Zu dieser Ausgabe

Dass es die Nationalsozialisten waren, die in Deutschland die Literaturkritik verboten, sagt schon alles. Antisemiten galt das feuilletonistische Schreiben schon immer als paradigmatische Beschäftigung „des Juden“. Es erschien ihnen als „zersetzende“ und „rabulistische“ Tätigkeit ewig „nörgelnder Intellektueller“, die immer nur das, was andere in mühsamer Kleinarbeit „aufgebaut“ hatten, als „unpraktische Nichtskönner“ aus dem Hinterhalt mit ihren publizistischen „Dolchstößen“ zunichte machen wollten.

Walter Benjamin kannte diese Vorurteile. Fast hat man den Eindruck, er habe sie herausfordern wollen, als er in seinem berühmten Fragment „Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen“ das Genre des Verrisses mit einer provokanten Bemerkung lobte, die auf eine klassische antisemitische Verschwörungstheorie anzuspielen scheint. Bekanntlich glaubten Antisemiten seit Jahrhunderten, dass die Juden Christenkinder raubten, um sie zu schlachten und ihr Blut heimlich zum Backen von Matze zu verwenden. „Echte Polemik“, schreibt nun Benjamin, als ginge es ihm um eine sarkastische Affirmation dieser absurden Wahnvorstellung, „nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet“.

Wer kritisiert, hat Feinde. Im Ernstfall bringt es aber auch nichts, passiv zu bleiben und sich still anzupassen: Dass man es als Verfolgter letztlich anstellen kann wie man will, und die Antisemiten, die einem in aller Welt den Tod an den Hals wünschen, dennoch kaum zum Schweigen bringen kann, dafür gäbe es viele Beispiele – auch und gerade heute, und zwar beileibe nicht nur in der Literatur.

Auch der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, dessen 90. Geburtstag unsere Zeitschrift gebührend begehen möchte, musste die furchtbare Gültigkeit dieser entmutigenden Regel in seinem Leben immer wieder erfahren, ohne dass er deshalb aufgegeben hätte. Nachlesen kann man das unter anderem in seiner Autobiografie „Mein Leben“, die 1999 erschien und 2009 verfilmt wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich Marcel Reich-Ranicki in der Bundesrepublik als einer der wichtigsten Literaturkritiker. Der deutschsprachige Literaturbetrieb verdankt ihm viel. Literaturkritik.de nimmt den runden Geburtstag dieses bis heute so überaus wichtigen Anwalts und Vermittlers der Literatur zum Anlass, die Juni-Ausgabe schwerpunktmäßig jener wunderbaren Tätigkeit zu widmen, die sich der streitbare Jubilar als Lebensberuf wählte und die unserer Zeitschrift den Namen gibt.

Mit den allerbesten Wünschen zum Geburtstag
und herzlichen Grüßen, auch an unsere Leser,
Jan Süselbeck