts trieben die Hermann- und Germanen-Begeisterung auf ihren Höhepunkt. Noch heute kennt jedes Kind die Bildimagination des 19. Jahrhunderts: Das trotzig erhobene Schwert des Cheruskers und sein Flügelhelm sind so geläufig wie das Einauge des Zyklopen und Pinocchios hölzerne Nase .

Der Mythos stützt sich historisch auf wenige römische Quellen. Velleius Paterculus, Tacitus und einige andere scheiben von einer Niederlage, die der cheruskische Fürstensohn und römische Bürger Arminius im Jahr 9 der christlichen Zeitrechnung den Legionen des römischen Statthalters Varus bereitet hat. Damit daraus ein nationales Fanal werden konnte, bedurfte es einiger nur scheinbar geringfügiger philologisch-historischer Grundannahmen. Die alten ‚Germanen‘, wie man sie aus den Quellen herauspräparieren konnte, mussten als Ahnen der jeweils gegenwärtigen ‚Deutschen‘ angesehen werden. Und es musste vorausgesetzt werden, dass die Deutschen von ihren ‚germanischen‘ Verwandten etwas für ihr eigenes zukünftiges ‚Schicksal‘ zu lernen hätten. Auf diese Weise historisch gerüstet, nahm die Aneignung von Arminius als ‚deutscher Geschichte‘ ihren Lauf. Konsequenterweise empfand bereits Martin Luther den latinisierten Namen als Fortsetzung der römischen Fremdbestimmung. Er popularisierte die – später philologisch widerlegte – Eindeutschung ‚Hermann‘. Auch die Perspektive auf die Schlacht änderte sich: Aus deutscher Sicht musste die Varus- zur Hermannsschlacht werden. In neuerer Zeit jedoch wurde diese Aneignungsgeschichte immer wieder philologisch und archäologisch gebrochen. Das Denkmal für die Hermannsschlacht im Teutoburger Wald etwa ist so vom nationalen zum ironischen Symbol geworden: Es steht am falschen Ort.

Klopstocks Dramentrilogie, die von 1769 bis 1787 erschien, ist ein herausragender Markstein in der Geschichte des Hermann-Mythos. Das zeigt schon der Titel des ersten Teils: Er beansprucht selbstbewusst jene deutsche Deutungshoheit – erst von Klopstocks Possessivkonstruktion ‚Hermanns Schlacht‘ aus gewann der Begriff der ‚Hermannsschlacht‘ die Selbstverständlichkeit, mit der ihn Heinrich von Kleist und Dietrich Grabbe über ihre Dramen setzten.

Mit seinen Dramen markiert Klopstock den Höhepunkt der deutschen Bardenbegeisterung, die nach der ‚Entdeckung‘, das heißt Fälschung, des ‚nordischen‘ Ossian seit 1760 die deutschen Haine belebte. Aber er verleiht ihr eine neue Qualität, indem er sie entschieden in die sonstige Überlieferung einbettet – vor allem Tacitus, aber auch Velleius Paterculus, Cäsar, Edda, Heliand und manches andere. Klopstocks Dramen zeugen von einer intensiven historisch-philologischen Anstrengung, die nach der umfassenden Konstruktion einer urdeutschen nationalen Identität strebt. Herausgegeben von Mark Emanuel Amtstätter ist seine Dramentrilogie nun innerhalb der historisch-kritischen Klopstock-Ausgabe erschienen.

Die drei Texte stehen an einem historischen Wendepunkt: Hier verwandeln sich die humanistischen, barocken und frühaufklärerischen Bestrebungen zur Herausbildung einer Kulturnation ‚Deutschland‘ in einen modernen Nationalismus. Dessen Geschichte in Deutschland kann ohne die Hermann-Trilogie schwerlich geschrieben werden.

Thusneldas zitierte Frage ist symptomatisch für jenen Wandel. Die Leserschaft, an die sie appelliert, beschränkt sich nicht mehr auf die Gelehrten oder die Adligen. Sie besteht idealiter aus der gesamten Sprach- und Kulturgemeinschaft – der Nation. Entscheidend ist, dass der Adressat in sich die Möglichkeit und Notwendigkeit verspürt, Hermann nachzufolgen. Das (volks-)aufklärerische Bildungsideal einer Teilhabe aller an der Diskursgemeinschaft ‚Publikum‘ hält auch die Option für einen modernen Nationalismus bereit.

Entsprechend arbeitet Klopstock in den Dramen konzentriert daran, seine Leser auf die Nation einzuschwören. Sie sollen erstens durch historische Gelehrsamkeit in die ‚nationale‘, also in ihre eigene Vergangenheit eingebunden werden. Der gelehrte Zugang, der die Germanen-Renaissance vom Humanismus an trug, wird zweitens durch eine ausgeklügelte Affektpolitik ergänzt. Nationale Geschichte zu rekonstruieren und den Empfindungshaushalt des Lesers systematisch auf sie auszurichten – nichts weniger ist Klopstocks Anliegen. Das Nationale soll die gesamte Existenz durchtränken.

