Massenmorde als Fluchtpunkt

Helmut Walser Smith sucht „Kontinuitäten der deutschen Geschichte“

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„In der Malerei zieht ein Fluchtpunkt die Aufmerksamkeit des Betrachtenden auf sich und bestimmt die relative Größe des Details im Gesamtgemälde. […] In diesem Sinne geben Fluchtpunkte der Geschichtsschreibung Konturen, ob wir das wollen oder nicht. Als Hitlers Machtergreifung 1933 den Fluchtpunkt darstellte, legten Historiker Deutungen des 19. Jahrhunderts vor, die Deutschlands autoritäre Traditionen und illiberale Politik in den Mittelpunkt stellten. […] Der neue Fluchtpunkt 1941 legt […] unterschiedliche Formen der Kontinuität nahe, da es […] nicht um das politische Versagen der Eliten geht, sondern um den Zusammenbruch des Mitgefühls unter gewöhnlichen Menschen.“ So führt Helmut Walser Smith in „Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen Geschichte“ ein.

Dass 1941 als „Fluchtpunkt“ erprobt wird, kann verblüffen. Die Wannsee-Konferenz, mithin das Jahr 1942, läge näher. Smith jedoch weiß gute Gründe anzugeben: „Ich habe ganz bewusst das Jahr 1941 und nicht Auschwitz als Fluchtpunkt gewählt. […] Weder Hochtechnologie noch ausgeklügelte Organisation kennzeichneten die Morde, die mit den Einsatzgruppen im Sommer 1941 begannen, und die Massenmorde im ersten Todeslager – Chelmno – im Dezember desselben Jahres.“ Deutlicher noch: „1941 als Fluchtpunkt zu wählen heißt, den Völkermord, seine Brutalität und Primitivität in den Vordergrund zu rücken.“ Täterforschung, wie Smith sie begreift, weist auf den „archaischen“ Charakter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hin: Millionen wurden hier zunächst ‚konventionell‘, meist durch Erschießen, umgebracht. Mit Blick auf solche Methoden des Tötens stellt der Holocaust kein welthistorisches Novum dar. Diese Einschätzung wird nicht ‚von rechts‘ und mit revisionistischem Gestus vorgebracht, vielmehr in der Absicht, ‚deutsche Schuld‘ mit dem Hinweis aufs Morden ‚Auge in Auge‘ deutlicher zu konturieren.

Vor allem möchte Smith die ‚longue durée‘, den Blick durch Jahrhunderte, für die Holocaust-Forschung nutzbar machen: „Je mehr sie sich der Gegenwart nähern, desto chronologisch kurzsichtiger werden Historiker: Fragen nach Kontinuitäten und Brüchen werden auf die jüngste Vergangenheit begrenzt. […] Die Folge ist aus meiner Sicht ein Verständnis deutscher Geschichte, das vor der chronologischen Tiefe und der Betrachtung historischer Zusammenhänge über längere Zeitspannen hinweg zurückscheut.“ Dass eher mittelalterliche als moderne Geschichte unter Gesichtspunkten ‚langer Dauer‘ aufgefasst wird, hat gleichwohl gute, sachliche Gründe. Sie sind unter anderem im gesteigerten Entwicklungstempo moderner Gesellschaften zu suchen: Zeitabschnitte ‚langer Dauer‘ schrumpfen zur kurzen Dauer zusammen. Was insbesondere die deutsche Geschichte betrifft, ist zu berücksichtigen, dass Deutschland ein junger Kulturraum und Staat ist. Alle Sondierungen ins Mittelalter sind mit dem Makel behaftet, nicht ‚deutsche‘ Geschichte im eigentlichen Sinne zu erkunden.

Smith bietet ein breit angelegtes Resümee der Wissenschaftsentwicklung, mit Schwerpunkten unter anderem auf Friedrich Meinecke, Fritz Fischer und Daniel Jonah Goldhagen. Er zögert nicht einzugestehen, wie sehr er selbst von jüngsten Fortschritten der Täterforschung und kollektiven Biografie profitiert. Mehr noch: Smith nimmt in Anspruch, dem Hauptpfad zeitgenössischer Forschung zu folgen und diese weiter voranzutreiben: „Der Schwerpunkt der neueren Forschung liegt nicht so sehr auf dem Versagen der deutschen Demokratie als vielmehr der Verstrickung und Komplizenschaft gewöhnlicher Männer und Frauen […] im Völkermord.“ Es handelt sich für Smith um die „Frage nach dem Zusammenbruch der Mitmenschlichkeit und damit um die Hauptideologien, die dafür verantwortlich waren: Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus.“ Die Entwicklung dieser Ideologien in Deutschland, teils in Europa, soll über Jahrhunderte rekonstruiert werden – ein hoher Anspruch, zumal fürs gedrängte und erklärtermaßen „essayistische“ Format des Bandes.

„Fluchtpunkt 1941“ bietet reichen Stoff zum Weiterdenken. Da wären der Dreißigjährige Krieg als erinnerungs- und identitätspolitische Größe, vergessene antisemitische Gewalttaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, die Dreyfus-Affäre als Katalysator linker wie rechter Agitation und Heinrich von Treitschkes Ausfälle gegen Juden und Polen, die manche spätere Entwicklung antizipieren, doch feine Unterschiede zum vulgären Rassismus erkennen lassen. Ob das dutzend-, möglicherweise hundertfach bemühte Wort „Fluchtpunkt“ überstrapaziert wird, ob sämtliche Details überzeugen – in jedem Fall ist Smith eine wichtiger Versuch zur deutschen Geschichte gelungen. Die gravierendsten Mängel sind nicht dem Autor anzulasten, sondern der deutschen Übersetzung, die häufig unelegant, beinahe holprig daherkommt.

Dem Anspruch nach kann Smith mit Goldhagen verglichen werden: Wie „Hitler’s Willing Executioners“ (1996) wird „Fluchtpunkt 1941“ zuverlässig Furore machen – mit dem wesentlichen Unterschied, dass Smith weit differenzierter argumentiert. Allein die Frage ‚Warum Deutschland?‘ oder ‚Warum Deutsche?‘ wird nicht bündig beantwortet. Dessen ist sich der Autor bewusst: Im Vorwort gibt Smith zu bedenken, es sei legitim, von Deutschland auszugehen, „da es das Land ist, das den Völkermord in Gang setzte, und zu fragen, ob die Gedanken und Praktiken, die zur banalen Grausamkeit der Shoah beitrugen, einzigartig deutsch waren. Ich vertrete die These, dass diese Gedanken und Praktiken eine wirkmächtige deutsche Geschichte haben und zu den Kontinuitäten der deutschen Geschichte als solcher gehören.“ Dennoch sind sie, so Smith, nicht „allein für die deutsche Geschichte kennzeichnend“.

Titelbild

Helmut Walser Smith: Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen Geschichte.
Übersetzt aus dem Englischen von Christian Wiese.
Reclam Verlag, Stuttgart 2010.
326 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783150107348

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