Erwünschte Fremde

Wolfgang Kemp beschreibt in „Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900-1945“

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keinen fernen Spiegel der deutschen Verhältnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert der Hamburger Kunsthistoriker Wolfgang Kemp in seiner jüngst beim Hanser-Verlag erschienenen Studie über die „Abenteuer einiger Engländer in Deutschland“, wohl aber ein halbes Jahrhundert höchst unterhaltsamer englischer Literaturgeschichte. Tatsächlich kommen der Autor oder vielleicht auch die Verantwortlichen des Verlages mit diesem Untertitel der Sache, um die es tatsächlich geht, bedeutend näher, als das offenbar der diplomatischen Sprache entlehnte „Foreign Affairs“. Denn keiner der in dem Band genannten britischen Autoren bereiste Deutschland in offizieller Mission, sieht man einmal von der kurzen Nachkriegsphase ab, die Kemp in einem abschließenden Kapitel unter der ironischen Überschrift „Wacht am Rhein“ abhandelt.

Zwar kam für einige Briten wie den unsteten Herausgeber der renommierten „English Review“, Ford Madox Ford, das kaiserliche Deutschland durchaus als dauerhafte Heimstätte in Betracht und die überaus erfolgreiche deutsch-britische Autorin von Reiseromanen, Elisabeth von Arnim, lebte tatsächlich auch fast zwei Jahrzehnte recht komfortabel auf einem pommerschen Gut, doch an den Verhältnissen im Deutschen Reich zeigten beide in ihren literarischen Arbeiten erstaunlich wenig Interesse. Den stets mit finanziell prekären Verhältnissen kämpfenden Madox Ford, der trotz seiner verwandtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland später auf britischer Seite an der Westfront kämpfte, hatte tatsächlich nur das einfachere deutsche Scheidungsrecht angezogen, das ihm helfen sollte, von seiner ersten Frau zu finanziell erträglichen Bedingungen loszukommen. An einem literarischen Austausch mit deutschen Zunftgenossen lag ihm ebenso wenig wie dem jungen D.H. Lawrence, den es wiederum nur deshalb nach Deutschland zog, da er hier ungestört seine skandalträchtige Liebschaft mit Frieda von Richthofen, damals noch die Gattin eines biederen Philologieprofessors aus Nottingham, auszuleben hoffte. „Was für verdammte Narren diese Engländer sind, welche sich vor der großen wilden Bestimmung ihres Wesens abgrenzen“, resümierte der zeitlebens von Tuberkulose bedrohte Autor. „Seit ich in Deutschland bin, ist meine kleine, armselige Traurigkeit verschwunden.“

Ford, der eigentlich nach seinem deutschen Vater Ford Madox Huefer hieß, schloss seinen großen Deutschlandroman – sein großes Auk-Ei, wie er es ironisch nannte – noch kurz vor Kriegsausbruch ab. Dessen Plot spielte zwar in einem mondänen hessischen Kurbad, handelte aber ausschließlich von den amourösen und ehebrecherischen Verwicklungen mehrerer gut gestellter Briten, für die der deutsche Handlungsort letztlich nur eine eher sekundäre Kulisse abgab. Ford vermied es darin ebenso wie Elisabeth von Arnim in ihrem erfolgreichen Reiseroman „Abenteuer auf Rügen“, auf die Verhältnisse des Gastgeberlandes direkt Bezug zu nehmen oder gar kulturanthropologische Betrachtungen in die Schilderungen einzuflechten.

Nach Kemps Ansicht gelang ihnen aber erst damit ein nicht intendierter und fraglos authentischerer Blick auf die deutschen Verhältnisse. Es war die absichtslose Sicht des erwünschten Fremden, der das fremdartige kontinentale Leben eher beiläufig erfasste und damit unverzerrt wiedergab. Ein intellektueller Austausch mit Autoren des Gastgeberlandes fand ebenso wenig statt. Ford, der sich vor dem Ersten Weltkrieg insgesamt dreimal in Deutschland aufgehalten hatte, rühmte sich später sogar, nie ein deutsches Buch in seinem Gepäck mitgeführt zu haben.

Auch nach dem Ersten Weltkrieg, der großen Epochengrenze, reisten junge britische Schriftsteller, darunter W. H. Auden, Christopher Isherwood oder Stephen Spender nach Deutschland, das ihnen jetzt wie eine neue Kolonie vorkam, um der biederen bürgerlichen Enge des Heimatlandes zu entgehen. Nicht nur die günstigen Lebenshaltungskosten lockten die eher mit knappen Budgets ausgestatteten lebenshungrigen und noch unbekannten jungen Männer in das freizügige Berlin, das seine preußische Patina so plötzlich abgelegt zu haben schien, sondern auch die homoerotischen Möglichkeiten einer dort geradezu wuchernden Stricherindustrie. Das Waste Land, das T.S. Eliot in seinem berühmten Gedicht zu Beginn der 1920iger-Jahre beschrieben hat, verwandelte sich in den Augen dieser abenteuerlustigen Briten plötzlich in eine Art Südsee, in der sonnengebräunte und starke männliche Körper sich bereitwillig den Fremden darboten. Für literarisch interessierte Briten war die taumelnde Weimarer Republik jenseits aller politischen Verwicklungen vor allem das Land der endlosen Sommer und einer auf der heimischen Insel undenkbaren libidinösen Freiheit.