Zunächst zum Historischen: Klopstock bindet seine Dramen eng an die römische Überlieferung an. Er benutzt Caesar, Velleius Paterculus und andere Quellen, im Zentrum aber steht Tacitus. Die unterschiedlichen Potentiale seiner Schriften nutzt Klopstock systematisch. Die ‚Annalen‘ schildern mit Arminius das große Individuum und sein kriegerisches Handeln. Hier erscheinen die Germanen als historische Agenten im traditionellen Sinne der res gestae. Die ‚Germania‘ dagegen bietet ein kulturgeschichtliches Panorama von Sitten, Religion und Volkscharakter. Klopstocks Dramen addieren beides: Während die Varusschlacht (‚Hermanns Schlacht‘) und die sechs Jahre spätere Lagerschlacht gegen Caecina (‚Hermann und die Fürsten‘) geschlagen werden, während Hermann in einem ‚germanischen Bürgerkrieg‘ von den anderen Fürsten umgebracht wird (‚Hermanns Tod‘) – während dieser Ereignisgeschichte also legen Klopstocks Germanen die Sitten und Eigenarten an den Tag, die die ‚Germania’ ihnen zuschreibt. Nahezu jedes Detail findet irgendwo in den Dramen Verwendung: Wenn die ‚Germania‘ beispielsweise ein Losorakel beschreibt, dann bestimmen Klopstocks Germanenpriester mit seiner Hilfe den Ausgang der Schlacht. Wenn Tacitus erwähnt, dass die Germanen kaum Eisen besäßen und auch nicht daran interessiert seien, dann prahlen Klopstocks Krieger damit, den hochgerüsteten Römern mittels bloßer Holzwaffen – und natürlich ihres Mutes und Opferwillens – zu trotzen.

Tacitus hebt vorzugsweise Dinge heraus, die sonderbar von der römischen Normalität seiner Leser abstechen. Entsprechend entsteht bei Klopstock ein Bild der ‚Deutschen‘ (so nennen sie sich im Stück selbst), das man getrost merkwürdig nennen kann. Dass Tacitus die Germanen als Verbund primitiver Völker schildert, deren Leben sich ganz auf den Krieg konzentriert, ist verständlich: Er schrieb über Feinde, die sich seit Jahrhunderten nicht besiegen lassen wollten. Aus römischer Perspektive war daher vor allem ihr kriegerisches Gebaren so interessant wie beunruhigend. Aber Klopstock nimmt diese Außenperspektive dankbar als Wesenskern des deutschen Charakters in Empfang. Dem modernen, kritisch-faszinierten Leser tritt ein Stammesleben entgegen, das emphatisch auf den Krieg fixiert ist. Zwar hören wir von Hermann und seinen Mitkämpfern, dass der Krieg der Sicherung der Nachkommenschaft diene und dem Erhalt der Gemeinschaft angesichts der imperialistischen Bedrohung. Aber als Begründung, warum diese Gemeinschaft denn in ihrer Identität erhalten werden solle, erfahren wir von Hermann und seinen Recken wiederum nur das Eine: Man führt den Krieg, um nach einem Sieg über die Römer weiterhin kriegsfähig sein zu können. Religion, Familie, Fortpflanzung und Politik scheinen bei Klopstock wesenhaft auf die Sicherung ‚nationaler‘ Wehrfähigkeit zu zielen. Germanischem Wesen ist der Krieg Selbstzweck.

Lediglich einmal, im dritten Stück, scheint ein Bild zivilen Lebens auf: Kurz vor Hermanns Tod treten Fischer, Jäger, Ackerleute und Schiffer vor ihn und besingen ihre jeweilige Tätigkeit. Dieser plötzliche Einbruch eines bukolischen ‚Nährstandes‘ in die Kriegslandschaft erscheint seltsam deplatziert, denn in den vorherigen Stücken wurde die Schlagkraft der Germanen gerade darauf zurückgeführt, dass die gesamte Gemeinschaft für den Krieg lebt – Männer, Kinder, Greise, Frauen, Priester und natürlich auch die Dichter beziehungsweise ‚Barden‘. Die Einführung einer solchen germanischen Lebensnormalität findet auch in Tacitus kaum eine Stütze: Glaubt man diesem, so faulenzen die Männer, wenn sie nicht jagen oder Krieg führen. Die Bestellung des Hauses überließen sie den Frauen, Alten und Schwachen. Als entsprechend dürftig setzt Tacitus den ökonomischen Ertrag dieses Lebens an, ernähre man sich in ‚Germania‘ doch überwiegend von geronnener Milch, Obst und Wild.

