Ein „glückliches Ereignis“ unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts

Der von Ricarda Dick herausgegebene Briefwechsel zwischen Werner Kraft und Wilhelm Lehmann liefert ein Panorama deutscher Geistesgeschichte von 1931 bis 1968

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei voluminöse Bände umfasst die Korrespondenz zwischen Werner Kraft und Wilhelm Lehmann, knapp 600 Briefe wechselten die ungleichen Freunde zwischen 1931 und 1968. Auch wenn es sich bei den Briefpartnern nicht gerade um kanonisierte Autoren handelt: Was die von Ricarda Dick besorgte Edition präsentiert, ist ein „Glückliches Ereignis“ unter den historischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts.

In persönlicher wie in zeit- und kulturgeschichtlicher Hinsicht handelt es sich bei dieser Brieffreundschaft um eine überaus bemerkenswerte Konstellation. Wilhelm Lehmann, dem ‚Magischen Realisten‘ und vielleicht eigenwilligsten Naturlyriker des 20. Jahrhunderts, steht mit Werner Kraft ein ‚homme de lettres‘ und Publizist gegenüber, der bereits in seinem ersten Brief offen gesteht, dass er die „Erlebnisweise“ des Gegenübers „wohl wegen der tiefen Naturverbundenheit […] eigentlich als fremd empfinde“; „nachhaltigen Eindruck“ habe auf ihn allein die „künstlerische[…] Gestaltung“ von Lehmanns Gedichten gemacht.

Vor allem aber führen die zeitgeschichtlichen Umstände bald zu völlig unterschiedlichen Lebenssituationen: Lehmann, im Hauptberuf Gymnasiallehrer in Eckernförde, bleibt und arbeitet unter dem nationalsozialistischen Regime weiterhin in Deutschland und dort sogar Bücher publizieren; Kraft hingegen wird aufgrund seiner jüdischen Abstammung 1933 als Hannoveraner Bibliotheksrat entlassen und emigriert über Stockholm, London und Paris nach Jerusalem, wo er sich mit einer völlig fremden Sprache und Kultur sowie mit einer zunächst höchst unsicheren beruflichen Perspektive konfrontiert sieht.

Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund nicht nur, dass die Korrespondenz, wenn auch seit 1937 auf dem Umweg über Dänemark, noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs fortgeführt werden kann, bevor sie dann für sechs Jahre abbricht. Erstaunlich ist aus heutiger Perspektive vielmehr auch, dass der Briefwechsel weiterhin von geradezu unbegrenztem gegenseitigem Verständnis geprägt ist. So kommt es nicht zu Spannungen, wenn Lehmann bereits im April 1933 auf die drohende Exilierung des Freundes nur mit dem Hinweis auf eigene Beschwerden reagiert. Ohne merkliches Erstaunen nimmt dieser es auch hin, wenn ihm Lehmann drei Monate später mitteilt, er fühle sich im Nazi-Deutschland „noch exilierter“ als der Briefpartner oder ihn im Juli 1934 gar fragt: „Wissen Sie einen Trost?“

Zu erklären ist dies allein dadurch, dass die Beziehung schon vor 1933 auf einer gemeinsamen radikalen kulturkritischen Opposition gegenüber der eigenen Zeit beruht. Der entscheidende Impuls für die Freundschaft ist, wie Kraft bereits im Mai 1932 schreibt, die „tiefe und dauernde Sehnsucht nach Menschen […], mit denen sich leichter die Last, in so frevelhafter Zeit zu leben […], ertragen ließe“. Die Freunde empfinden sich selbst als einsame Vertreter des Wahren, Guten und Schönen in geistloser Zeit, als Vertreter eines ‚besseren Deutschland‘; beide empfinden schon vor dem Beginn der NS-Diktatur die ‚innere Emigration‘ als adäquate Lebensform. Im Zeichen dieser gemeinsamen Haltung wird dann auch die ‚Machtergreifung‘ Hitlers wahrgenommen: „Wir leben, Sie wie ich, im Exil, lassen Sie uns einander in unserer Wehrlosigkeit die Hände reichen“, schreibt Lehmann am 30. Januar 1933. Und eineinhalb Jahre später bekennt Werner Kraft: „Ihre Gedichte ergreifen mich. Sie berühren mich immer wieder wie der letzte, der tragische Aufschrei deutscher Natur vor dem endgültigen Verstummen“.

Ein zeitgeschichtliches Dokument ist der Briefwechsel somit weniger, indem politische Ereignisse kommentiert würden als vielmehr durch die Art und Weise, wie hier ein Geistes-Reich gegen die Zumutungen der Zeit errichtet wird. Die Briefpartner diskutieren nicht nur über ihre eigenen Werke, obwohl insbesondere Werner Kraft immer wieder überaus detailliert und kritisch Stellung zu Lehmanns Texten nimmt. Die Briefe liefern vielmehr auch, oft über Seiten hinweg, Exzerpte aus Werken anderer Autoren, exzessiv lassen die Brieffreunde auf diese Weise einander an eigenen Lektüreerfahrungen partizipieren. Die literarischen Vorlieben stimmen weitgehend überein, dabei stehen Goethe oder Hofmannsthal neben Kafka, Joyce und Else Lasker-Schüler, deren Werke Kraft ediert. Argwöhnisch beäugt wird nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hingegen der Erfolg von Autoren wie Gottfried Benn, Ernst Jünger und Günter Eich.

Nach 1949 ändert sich der Charakter der Briefe in dem Maße, in dem sich Lehmann in den westdeutschen Literaturbetrieb integriert sieht – er wird in mehrere Akademien aufgenommen, eine Gesamtausgabe seiner Werke erscheint; nun wird zunehmend über das Innenleben des Literaturbetriebs geplaudert und Kollegenschelte betrieben. Doch wiederum spricht es für die Qualität und Stabilität dieser Beziehung, dass Kraft offen den Vorwurf ausspricht, „daß Du gegen die jüngere Dichtergeneration ungerecht bist“, und als Beispiel Ingeborg Bachmann nennt.

Für die Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität des literarischen und intellektuellen Deutschland im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts ist dieser Briefwechsel somit ein ebenso wichtiges wie bewegendes Dokument. Die Edition ist sehr zuverlässig kommentiert, auch wenn sich die Herausgeberin zuweilen etwas spröde auf die Angabe bibliografischer Daten beschränkt; zusätzlich sind die ausführlichen Register überaus nützlich. Präsentiert wird hier ein Panorama deutscher Geistesgeschichte in der Mitte des 20. Jahrhunderts aus vielleicht abseitiger Perspektive, bei dem es sich aber gerade deshalb um ein faszinierendes und scharfes Bild der Zeit handelt.

Titelbild

Werner Kraft / Wilhelm Lehmann: Briefwechsel 1931-1968. 2 Bände.
Herausgegeben von Ricarda Dick.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
1469 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302358

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