Auch in dieser Phase der deutsch-britischen Begegnungen wiederholte sich, so Kemp, die subtile Gleichgültigkeit der angehenden Literaten gegenüber den kulturellen oder literarischen Eigenarten ihres Gastgeberlandes. Man war auf die handfesten Vorteile aus, die eine zum preußischen Bangkok mutierte Reichshauptstadt der erotischen Fantasie junger Männer bot, schaffte es aber zugleich, ausgerechnet in Deutschland das Fundament für die eigene literarische Karriere zu legen. Ein großer Teil der englischen Literaturgeschichte vollzog sich eben nicht auf der Insel und Deutschland war ein ebenso wichtiger Teil dieser Geschichte wie die Riviera oder Rom.

Wo sich Briten tatsächlich auf die deutschen Verhältnisse einließen, wurde es rasch politisch und endete oft tragisch, wie im Fall der britischen Modeikone Unity Mitfort. Die mondäne junge Frau verstand es zum Erstaunen des „Führers“ und zum Leidwesen seiner Entourage mit beachtlichen Geschick und Beharrlichkeit, dessen Nähe zu suchen und oft genug zu finden. Erst der Kriegsausbruch beendete abrupt diese eigentümliche Liaison, die Hitler allein schon wegen der Öffentlichkeit nicht zu weit treiben konnte. Mitford unternahm 1939 einen Suizidversuch, von dem sie sich nie mehr erholte und an dessen Folgen sie schließlich drei Jahre nach Kriegsende in ihrem Heimatland verstarb. Verhängnisvolle Konsequenzen hatte ihre Nähe zum Faschismus auch für William Joyce und Ezra Pound. Dem ersten brachte seine Radiokommentare für Goebbels Propagandaministerium nicht nur den berüchtigten Spitznamen Lord Haw Haw ein, sondern auch das Todesurteil wegen Hochverrats, das am 3. Januar 1946 vollstreckt wurde. Ein Schicksal, dem der anglisierte Amerikaner Pound wohl wiederum nur durch einen fast dreizehn Jahre währenden Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt entkommen konnte.

Kemp erzählt seine erstaunliche Geschichte einiger Engländer in Deutschland wie einen Roman: lebendig, facettenreich und er entwirrt dabei mit gekonnter Leichtigkeit das sich über ein halbes Jahrhundert hinziehende dichte Geflecht literarischer Zirkel, deren Angehörige sich zwar als Engländer fühlten, die aber längst schon Europäer geworden waren.

Wenn Evelyn Waugh daher in der Endphase des Krieges bemerkte, dass die Deutschen inzwischen die einzigen seien, die Europa gegen die Welt repräsentierten, kam dies der gängigen Nazipropaganda nahe, entsprang aber auch einem Abwehrreflex gegen eine drohende Amerikanisierung Europas. Autoren wie Stephen Spender oder T.S. Eliot, die in den Jahren zwischen 1945-1947 tatsächlich deutsche Autoren in der britischen Zone aufsuchten, um die Möglichkeiten eines europäischen Geisteslebens auszuloten, stießen nun ihrerseits bei Ernst Jünger oder Gottfried Benn auf wenig Gegenliebe. Der letztere lehnte sogar eine Begegnung mit Eliot ab: Er gedenke diese herumreisenden Stars nicht zu amüsieren. Damit war – wenn wohl auch unwissentlich – den Engländern immerhin ein Teil ihres freundlichen Desinteresses vergolten.

Für die oft ausführlichen Literaturzitate gibt Kemp immerhin Quellenhinweise, ein Anmerkungsapparat und ein ausführliches Verzeichnis der verwendeten Literatur fehlen indes. Eigentümlich wirkt die Achtlosigkeit des Autors – wie wohl auch die seines Lektors – gegenüber präzisen Datumsangaben. Fast sämtliche Lebensdaten der im Buch erwähnten Autoren sind entweder falsch angegeben oder stimmen nicht mit kontextuellen Angaben überein. Man mag das als Nachlässigkeit werten oder vielleicht sogar als die überhebliche Gleichgültigkeit eines Kunstprofessors gegenüber harten Fakten. Dann hätte es immerhin Methode.

Titelbild

Wolfgang Kemp: Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900-1945.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
383 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235182

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