Für das, was Klopstock seinen Lesern vermitteln will, spielt dieses Zivilleben offensichtlich eine untergeordnete Rolle. Es geht den Hermann-Dramen vielmehr darum, die Affekte der Leser mittels der beständigen Imagination der Schlacht in eine enthusiastisch-patriotische Disposition zu bringen. Auch die Form entspricht dieser doppelten, historisch-affektiven Strategie: Die „Bardiete für die Schaubühne“ (so der Untertitel der Dramen) entfernen sich von der zeitgenössischen Tragödienpoetik, sie nutzen stark lyrische und epische Elemente. Auch darin sind sie abgestimmt auf den genannten Zweck: Die Schilderungen der germanischen Kultur unterfüttern das Vaterland historisch, die stimmungsvollen Bardiete versetzen den Leser in einen blutrünstigen Enthusiasmus. Er wird geradezu durch eine Schule der germanischen Historie und des deutschen Gefühls geschickt, so dass er recht gut weiß, welche Antwort das Stück von ihm erwartet, wenn Thusnelda am Ende ihre Frage stellt.

Die im vergangenen Jahr von Amtstätter herausgegebene Ausgabe der Hermann-Dramen ist die erste seit dem 19. Jahrhundert. Die historisch-kritische Klopstock-Edition kann sich, nachdem 2007 der letzte Briefband erschienen ist (nur das Register steht noch aus), nun verstärkt auf das Werk konzentrieren. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Herausgeber scheinen dabei groß zu sein. Während der Apparatband der ‚Gelehrtenrepublik‘ (erschienen 2003) eine Fülle von Material bot und starke interpretatorische Akzente setzte, konzentrierte sich Monika Lemmel in der Ausgabe der ‚Biblischen Dramen‘ (2005) auf das editorisch Wesentliche. Wie Amtstätter seinen noch ausstehenden Apparatband gestalten wird, darf mit Spannung erwartet werden.

Einige Fragen an die Edition seien angesichts des Textbandes erlaubt, wenn sie auch notwendig vorläufig bleiben müssen. Abweichend von den ‚Biblischen Dramen‘, wo die Lesarten separat dargestellt werden, wartet hier bereits der Textband mit einem unter die Dramen gesetzten Apparat auf. Darin scheinen handschriftliche Überarbeitungsspuren zweier Korrekturexemplare und Veränderungen der zweiten Ausgabe dargestellt zu sein. Beim dritten Drama, ‚Hermanns Tod‘, fehlt dieser Apparat, obwohl die zweite Ausgabe ebenfalls von der ersten abweicht. Auch die Unterschiede zwischen der gedruckten Widmung von ‚Hermanns Schlacht‘ und einer überlieferten handschriftlichen Fassung werden nicht dargestellt. Wird also der Kommentarband einen zweiten Apparat enthalten? Aus dem Textband geht leider nicht hervor, mit welchen Fassungen es der Leser zu tun hat. Es hätte nur einer knappen Legende bedurft, damit der vorliegende Teil auch alleine benutzbar geworden wäre.

Eine gute editorische Entscheidung ist es, die Betonungszeichen der zahlreichen Bardengesänge in „Hermanns Schlacht“ entsprechend der Erstausgabe zu reproduzieren. Die rhythmische Strukturierung verdeutlicht, wie intensiv Klopstock auch auf metrischer Ebene spezifisch ‚deutsche‘ Dichtungsformen zu rekonstruieren und wieder neu zu beleben meinte. Ein anderes Detail der Erstdrucke wird nicht beibehalten. Klopstock ließ die Regieanweisungen an den unteren Rand der Seite setzen und ordnete sie mittels Anmerkungszeichen den Sprechern zu. Die Neuausgabe integriert sie dagegen, wie in Dramendrucken üblich, in den szenischen Text. Aber auch durch diese Abweichung setzt Klopstock seine neue Gattung ‚Bardiet‘ von den dramatischen Konventionen ab.

Erst der Apparatband wird zeigen, ob Amtstätters insgesamt durchdacht wirkende Edition Fragen offen lässt. In jedem Fall kann man sich freuen, dass nun auch die gegenwärtigen Leser einfacher in das Totengespräch eintreten können, um Thusneldas Frage nach Hermann beantworten zu können. Ja, so fiele vielleicht unsere Antwort aus, Hermann ist nun schon seit längerem tot. Aber die Gegenfrage, warum er so viel länger lebte als er eigentlich sollte – diese Frage, Klopstocks Thusnelda, kannst Du uns nun beantworten helfen!

Titelbild

Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe VI: Hermann-Dramen. Band 1: Text.
Herausgegeben von Mark Emanuel Amtstätter.
De Gruyter, Berlin 2009.
341 Seiten, 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783110217780

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