Über die kommunikativen Barrieren in der Familie

Harriet Köhler erzählt in dem Roman „Und dann diese Stille“ eine bewegende deutsche Familiengeschichte

Von Gunter IrmlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunter Irmler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harriet Köhler weiß um die Zerbrechlichkeit des Familienglücks. Unser Energie- und Kraftzentrum will die Familie sein. Doch dass sie alles andere als eine Idylle ist, davon erzählte die Autorin schon in ihrem Debütroman „Ostersonntag“ vor drei Jahren. Wie in der deutschen Familie die Tragödien des Zweiten Weltkriegs auch im 21. Jahrhundert noch schmerzlich fortwirken, schildert sie nun über 60 Jahre nach dem Krieg in ihrem Drei-Generationen-Roman „Und dann diese Stille“.

Köhler beobachtet Verstocktheit und kommunikative Barrieren in der Familie. Dahinter hat sie die Wunden und Traumata deutscher Geschichte aufgespürt. Dennoch blickt sie liebenswürdig auf die privaten Beziehungen: Dabei verblüfft es, mit welcher Lebensklugheit sie sich in ihre Figuren einzufühlen vermag. Die Autorin ist gerade einmal 33 Jahre alt. Köhler studierte Kunstgeschichte und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München; sie arbeitete als Journalistin und lebt in Frankfurt und München. Bedrückend ist die Strategie des Verschweigens in der Familie, von der sie berichtet.

Da ist Jürgen, ein emotional ausgetrockneter, kühler Ingenieur, der gerade Rentner wurde: Er pflegt seinen 95-jährigen Vater Walther. Der lehnt sich auf gegen diese Hilfe. Und Jürgens Mutter Grethe liegt im Sterben. Ihr Tod lässt Walther Tag für Tag bitterer werden. Mehr und mehr gebrechlich wird er zudem. Und Jürgens Sohn Nicki ist ein etwas zugeknöpfter Ingenieur eines Automobilherstellers: Mit seiner Freundin Ruth, einer Ärztin, besucht er seinen Vater und Großvater. Er beobachtete nach dem Tod seiner Großmutter Grethe „wie die beiden Männer hier saßen, lebende Standbilder, Ehrensäulen, immer ehernen Herzens und glasklaren Verstands, unemotional, unbeirrt, immer schön stramm wie ein tapfrer Wandersmann, immer schön tun, als ob nichts wäre, so waren sie.“ Es setzt Nicki zu, wie sich die beiden Älteren nur in Wortlosigkeit und unpersönliche Gemeinplätzchen verlieren.

Hinter all den sorgsam versteckten Gefühlen offenbart sich die große Bitternis der Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs. So leidet Walter nach zehn Jahren in Krieg und russischer Gefangenschaft unter Alpträumen. Ihn martern Erinnerungen an die Todesnähe. An die heulenden Geschosse. An den toten Freund. Und nach dem Krieg findet er mit all den Schrecknissen kein Gehör. Er öffnet sich niemandem. Während Walthers Abwesenheit in Russland wurde Grethe daheim von Russen vergewaltigt. Auch sie fand nie Worte dafür; Walther fragte nie danach. Beider Lebensfreude miteinander ist belastet: Der Abgrund, den der Krieg zwischen beiden aufgerissen hat, bleibt.

Wie viele Frauen bewältigte Grethe den Überlebenskampf mit ihrem Sohn Jürgen im Krieg und danach alleine. Und „Jürgen lernte stark zu sein, bis keine Schwäche mehr in ihm war“. Er, der Sohn, war im Krieg Grethes „Beschützer und Retter, ihr Ehemann“. Eine Rolle, die überfordert.

Harriet Köhler erzählt in klarer und kraftvoller Sprache nicht nur von der Abwesenheit der Aufmerksamkeit füreinander in der Familie. Jürgens menschliche Hingabe in der pflegerischen Zuwendung für den Vater kontrastiert damit. Ebenso zeigen uns die Lebendigkeit und Herzlichkeit von Ruth eine gegensätzliche Lebenswirklichkeit auf. Ruhig und unprätentiös führt die Autorin ihre Figuren. Realistisch und psychologisch subtil beglaubigt sie diese in Dialogen bürgerlicher Alltäglichkeit. Die Schatten der Vergangenheit fallen darauf. Mit ihrem Blick hinter die Geheimnisse der deutschen Familie gelingt Köhler ein beeindruckend genaues Bild unserer Zeit und eines der bewegendsten Werke dieses Frühjahrs.

Titelbild

Harriet Köhler: Und dann diese Stille. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
313 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783462041910

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